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Türkei: Der Staat attackiert die kurdische Frauenbewegung

Demonstration des kurdischen Frauenvereins Rosa
Demonstration des kurdischen Frauenvereins Rosa (Quelle: ANFNews)

Die Verhaftungen von zwölf im Umfeld des „Frauenverein Rosa“ tätigen Personen stellen die neueste Eskalation der türkischen Regierung gegen die Frauenbewegung in der Region dar.

Wie die kurdische Nachrichtenagentur ANF News meldete, wurden am vergangenen Freitag bei Durchsuchungen der Wohnungen von Frauenrechtlerinnen und kurdischen Lokalpolitikern in Amed (türkisch Diyarbakir, „Hauptstadt“ Türkisch-Kurdistans) zunächst 18 Personen festgenommen. 5 von ihnen wurden gegen Meldeauflagen freigelassen: Zelal Bilgin, Nazile Tursun, Ayla Akat Ata, Nevriye Çur sowie Hüseyin Harman; Havva Kiran wurde unter Hausarrest gestellt.

Haftbefehle erlassen wurden gegen die Vorsitzende des „Frauenvereins Rosa“, Adalet Kaya, Gründungsmitglied Narin Gezgör, Vorstandsfrau Fatma Gültekin, Frauenrechtsaktivistin Gülcihan Şimşek sowie gegen die Politikerinnen und Politiker Mehmet Arslan, Özlem Gündüz, Remziye Sızıcı, Kasım Kaya, Gönül Aslan, Sevim Coşkun, Mehmet Ali Altınkaynak und Celal Yoldaş – insgesamt als gegen 8 Frauen und 4 Männer.

Ihnen wird u. a. vorgeworfen, am 8. März eine Demonstration zum Internationalen Frauentag organisiert, eine Erklärungen gegen die Einsetzung von Zwangsverwaltern in den von der „Halkların Demokratik Partisi“ (Demokratische Partei der Völker/HDP) regierten Rathäusern abgegeben und den Rat der „Friedensmütter“ während des Hungerstreiks gegen die Isolation Abdullah Öcalans im vergangenen Jahr unterstützt zu haben.

Die Beschuldigten wurden laut ANF-News auch gefragt, wie die Beziehung zwischen dem „Frauenverein Rosa“ und der „Bewegung Freier Frauen“ (TJA) sei und warum sich diese gegenseitig unterstützen. Die „Friedensmütter“ sind eine Vereinigung von Müttern von Guerilla-Kämpferinnen und -kämpfern sowie von Soldatinnen und Soldaten in der türkischen Armee. Die TJA ist eine türkeiweit agierende Frauenrechtsorganisation.

Die Frauen werden verfolgt, weil sie sich wehren

Die TJA erklärte, die Organisation werde angegriffen,

„weil sie sich gegen den Gesetzentwurf zur Amnestie von Vergewaltigern Minderjähriger im Falle einer Eheschließung ausspricht und am 8. März gegen Femizide, Vergewaltigung und sexuellen Missbrauch, gegen Geschlechterungerechtigkeit, gegen Zwangsheirat im Kindesalter, gegen Kindesmissbrauch, Rassismus, religiösen Fanatismus, Sexismus, gegen staatlich ernannte Zwangsverwalter, die das Recht der Frauen, zu wählen und gewählt zu werden, verletzen, gegen Isolation, Krieg, Ausbeutung der Arbeitskraft und das Patriarchat protestiert.

Wenn das ein Verbrechen ist, dann begehen wir alle dieses Verbrechen.“

Damit spielen sie auf die Gesetzesvorlage an, die im Frühjahr 2020 zum zweiten Mal ins türkische Parlament eingebracht wurde und Vergewaltigern Straffreiheit garantieren soll, wenn es zur Eheschließung mit dem Opfer kommt. Bedingung soll sein, dass die Heirat auf freiwilliger Basis beruht.

Die Aktivistinnen von TJA leben in einem zutiefst patriarchal strukturierten Umfeld und wissen genau, was „freiwillig“ unter Umständen bedeuten kann. 2018 musste die Gesetzesvorlage aufgrund massiver Proteste in der gesamten Türkei zurückgezogen werden.

Der „Frauenverein Rosa“ wurde ANF News zufolge Ende 2018 gegründet, nachdem 2016 alle Fraueneinrichtungen in Amed durch Regierungsdekrete geschlossen worden waren. Damals wurden in vielen kurdischen Gemeinden die gewählten HDP-Politikerinnen und -Politiker abgesetzt und durch regierungstreue ersetzt. Damit wurden auch die Strukturen vernichtet, die seitens der kurdischen Verwaltungen aufgebaut worden waren, z. T. weil die Finanzierung wegfiel.

Programm gegen Gewalt gegen Frauen

Dabei hatten die kurdischen Frauen einiges erreicht, mitten im zutiefst patriarchalen Anatolien. Die HDP und die „Barış ve Demokrasi Partisi“ (Partei des Friedens und der Demokratie/BDP), die auf nationaler Ebene in der HDP aufgegangen ist, lokal weiter als BDP agiert, hatte eine männlich und weiblich besetzte Doppelspitze. 31% der BDP-Abgeordneten im türkischen Parlament waren weiblich, das war die höchste Frauenquote aller Parteien in der „Großen Nationalversammlung der Türkei“. Zum Vergleich: Aktuell liegt der Frauenanteil der Bundestagsabgeordneten insgesamt bei 31%.

Die kurdischen Frauen erstritten Frauenräte, die bei den kommunalen Entscheidungen gehört werden müssten. Unter Bürgermeister Osman Baydemir (BDP) entwickelte die Stadtverwaltung von Amed ein Programm gegen Gewalt gegen Frauen, das an den ökonomischen Interessen der Frauen ansetze: Den Frauen gewalttätiger Verwaltungsangestellter wurde bei einer Trennung ermöglicht, dessen Job zu übernehmen, oder aber der Familie wurde das Gehalt des Mannes weitergezahlt. Den Männern wurde ein Anti-Gewaltstraining angeboten; auf freiwilliger Basis zwar, ansonsten wäre es aber wohl auch ziemlich nutzlos.

In der Region ist Analphabetismus vor allem bei Frauen und Mädchen ein großes Problem. Um diese in überhaupt in die Lage zu versetzen, die Jobs ihrer Ehemänner übernehmen zu können, wurde ein großflächiges Programm zur Alphabetisierung aufgelegt. Damit sollten die Mädchen und Frauen grundsätzlich in die Lage versetzt werden, ein eigenständiges Leben führen zu können.

Außerdem wurde ein Wochenmarkt eingerichtet, auf dem ausschließlich Frauen Waren anbieten. Auch damit soll Frauen ein Einkommen – und somit die Unabhängigkeit – ermöglicht werden.

Osman Baydemir regierte die Stadt Amed von 2004 bis 2014, seine Nachfolger übernahmen das Modell und entwickelten es weiter, bis der damals amtierende Adnan Selçuk Mızraklı, ein ehemaliger HDP-Abgeordneter, aus dem Amt entlassen wurde.

Danach wurde die Stadt dem Provinzgouverneur unterstellt, der nicht gewählt, sondern von der Regierung eingesetzt wird. Gegen die Absetzung Mızraklıs und weiterer Amtskollegen protestierte nicht nur die kurdische Bevölkerung, sondern auch der Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoǧlu, der der kemalistisch-sozialdemokratischen „Cumhuriyet Halk Partisi“ (Republikanische Volkspartei/CHP) angehört.

Die Gewalt breitet sich wieder aus

Die jetzt verhaftete Vereinsvorsitzende Adalet Kaya konstatierte bei der Gründung des „Frauenvereins Rosa“:

„Durch die AKP-Politik und den Ausnahmezustand steigt die Gewalt an. Mit der Politik der Regierung wird Gewalt legitimiert, dadurch ist ein unglaublich großes Gewaltpotential in der Gesellschaft zum Vorschein gekommen.

Die meisten Kommunalverwaltungen sind unter Treuhandschaft gestellt worden, alle Fraueneinrichtungen wurden geschlossen. Es handelte sich dabei um Angriffe auf die Frauenbewegung und die Erfolge der lokalen Verwaltungen. Seitdem es die Fraueneinrichtungen nicht mehr gibt, breitet sich Gewalt immer mehr aus. (…)

Unser größtes Ziel ist es, Frauen aus ihrem anerzogenen Zustand der Hilflosigkeit herauszuholen. Wir wollen alle Frauen erreichen, die von Gewalt und sexuellem Missbrauch betroffen sind. Unser Verein soll ein Ort werden, dem Frauen vertrauen können. Einen solchen Ort gibt es in Amed nicht mehr.“

Nun versucht die türkische Regierung offensichtlich, die kritischen Frauenstimmen zum Schweigen zu bringen. Zu befürchten ist, dass der Verein Rosa verboten wird – und damit das wichtige Hilfsangebot für von häuslicher Gewalt betroffene Frauen wegfällt.

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