„Zugegeben, der Demokratie geht es in Tunesien besser als anderswo in der arabischen Welt seit dem Arabischen Frühling. Zehntausende Tunesier haben sich für die Kommunalwahlen Anfang Mai aufstellen lassen. In Ägypten befindet die Demokratie sich dagegen auf dem Rückzug. Ende März sicherte der autoritär regierende Präsident Abdel Fattah al-Sisi sich dort mit 97 Prozent der abgegebenen Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von nur 41 Prozent eine zweite Amtszeit. Dennoch reichen die demokratischen Freiheiten in Tunesien nicht aus, um die alten Wunden zu heilen. Soziale und wirtschaftliche Nöte und Ungerechtigkeiten und die Korruption bestehen fort. Der Übergang von der Diktatur ist ernüchternd gewesen. Die Tunesier haben lernen müssen, dass die Demokratie chaotisch und polarisierend ist, das Kompromisse nur schwer zu erzielen sind, und der Kampf um soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit ein langfristiger ist. Mit einer einfachen Parole ist es nicht getan. Die Revolution, so heißt es jetzt, sei der einfache Teil gewesen. (…)
Zur Tatenlosigkeit der Regierung trägt womöglich die größte Leistung des Landes bei: Die Verfassung von 2014. Die fortschrittlichste Verfassung in der arabischen Welt wurde von einer aus 217 nachrevolutionären Abgeordneten und politischen Anführern bestehenden Verfassungsgebenden Versammlung entworfen und verabschiedet. Sie schreibt die Religions- und Meinungsfreiheit, die Menschenrechte, die rechtliche und wirtschaftliche Gleichstellung von Mann und Frau, das Recht auf eine saubere Umwelt und die paritätische Vertretung der Geschlechter in den gewählten Körperschaften fest. Doch ist es dem durch die Verfassung geschaffenen politischen System schwer gefallen, diese Ideale umzusetzen. Kritiker meinen, es funktioniere fast gar nicht. Das Regierungssystem war ein Kompromiss. Auf der einen Seite fürchteten die Islamisten und die Linken sich vor der Wiederkehr einer Einmanndiktatur. Andererseits forderten die Gewerkschaften und die Unternehmer eine starke Exekutive. Das Resultat ist eine parlamentarische Regierung und ein teilweise geschwächtes Präsidentenamt.
Wie in vielen halbpräsidentiellen Systemen ist der Ministerpräsident das Regierungsoberhaupt und der Präsident das Staatsoberhaupt. Doch während das Präsidentenamt in anderen parlamentarischen Systemen weitgehend zeremonieller Art ist, stellt der tunesische Präsident einen halbunabhängigen Zweig der Exekutive dar. Seine Vollmachten sind ungenau definiert. Er genehmigt die Gesetze, ist für die Außenpolitik verantwortlich und ernennt, auf Empfehlung der Regierung, die Richter und die Mitarbeiter des nationalen Sicherheitsapparats und des diplomatischen Dienstes. Dies hat zu einigem Chaos geführt. Mitunter ist es unklar, wer für die Festlegung und Ausführung politischer Maßnahmen verantwortlich ist. Da die Regierung auf eine fragile parlamentarische Koalition angewiesen ist, mangelt es ihr an der erforderlichen Unabhängigkeit und Stabilität, um dringend erforderliche wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Reformen wie eine Steuerreform oder eine Umgestaltung der Polizei aus der Ben Ali-Ära durchzusetzen. In Tunesien gab es in den letzten sieben Jahren sieben Regierungen.“ (Taylor Luck: „Tunisia’s democracy: Freedom is disappointingly messy, but there’s hope“)