„Es handelt sich also um ein Jahrzehnt der großen Gesellschaftskrise. Und die Antwort des Regimes auf diese Krise war die Repression. Der aufkeimende Salafismus unter den Jugendlichen wurde mit dem Antiterrorgesetz von 2003 bekämpft: Mindestens 2000 Personen wurden verurteilt und saßen im Gefängnis. Und die Gefängnisse wurden zu Brutstätten der Radikalisierung. Dort wurden neue Dschihadisten rekrutiert, andere noch stärker radikalisiert. Und dort haben sich die verschiedenen Generationen von Terroristen kennengelernt: die, die aus dem Ausland abgeschoben wurden und die, die zu Hause inhaftiert wurden. So entwickelten sich die Gefängnisse zum Treffpunkt der verschiedenen Generationen, die sich vorher nicht kannten und die sich normalerweise wohl auch gar nicht kennengelernt hätten. Nach der Revolution 2011 wurden dann bei einer Generalamnestie tausende Dschihadisten freigelassen. Und gleichzeitig begannen die Konflikte in Libyen und in Syrien. Außerdem darf man nicht vergessen, dass der Staat durch den Aufstand 2010/11 seine Legitimität und Kontrolle über die Moscheen verloren hat. (…)
80 Prozent der in Tunesien wegen Terrordelikten Verurteilten sind zwischen 18 und 34 Jahre alt. Die junge Generation hat keinen gesellschaftlichen Aufstieg hinlegen können wie die Eltern. Die Diktatur Ben Alis war eine Polizeidiktatur, es gab nichts, um die geistige Leere zu füllen. So konnte sich die dschihadistische Doktrin leicht ausbreiten. Wir haben es also mit einer extrem gewalttätigen Lesart des Islams zu tun, die aber nicht dafür geschätzt wird, was sie ist, sondern dafür, was sie den Menschen erlaubt, denn sie legitimiert die Gewalt und sakralisiert ihren Opferstatus.“ (Interview mit Hamza Meddeb: „Tunesiens Generation ‚No Future‘ als tickende Zeitbombe“)