Am 21. Oktober wurde Kais Saied für eine zweite Amtszeit als Präsident Tunesiens vereidigt. Kritiker werfen dem 66-Jährigen einen zunehmend autoritären Führungsstil vor.
Anfang Oktober wurde Kais Saied mit mehr als neunzig Prozent der Stimmen ein zweites Mal zum Präsidenten Tunesiens gewählt. Beobachter kritisierten die Wahl als unfair. Der Präsident sieht sich mit dem Vorwurf konfrontiert, mögliche Gegenkandidaten kaltgestellt zu haben, berichtete die britische BBC, ließ die Wahlkommission doch nur zwei weitere Kandidaten zu. Laut der New York Times sitzt Saieds führender Herausforderer laut dessen Anwälten wegen gefälschter Anklagen in Haft. Mindestens acht weitere potenzielle Kandidaten befinden sich ebenfalls im Gefängnis oder stehen unter Hausarrest, weitere wurden von der Wahl ausgeschlossen.
Für viele Tunesier ist all dies ein weiteres Zeichen dafür, wie weit sich ihr Land vom demokratischen Weg entfernt hat, den es nach dem sogenannten Arabischen Frühling des Jahres 2011 eingeschlagen hat. Nur 29 Prozent der mehr als neun Millionen registrierten Wähler gaben bei der aktuellen Präsidentschaftswahl ihre Stimmen ab.
Rückgang der Grundrechte
Nach dem Sturz des langjährigen Diktators Zine el-Abidine Ben Ali im Januar 2011 galt Tunesien als Geburtsort der regionalen Aufstände gegen den Autoritarismus, die als Arabischer Frühling bekannt wurden. Der nordafrikanische Staat schlug zwar offiziell den Weg der Demokratie ein, blieb aber instabil. Als Kais Saied 2019 zum Präsidenten gewählt wurde, galt der ehemalige Juraprofessor vielen als große Hoffnung für Tunesien. Aber seit damals nahm seine Herrschaft zusehends autoritäre Züge an: Er setzte das Parlament aus, ließ die Verfassung umschreiben und konzentrierte immer mehr Macht in seinen Händen.
Saied rechtfertigte sein Vorgehen mit der angeblichen Notwendigkeit neuer Befugnisse, um den Kreislauf aus politischer Lähmung und wirtschaftlichem Verfall zu durchbrechen. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International prangerte hingegen einen »besorgniserregenden Rückgang der Grundrechte« unter seiner Regierung an.
Die Polizei operiert wieder weitgehend ungestraft, und die Bemühungen, die Verbrechen der Ben-Ali-Ära aufzuarbeiten, gerieten ins Stocken. Die freie Meinungsäußerung ist eingeschränkt und die wirtschaftliche Misere hat sich verschlimmert. Es mangelt an allem, von Zucker, Kaffee, Milch und Brot bis hin zu Autoersatzteilen. Menschenrechtsgruppen berichten, dass Hunderte von Journalisten und andere, die in sozialen Medien kritisch über die Regierung Saieds posten, aufgrund eines Gesetzes aus dem Jahr 2022 inhaftiert wurden. Dieses stellt die Verbreitung von »falschen Informationen und Gerüchten« im Internet unter Strafe.
Saied macht häufig zwielichtige in- und ausländische Kräfte für die Probleme Tunesiens verantwortlich, die sich seiner Meinung nach gegen das Land verschworen haben. Seine Gegner spielt er mit einer Rhetorik aus, die auf »für uns oder gegen uns« hinausläuft, zitierte die New York Times einen tunesischen Politologen.
Problematischer EU-Partner
Im Juli 2023 unterzeichnete die EU einen Migrationspakt mit Tunesien. Zu dieser Zeit stand das Land am Rand des Bankrotts, auch, weil dem Präsidenten das politische Kapital fehlte, um schwierige Ausgabenreformen durchzuführen. Neben einer Reihe von Versprechen der bilateralen Zusammenarbeit bot Brüssel Tunesien eine Milliarde Euro an Hilfsgeldern an. Im Gegenzug sollte Tunis Migranten daran hindern, europäische Gewässer zu erreichen. Das Abkommen kam zustande, kurz nachdem Tunesien Libyen als aktivsten Ausgangspunkt für die Überfahrt von Migranten über das zentrale Mittelmeer Richtung Europa abgelöst hatte.
Tunesien ist der neue Transitknotenpunkt für Migranten aus Subsahara-Ländern, nachdem die libyschen Milizen wirksam (und unter regelmäßiger Verletzung von Asyl- und Menschenrechten) gegen Schmuggler und Migranten vorgegangen sind.
Nun stellt sich heraus, dass Migranten in Tunesien einem ähnlichen Schicksal ausgeliefert sind wie jene in Libyen. Wie die UNO in einem Report vom Oktober darlegte, sei die Lage für Flüchtlinge katastrophal. Demnach sollen im heurigen ersten Halbjahr 189 Menschen bei der Überfahrt und 265 bei Abfangaktionen auf See ums Leben gekommen sein. Weitere 95 Menschen gelten als vermisst.
In dem Report wird außerdem von willkürlichen Zwangsüberstellungen an die Grenzen zu Algerien und Libyen ohne Zugang zu humanitärer Hilfe berichtet.
Vorhersehbare Missbräuche
Wie die britische Zeitung The Guardian meldete, wurden mit EU-Geldern tunesische Sicherheitskräfte bezahlt, denen sexuelle Gewalt gegenüber Migranten vorgeworfen wird. Menschenrechtsverletzungen seien bei einem Migrationsabkommen, das darauf abziele, Flüchtlinge davon abzuhalten, Europa per Boot aus Nordafrika zu erreichen, unvermeidlich, zitierte The Guardian die Direktorin des Europäischen Rats für Flüchtlinge, Catherine Woollard: »Diese Missbräuche sind die erschreckenden, aber völlig vorhersehbare Verstöße, die bei dieser Art von Geschäften immer auftreten.«
Ein Sprecher der EU-Kommission forderte, alle Anschuldigungen über Fehlverhalten der Sicherheitskräfte sollten von den zuständigen tunesischen Behörden untersucht werden. Die EU erwarte von ihren Partnern, die Erfüllung ihrer internationalen Verpflichtungen, einschließlich des Rechts auf Nichtzurückweisung.
Tunesiens umstrittener Präsident trat diese Woche seine zweite fünfjährige Amtszeit an. Das Abgleiten des Landes von der Wiege des Arabischen Frühlings in eine Autokratie scheint damit zementiert. Da die Europäische Union es weder schafft, ein funktionierendes Asylsystem innerhalb der Staatengemeinschaft zu errichten, noch die Fluchtursachen nachhaltig bekämpfen kann, setzt sie darauf, Asylverfahren auszulagern und macht sich damit von Autokraten wie Saied abhängig. – Ein Dilemma zwischen Interessenorientierung und Wertegebundenheit, das nicht einfach aufzulösen ist.