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Tunesien: Eine ganze Generation will am liebsten nur weg

Junge Tunesier protestieren gegen Regierung, Polizeigewalt und Perspektivenlosigkeit
Junge Tunesier protestieren gegen Regierung, Polizeigewalt und Perspektivenlosigkeit (© Imago Images / Hans Lucas)

Mehr als neunzig Prozent der jungen Tunesierinnen und Tunesier denken laut einer Umfrage darüber nach, ihre Heimat zu verlassen. Eine ganze Generation könnte irgendwann komplett fehlen. Doch warum wollen so viele Menschen weg?

Matthis Kattnig

Weggehen oder bleiben? (Partir ou Rester? im Original) so lautet der Titel eines Comicbuches verfasst vom tunesischen Autor und Zeichner Lotfi Ben Sassi. Auf humorvolle Art und Weise thematisiert er darin die anhaltende Realität, dass die junge Generation in ihrem Land keine Perspektive mehr sieht und viele wegwollen. »Früher bestand die Investition für einen Elternteil darin, ein Haus für sein Kind zu bauen«, so Ben Sassi. Heute hingegen bestehe sie darin, das Geld zu behalten, um sein Kind eventuell zum Studieren ins Ausland zu senden: »Und wir wissen sehr gut, dass ein Kind, das im Ausland studiert, nie wieder zurückkommt.«

Die tunesische Zeitung Assabah schreibt, laut einer Umfrage dächten mehr als neunzig Prozent der jungen Tunesier darüber nach, ihre Heimat zu verlassen und vierzig Prozent wären sogar bereit, dies auf illegalem Weg zu tun. Die Migrationszahlen über das Mittelmeer nach Europa sind zuletzt wieder stark gestiegen.

Am Absprung steht auch der in Tunis lebende Seif Smaoui. Der 37-jährige Physiotherapeut ist verheiratet und hat zwei Kinder. Seit einem Jahr lernt er fleißig Deutsch, bis Herbst will er es auf Niveau B2 schaffen, dann soll es in die deutsche Stadt Essen gehen. Er hat dort ein Jobangebot und soll mit Elite-Athleten zu arbeiten. Erst mal will er allein dorthin und später, so hofft er, auch mit seiner Familie. »Jeder kann sehen, dass wir viele Probleme mit unserer Politik und Wirtschaft haben. Ich sehe in den nächsten fünf oder zehn Jahren keine Lösungen«, so Smaoui. Er betont auch, dass man die Situation natürlich nicht mit der Ukraine vergleichen kann: »Es ist hier nicht schrecklich und ich mag mein Land, aber jetzt habe ich die Möglichkeit meine Situation zu verbessern, warum sollte ich das nicht nutzen?«

Die 30-jährige Tunesierin Linda [Nachname der Redaktion bekannt; Anm. Mena-Watch], die Pharmazie in Tunis bis zum Master studiert hat, lebt gerade für ein Praktikum in Marseille. Eigentlich wollte sie schon länger Mal raus aus Tunesien: »Wenn man nur in Tunesien sein kann, fühlt sich das an wie in einem Gefängnis. Ich möchte aber auch andere Teile der Welt sehen. Ich mag die Freiheit.« Im Gegensatz zu EU-Bürgern können Tunesier nur in sehr wenige Länder visafrei einreisen, darunter kein einziges EU-Land. »Als Forschungsstudentin ist es für mich wichtig, andere Länder zu sehen, um von ihnen zu lernen und das Wissen zu teilen.« An Marseille gefalle ihr die kosmopolitische Vielfalt. Im Gegensatz zu Tunesien, wo es nur wenige Ausländer gibt. Von Frankreich aus kann sie dank ihres Visums nun auch andere EU-Länder bereisen.

Die politische Entwicklung ist instabil

Tunesien: Eine ganze Generation will am liebsten nur weg
Der tunesische Autor und Zeichner Lotfi Ben Sasse (Quelle: Matthias Kantig)

Warum wollen so viele Tunesier weg? Lotfi Ben Sassi sagt, seit der Revolution 2011 habe sich nichts getan: »Wir haben nichts gemacht, nichts gebaut. Es gab keine großen Projekte, keine Investitionen, nichts, zehn Jahre lang. Es ist so schlimm.«

Eigentlich sah alles gut aus: Nach den Aufständen des Arabischen Frühlings wurde Tunesien 2011 als einziges Land der Region zur Demokratie. Die Hoffnungen waren groß, doch davon ist immer weniger zu sehen: 2021 entmachtete Präsident Kais Saied das Parlament, zwanzig Monate lang gab es keine Parlamentssitzungen, und die neue Regierung, die seit März 2023 im Amt ist, hat deutlich weniger Macht. Saids Regierung wird immer autokratischer. Seit September 2022 verbietet ein Artikel im Dekret gegen Cyberkriminalität die Verbreitung von Fake News. Es drohen Strafen von bis zu zehn Jahren Haft. In den vergangenen Monaten wurden mehrfach Oppositionelle und Medienschaffende verhaftet. Oft aus fadenscheinigen Gründen.

Wie viele Länder leidet Tunesien auch an einer hohen Inflation. Statistiken der tunesischen Zeitung Alchouroukzufolge leben 2,4 Millionen Tunesier (etwa zwanzig Prozent) unter der Armutsgrenze. Die Arbeitslosenquote liegt bei achtzehn Prozent. Neben Politik und Wirtschaft spielt wohl auch die Tatsache, dass man z.B. in Europa viel mehr Geld verdienen kann, eine Rolle bei der Auswanderungsbereitschaft. Ben Sassi sagt: »In den 60er- und 70er-Jahren hatten die Menschen in Tunesien einen Abschluss, einen Beruf und ein gutes Gehalt. Heute hat man einen Abschluss, zwei Berufe und kaum ein Gehalt.«

Nach Jahren im Ausland wieder zurück in die Heimat?

Tunesien: Eine ganze Generation will am liebsten nur weg
Der 37-jährige Physiotherapeut Seif Smaoui (Quelle: privat)

Seif Smaoui erzählt, dass viele von seinen Freunden und seiner Familie nicht nur daran denken auszuwandern, sondern ähnlich wie er auch aktiv daran arbeiten. Dennoch beteuert er: »Wenn alle jungen Menschen gehen, dann werden sich die Dinge in zehn Jahren nur noch mehr verschlechtern.«

Linda hofft, in Zukunft weiter im Ausland arbeiten zu können: »In Tunesien ist es für mich als Pharmazeutin oder Forscherin schwierig, Arbeit zu finden.« Sie habe sich mehrfach bei Krankenhäusern beworben, aber keinen Job bekommen und auch nach sechs Jahren Studium erlaube ihr der tunesische Staat nicht, eine eigene Apotheke zu eröffnen. Sie hofft, dass ihr die Auslandserfahrung ihrer Karriere weiterhilft und will nun versuchen, ihr Doktorat gleichzeitig in Tunesien und in Frankreich zu absolvieren. Außerdem kann sie sich vorstellen, irgendwann wieder in Tunesien zu arbeiten. In jenen Tunesiern, die im Ausland arbeiten, Erfahrung sammeln und dann wieder bewusst ihre Heimat zurückkommen, um dort etwas Neues aufzubauen, könnte langfristig eine große Bedeutung für die Zukunft des Landes liegen.

Lotfi Ben Sassi meint, das Jahr 2023 sehe »für Tunesien wirtschaftlich sehr optimistisch aus«. Es gebe Kooperationsmöglichkeiten mit Europa und gute Exportchancen: »Die Wirtschaftsindikatoren verbessern sich und es ist nicht verwunderlich, dass es eine Rückkehr der Tunesier gibt, um hier zu investieren. Dasselbe Phänomen war auch in Subsahara-Afrika zu beobachten.«

Dafür sieht er aber auch einen Änderungsbedarf beim tunesischen Devisengesetz, es sei zu restriktiv und der tunesische Dinar müsse auch konvertierbar bzw. exportierbar sein. Jetzt sei es an der Zeit, dass die Tunesier anfangen zu produzieren und ihr Wissen im industriellen Bereich nutzen. Ein weiterer Punkt sei die Möglichkeit des Energie-Exports durch Solarzellen und Windturbinen: »Wir haben viele Trümpfe und ich glaube, dass diese Investoren und Tunesier anziehen können, um zurückzukehren und zu investieren.«

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