
„Als die Türkei 2002 in einer schweren Wirtschaftskrise steckte, ähnlich wie heute, nutzte ein Politiker die Gunst der Stunde und setzte sich an die Spitze des Staates. Bis heute hat Recep Tayyip Erdoğan die Macht nicht abgegeben. Selbst der Absturz der Lira scheint den Präsidenten innenpolitisch nicht in Bedrängnis zu bringen. Und so fragen sich Millionen Türken gerade: Wo ist die Opposition, die das ausschlachtet? Wo ist Muharrem İnce?
Es ist erst zwei Monate her, als der frühere Physiklehrer für die säkulare CHP ins Rennen um das Präsidentenamt ging und einen furiosen Wahlkampf gegen Erdoğan lieferte. Mit İnce hatte die Opposition das erste Mal einen redestarken und provokanten Politiker, der Erdoğan ebenbürtig war. Obwohl Erdoğan seinem Gegner mit unfairen Mitteln das Leben schwer machte, hopste der CHP-Kandidat wochenlang von Bühne zu Bühne und elektrisierte Millionen Türken, die die bis dahin schwache Opposition längst abgeschrieben hatten. (…)
Die vergangenen Wochen haben aber gezeigt, dass İnce durchaus fertig sein könnte. Längst hat sich unter seinen Anhängern eine große Ernüchterung breitgemacht. Erst platzten ihre Hoffnungen auf einen Regierungswechsel, nun verlieren sie auch ihren Glauben an eine neu erstarkte Opposition. Statt dass sich die CHP vom Rückhalt in der Bevölkerung nährt, ist die Partei damit beschäftigt, sich selbst zu zerlegen. (…) Die CHP ist nun in zwei Lager gespalten. Solange der Streit anhält, ist İnce kaltgestellt – ausgerechnet der erfolgreichste Oppositionspolitiker der Türkei. (…)
Seit der Wahlniederlage und dem Streit um den Parteivorsitz in der CHP wirkt der Shootingstar wie ausgetauscht. Und er zeigt Schwächen: In einem Tweet würdigte er Juden herab. Später entschuldigte er sich dafür. Erdoğan kann sich indes ohne innenpolitischen Druck auf die Finanzkrise fokussieren und die Schuld an der Inflation allein auf das Ausland schieben. Ausgerechnet die Opposition gibt ihm dafür den Spielraum.“ (Hasan Gökkaya: „Wo ist Muharrem İnce?“