In wenigen Tagen eroberten islamistische Fraktionen unter der Führung von Hayat Tahrir al-Sham im Zuge eines unerwarteten Zusammenbruchs des Regimes und seiner iranischen Milizen große Gebiete im Norden des Landes.
Am 27. November griffen bewaffnete Gruppierungen, darunter die ehemals mit Al-Qaida verbundene Nusra-Front, die heute unter dem Namen Hayat Tahrir al-Sham (HTS) operiert, sowie andere der syrischen Nationalarmee und der Opposition angehörende islamistische Gruppierungen, Regimestellungen im Gouvernement Aleppo an. Die beteiligten Fraktionen gaben an, der Angriff sei Teil einer Eindämmung von Regimedrohungen, eine Militäroperation im als HTS-Hochburg geltenden Gouvernement Idlib zu starten und das Bombardement durch Artillerie, Raketen und Luftwaffe zu verstärken.
Der katarische Sender Al Jazeera, welcher der Muslimbruderschaft nahesteht, berichtete, die erklärten Ziele des Angriffs bestünden darin, die von den Rebellengruppen kontrollierten Gebiete zu erweitern, die Rückkehr der Zivilbevölkerung in ihre Häuser zu sichern und den enormen Bevölkerungsdruck auf die übrigen Gebiete zu verringern sowie die Artillerie- und Drohnenangriffe zu neutralisieren, die auf Zivilisten in den Rebellengebieten abzielen.
Während die vorrückenden Islamisten von der Türkei unterstützt werden, stehen Russland und der Iran aufseiten des Präsidenten. Russische Flugzeuge haben mehrere Luftangriffe durchgeführt, um das Eindringen der bewaffneten Gruppen zu verhindern und sie zum Rückzug aus den von ihnen kontrollierten Gebieten zu zwingen. Laut Statistiken der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) wurden zwischen dem 27. November und dem 1. Dezember 372 Zivilisten und Soldaten getötet. Auch stünde Aleppo zum ersten Mal seit 2011 nicht mehr unter der Kontrolle Assads.
Der UN-Sondergesandte für Syrien Geir Pedersen erklärte, dass die jüngsten Entwicklungen »ernsthafte Risiken für die Zivilbevölkerung in einem Land darstellen, das seit fast vierzehn Jahren von Krieg und Konflikten zerrissen ist. Das wird schwerwiegende Folgen für den regionalen und internationalen Frieden und die Sicherheit haben.« Der UN-Beamte forderte die syrischen Parteien und internationalen Interessengruppen auf, »sich ernsthaft an sinnvollen und substanziellen Verhandlungen zu beteiligen, um einen Ausweg aus dem Konflikt zu finden. Syrien ist in Gefahr, weiter gespalten, beeinträchtigt und zerstört zu werden.«
Der Militärexperte und ehemalige Brigadegeneral der syrischen Armee, Ahmed Rahhal, erklärte, Aleppo sei »die Wirtschaftshauptstadt Syriens, und wenn man sie jetzt ins Visier nimmt, will man Druck auf das Regime in Damaskus ausüben, das eine politische Lösung des Bürgerkriegs ablehnt«. Der Zweck der Militäroperationen bestünde auch darin, »Druck auf die (pro-)iranischen Milizen, insbesondere die Hisbollah, auszuüben, um eine Lösung für die Situation zu finden, die das syrische Volk zufriedenstellt«. Syrien sei zu einem Zufluchtsort für iranische Milizen geworden, die den Staat, die Wirtschaft und den Reichtum des Landes kontrollieren.
Angst vor Terror
Zu den Gründen für den schnellen Erfolg der bewaffneten Gruppen bei ihrer Übernahme der Kontrolle über Aleppo und große Teile von Hama, meinte der Militärexperte und Dozent an der American University of Beirut Elias Hanna, der rasche Vormarsch zeuge von einer »beträchtlichen Fähigkeit, schnell zu manövrieren und Angriffe auszuführen«. Drei Faktoren hätten zu diesem Erfolg beigetragen: »Die Geschwindigkeit der Planung und Ausführung, das Erzielen großer Erfolge in kurzer Zeit und die geringe Bereitschaft der syrischen Armee, vor Ort zu kämpfen.«
Hanna führte aus, dass die syrische Armee über weite Gebiete hinweg unorganisiert eingesetzt wurde, wodurch sie dem Überraschungsangriff der Gruppen nicht standhalten konnte. Die aktuellen Ereignisse spiegelten eine deutliche Verschiebung des Kräfteverhältnisses vor Ort wider und stellten eine klare Herausforderung für das Regime und seine Verbündeten dar, meinte der Militärexperte, laut dem diese Entwicklungen viele Szenarien für die Zukunft der Kämpfe in Nordsyrien eröffnen, darunter externe Interventionen und grundlegende Änderungen der strategischen Landkarte.
Auch der syrische Forscher am Future Center for Advanced Research and Studies Khorshid Daly glaubt, dass Syrien auf einen sehr großen Konflikt zusteuert, denn die Möglichkeiten, die Krise einzudämmen, seien sehr gering geworden. Nicht zuletzt stelle »die Rückkehr des Islamischen Staates nun wieder eine größere Gefahr, da es das Geschehen als fruchtbaren Boden betrachten könnte«. Sollte der HTS-Führer Abu Muhammad al-Julani »die Führung in der aktuellen Szenerie übernehmen, werden alle terroristischen Organisationen in Syrien aufblühen«.