Überraschendes „Zünglein an der Waage“ des israelischen Wahlkampfes 2021

Israelische Fernsehparodie über Netanjahus Wahlkampfbündnisse
Israelische Fernsehparodie über Netanjahus Wahlkampfbündnisse (Quelle: Screenshot Eretz Nehederet)

Eine Woche vor der Wahl machten die hebräischsprachigen Abendnachrichten mit der Meldung auf, dass ausgerechnet der arabische Abgeordnete Mansour Abbas die Karten der kommenden Regierungsbildung neu mischen könnte.

Es war eine grotesk wirkende Inszenierung der Satiresendung „Eretz Nehederet“ („Wunderbares Land“): Rechts des Netanjahu-Darstellers nimmt ein Kollege Platz, der maskenbildnerisch zu Mansour Abbas gestaltet wurde, zum Vorsitzender der arabischen Partei Ra´am, die mit der Islamischen Bewegung identifiziert wird. Links von „Netanjahu“ platziert sich ein vermeintlicher Itamar Ben-Gvir von der Partei Otzmah Yehudit (Stärke Israels), die sich mit gleichgesinnten Parteien des Rechtsaußenspektrums vereinte, das mit der Siedlerbewegung identifiziert wird.

Wer glaubt, in der Parodie würden die Figuren rechts wie links ausschließlich aneinandergeraten, liegt falsch. Über viele ideologischen Differenzen hinweg finden sie brüderlich vereint Gemeinsamkeiten, vor allem aber ein gemeinsames Ziel höchster Priorität: Keiner will Netanjahu im Gefängnis sehen.

In dieser Parodie ist Israels Premier bereit, die von beiden gereichte Hand gerne zu ergreifen. Schließich sitzen sie auf Mandaten, die ihm die Regierungsbildung sichern und zudem das Damoklesschwert der Anklagen verscheuchen können.

Vor Kurzem noch unmöglich

Alle drei parodierten Männer werden gleichermaßen durch den Kakao gezogen. Dargestellt wurden jedoch Gegebenheiten, die viele Israelis vor noch nicht allzu langer Zeit für abwegig, ja sogar absurd erachtet hätten.

Dazu gehört das Likud-Abkommen mit dem Parteienblock HaZionut HaDatit (Religiöser Zionismus). Das lässt Listenplatz 3 seiner Partei Ben-Gvir, einen Aktivisten, der als Anwalt rechtsextremistische Mandanten vertritt und „illoyale Araber deportieren“ möchte, bereits von einem Ministerposten träumen, während es für andere einem Armutszeugnis gleichkommt, das sich Israels Demokratie ausstellt.

Für nicht weniger abwegig hielt man bislang den Ansatz, den Mansour Abbas seit Monaten verfolgt. Er hat einen Kurs eingeschlagen, der für die anderen arabischen Parteien der israelischen Demokratie schlichtweg undenkbar ist: sich in irgendeiner Art und Weise an einer Regierung zu beteiligen, bedeutet für sie, u.a. die Besatzungspolitik mitzutragen; das Tabu schlechthin!

Mansour Abbas gehört der Islamischen Bewegung an. In seiner Antrittsrede als frischgebackenes Mitglied der Knesset sprach er sich im Frühjahr 2019 für die Zwei-Staaten-Lösung mit „Al-Quds (Jerusalem) als Hauptstadt eines unabhängigen Staates Palästina“ an der Seite des Staates Israel aus, der jüdischen und arabischen Bürgern Gleichstellung gewährt.

Im Herbst 2020 erläuterte er in einem TV-Interview, bezüglich der Zwei-Staaten-Lösung außenpolitisch eher links zu stehen, in religiösen Fragen hingegen „Gemeinsamkeiten mit ultraorthodoxen Parteien zu teilen.“ Mit einem weiteren Satz schlug er damals dem Fass den Boden aus: „Da ich Frieden will und Netanjahu keinen Krieg möchte, können wir miteinander reden.“

Nachfolgend kam es zum Zerwürfnis der Vereinigten Liste. Abbas scherte mit seiner Partei Ra´am aus dem 2015 geformten Zusammenschluss von vier arabischen Parteien aus. Seit Countdown-Beginn zur Wahl der 24. Knesset prophezeien die diversen Prognosen der restlichen Vereinigten Liste Verluste. Die mandatsstärkste arabische Kraft der Geschichte Israels sackt von 15 Sitzen, die sie zur drittstärksten Partei der Knesset machten, auf acht bis neun Sitze und damit ins Mittelfeld ab.

Wahlpoker mit Abbas

Bis in den März 2021 hinein sprachen die meisten Prognosen Mansour Abbas‛ Ra´am ein einziges Knesset-Mandat zu, wobei selbst dieses wackelte. Blickte man tiefer in die arabische Gesellschaft Israels, so vernahm man, dass drei, vier, wenn nicht sogar mehr Mandate für Abbas durchaus realistisch seien.

In den Prognosen, die Mansour Abbas ein Mandat und der Vereinigten Liste einen massiven Stimmenverlust in Aussicht stellten, ging man davon aus, dass die arabische Wahlbeteiligung wieder rückläufig sein wird. Es war der in den letzten Jahren als „dramatisch“ zu bezeichnende Anstieg der Stimmabgabe arabischer Bürger um rund 15%, der ausschlaggebend zum präzedenzlosen Erfolg der Vereinigten Liste beitrug.

Die nunmehr prognostizierten Verluste wurden also nicht maßgeblich auf eine Stimmabgabe für andere Parteien, sondern vielmehr darauf zurückgeführt, dass die mit ihren Volksvertretern frustrierten arabischen Wähler wieder einmal vermehrt zuhause bleiben werden. Das jedoch scheint nicht die Tendenz der arabischen Wählerschaft zu reflektieren.

Noch bis zum letzten Wochenende hing über Abbas mit seinem „Grenzgänger-Ansatz“ in der arabischen Gesellschaft Israels das Wort „Verräter“. Nun wird er jedoch in allen Wahlprognosen mit vier Mandaten gelistet. Allein dieser sprunghafte Anstieg der Ra´am-Mandate in den Prognosen war Schlagzeilen wert, doch sehr viel mehr Aufsehen erregte noch Abbas’ Reaktion: Obwohl er weiter für eine Regierungsunterstützung, sogar einer rechtskonservativen Regierung des jüdischen Establishments, plädiert, sei „seine Tür“ auch „für Netanjahu-Gegner offen.“

Abbas ist klar, dass er – sollte er in der Tat ein solch prognostiziertes Wahlergebnis erzielen und sich bei den anderen Parteien keine Überraschungen ergeben – vielleicht sogar zum „Zünglein an der Waage“ werden könnte, wenn es um die Frage geht, wer von Israels Staatspräsident mit der Bildung der nächsten Regierung beauftragt werden wird.

Das weiß allerdings nicht nur Abbas, weshalb, laut einem seiner Vertrauten, alle Parteien „links von Netanjahu“ längst Tuchfühlung aufgenommen haben und Abbas seinerseits eine Pokerrunde eröffnet hat.

So kurz vor der vierten Knesset-Wahl blicken die meisten Wähler auf die Frage Bibi-Ja oder Bibi-Nein. Die arabischen Wähler scheint jedoch etwas anderes viel mehr zu bewegen. Mansour Abbas hat, egal was man auch von ihm halten mag, einen zunehmenden Trend der arabischen Wählerschaft erkannt und aufgegriffen. Man will nicht nur endlich gehört werden, sondern dringende Bedürfnisse beispielsweise in den Bereichen Wohlfahrt und Bildung in der Knesset in die Waagschale geworfen wissen.

Verschieben von Grenzen

Abbas, der sich vor dem Hintergrund seiner Identität als muslimischer Araber mit israelischer Staatsbürgerschaft und Anhänger der Islamischen Bewegung sowohl in vorgezeichnete Raster pressen lässt, als auch aus ihnen ausschert, stieß im „arabischen Block“ der israelischen Politik eine bislang – trotz größter Heterogenität – ungekannte Diskussion rund um die Rechts-Links-Ausrichtung an. Ausgerechnet in einem Wahlkampf, in dem inhaltliche Themen, darunter der israelisch-palästinensische Konflikt, von marginalster Bedeutung waren, stellt er ein Tabu seiner Gesellschaft in Frage.

Eine Beteiligung an der israelischen Regierung ebenso wie eine bloße Zusage der Unterstützung gelten in der arabisch-israelischen Gesellschaft als Tabu; noch nicht einmal hinter vorgehaltener Hand wagte man es, das zu hinterfragen. Genau das scheint Mansour Abbas verändert zu haben. Wenngleich offenbleibt, was seine Gesellschaft – wie vermutlich auch er – letztlich daraus machen, so bezeichnet sowohl der Wunsch, endlich am Entscheidungsprozess beteiligt zu sein, einen Einschnitt in der israelischen Geschichte, die einige Kolumnisten als „historisch“ bezeichnen.

Dass nicht ganz so verwunderlich ist, dass Abbas eine Woche vor der Wahl mit dem Paukenschlag einer Prognose von vier Mandaten auftauchte, untermalt eine der neuesten Meinungsumfragen. Die Prozentsätze dieser vom Konrad Adenauer Programm für jüdisch-arabische Kooperation des Moshe-Dayan-Zentrums für Nahost-Studien der Universität Tel Aviv durchgeführte Umfrage erscheinen astronomisch hoch. Wenn man sie also, wie Umfragen trotz Angaben zur Repräsentativität immer, zwar mit Vorsicht genießen sollte, so unterstreichen die Ergebnisse dennoch den „Abbas-Trend“.

46% der Befragten sprachen sich dafür aus, dass eine arabische Partei der Regierungskoalition, gleich welcher Couleur, beitreten sollte. Die arabische Wählerschaft möchte die Bedürfnisse, die ihre Gemeinschaft betreffen, tatsächlich endlich nicht nur irgendwie in der Knesset repräsentiert, sondern handfest angegangen wissen.

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