„Als im Jahr 2011 Protestaktionen gegen Regierungen in der gesamten arabischen Welt aufflammten, schien Tunesien dafür bereit zu sein, ein besseres Land zu werden. Im Jahr 2013 jedoch entgleiste der demokratische Prozess nahezu, hervorgerufen durch unerfüllte wirtschaftliche Versprechen, politische und ideologische Meinungsverschiedenheiten und ausländische Interventionen. Glücklicherweise verhinderten lokale und internationale Vermittlungen eine Katastrophe und ebneten den Weg für Wahlen. Doch nun, nur wenige Monate vor den nächsten Parlamentswahlen im Oktober 2019, befindet sich das Land erneut in einer Krise. Diesmal jedoch sind die Mediatoren entweder desinteressiert an Lösungen oder gar Teil des Problems. (…)
Neben einer politischen sucht gleichzeitig eine wirtschaftliche Krise das Land heim. Mit dem Übergang Tunesiens von einer kontrollierten Wirtschaft unter einer Diktatur zu einer Übergangsphase, die durch Sparmaßnahmen und Strukturreformen des Internationalen Währungsfonds gekennzeichnet ist, hat sich die Korruption ausgebreitet und die Anleger sind geflohen. Aufgrund der Staatsverschuldung, der Arbeitslosigkeit und der Inflation werden Streiks und Proteste immer häufiger und die Unterstützung der Demokratie hat nachgelassen, was häufig als Grund für das gegenwärtige Durcheinander angeführt wird. (…)
Ein weiterer destabilisierender Faktor ist der Einfluss fremder Staaten. Tunesien stellt heute ein geopolitisches Schlachtfeld für regionale Mächte wie Ägypten, die Türkei und die Golfstaaten dar. Die tunesischen Politiker stellen sich auf die Seite derjenigen, die ihre eigenen Interessen am besten bedienen. Im Großen und Ganzen bleibt zu sagen, dass Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate die Demokratie Tunesiens und Ennahda dämonisieren, während Katar und die Türkei beide loben. Jedes Lager hat seine eigene Klientel im Land. Diese füttern die Putschgerüchte und delegitimieren die politische Unabhängigkeit Tunesiens, was dazu führt, dass das Misstrauen der Öffentlichkeit gegenüber der Regierung weiter wächst. Im Jahr 2013 schränkten die USA, Europa und Algerien den Einfluss dieser Regionalmächte ein. (…)
Die Geschichte hält viele Lektionen für diejenigen bereit, die das Durcheinander in Tunesien schüren. Eine besonders passende Parallele dazu stellt die post-sowjetische Übergangsphase in Russland dar. Zu dieser Zeit versuchte der geschwächte Boris Jelzin, während seiner letzten Jahre an der Macht, das Vermächtnis seiner Präsidentschaft zu sichern und seine Familie vor Strafverfolgung zu retten. Daher ernannte der sogenannte ‚Vater der russischen Demokratie‘ den damaligen Premierminister Wladimir Putin, einen ehemaligen KGB-Offizier, zu seinem Nachfolger. Russlands Demokratie erholte sich nie von diesem Schritt. Tunesiens kriegerische und nepotistische Politik weckt eine ähnliche Berfürchtung. Das vielversprechendste demokratische Experiment der arabischen Welt kann immer noch einen politischen Zusammenbruch verhindern, es braucht dabei jedoch Hilfe. Lokale und internationale Vermittler wiesen Tunesien schon einmal den Weg aus den Turbulenzen. Das müssen sie wieder tun.“ (Youssef Cherif: „Can Tunisia’s democracy survive?“)