Die türkischen Expansionsbestrebungen im Mittelmeer wecken die feuchten Träume türkischer Nationalisten – und rufen die Kontrahenten der Türkei auf den Plan.
Das türkisch-libysche Abkommen über die vermeintlich gemeinsame Seegrenze sorgt in der Türkei für nationalistische Euphorie. Das geht aus Zeitungskommentaren hervor, die die Medienbeobachtungsgruppe MEMRI übersetzt und ausgewertet hat.
Ankara und die von der Türkei unterstützte Regierung in Tripolis hatten am 27. November ein Abkommen zur „Sicherheit, militärischen Zusammenarbeit und Abgrenzung der Einflussbereiche auf See“ unterzeichnet. Die Übereinkunft solle „türkische Rechte im östlichen Teil des Mittelmeeres schützen“ und dafür sorgen, dass sein Land einen „fairen Anteil der dortigen Ressourcen“ erhalte, sagte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu.
Hintergrund sind die imperialen Ambitionen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Er beansprucht vor der Küste Zyperns lagernde – bzw. dort vermutete, noch unentdeckte – Erdgasvorkommen für die Türkei und möchte eine mögliche zukünftige Gaspipeline verhindern, die Ägypten mit Zypern und Griechenland verbinden und ägyptisches und israelisches Erdgas an der Türkei vorbei in die Europäische Union bringen könnte.
„Der wahre Herrscher des Mittelmeers ist zurück“
Wie MEMRI berichtet, zog ein Kommentator der Tageszeitung Yeni Şafak, die Erdogan und der regierenden AKP nahesteht, eine Parallele zur türkischen Dominanz im östlichen Mittelmeer während der Blütezeit des Osmanischen Reichs. So heißt es in einer Kolumne des Chefredakteurs İbrahim Karagül vom 2. Dezember 2019: „Barbaros Hayreddin Pasha kehrt nach 473 Jahren zurück.“ Barbaros (1478-1546; in Europa auch bekannt als Barbarossa) war ein erfolgreicher osmanischer Seeräuber und späterer Marinekommandant. Mit ihm an der Spitze gewann das Osmanische Reich die Seeschlacht bei Preveza im Jahr 1538 gegen die Heilige Liga, was den Osmanen bis zur Schlacht von Lepanto im Jahr 1571 die Kontrolle über das östliche Mittelmeer sicherte. In einem Mausoleum im Istanbuler Stadtteil Besiktas wird er noch heute als „Herr der Meere“ verehrt. In der Kolumne heißt es:
„Der wahre Herrscher des Mittelmeers ist zurück, der türkisch-libysche Deal hat die Seekarte geändert. Der Sèvres-Plan [ein im Pariser Vorort Sèvres 1920 unterzeichnetes Abkommen, in dem die Siegermächte des Ersten Weltkriegs das Osmanische Reich aufteilten] ist in vor ihren Augen zertrümmert.“
Schaut man sich die Landkarte an, muss man sich wirklich wundern, dass die Türkei und Libyen eine gemeinsame Seegrenze haben sollen, wo sie doch durch Kreta und viele andere griechische Inseln voneinander getrennt sind. Doch Karagül behauptet:
„Das Abkommen zwischen der Türkei und Libyen hat nicht nur alle das Mittelmeer betreffenden Pläne durchkreuzt, sondern auch der Welt gezeigt, dass die Türkei eine Mittelmeerkarte besitzt.“
Die Fläche der Türkei sei „viel größer, als wir wussten“, so Karagül. Er spricht von einer – in seinen Augen veralteten – „Denkweise“, die die Türkei auf die Landfläche von „nur 783.562 Quadratkilometern“ beschränke. Rechne man aber „unsere Meere, Territorialgewässer und den Festlandsockel“ mit ein, dann wachse das Staatsterritorium der Türkei „in einem außergewöhnlichen Ausmaß“:
„Dies führt zu radikalen Änderungen, wenn wir auf die Landkarte blicken. … Dieses riesige Land wächst vor unseren Augen.“
Berücksichtige man dann noch die Gebiete, in denen ethnische Türken leben, dann sehe man „eine spektakuläre Macht von Europa bis Asien, vom Mittleren Osten bis in die Tiefen Afrikas.“ Die Türkei fange an, ihr „Gedächtnis“ wiederzuentdecken, so Karagül. Wie zu Zeiten der Osmanen und Seldschuken müsse die Türkei wieder die Region bestimmen:
„Das bedeutet große Veränderungen nicht nur für die Türkei, sondern für die gesamte Region. Es bedeutet, dass Erschütterungen, Erdbeben auf dem Weg sind. Es bedeutet, dass die gesamte etablierte Ordnung zerbröseln wird. … Die Seldschuken sind wieder da, die Osmanen sind wieder da, die Duelle des Ersten Weltkriegs sind zurück, die Verteidigung Anatoliens ist zurück, die Ansprüche vergangener Jahrhunderte sind wieder da, kurz: Alles, was uns gehört, ist zurück.“
Türkische Gebietsansprüche
Der Journalist Mehmet Kancı erklärte in derselben Zeitung den Lesern die politische Bedeutung des Abkommens:
„Die türkische Küstenlinie Marmaris-Fethiye-Kaş und Libyens Küstenlinie Derna-Tobruk and Bardia sind als Nachbarn geschaffen. Die westlichste Linie, die diese Küstenlinien verbindet, verläuft ein paar Seemeilen entfernt von Kreta. Dies bedeutet, dass die Türkei das Recht haben wird, sich allen Entwicklungen entgegenzustellen, die ihre Interessen in der östlichen Mittelmeerregion bedrohen, angefangen bei den Gewässern in der Nähe Kretas.“
Eine Karte des östlichen Mittelmeers, in die dieser Korridor eingezeichnet ist, soll das illustrieren.
„Gleichzeitig ist dies die Linie, die den Bohrungs- und Forschungsschiffen gezogen ist, die versuchen, in die Nähe Zyperns zu gelangen und die Rechte der zypriotischen Türken und der Türkei an den Kohlenwasserstoffen im östlichen Mittelmeer zu ignorieren.“
Dies ist die unverhohlene Drohung, dass die Türkei das gesamte genannte Gebiet, das ihr zum großen Teil nicht gehört, nun für sich beansprucht und in Seeräuberart Schiffe entern wird, die dort ohne ihre Erlaubnis unterwegs sind. Erdogan selbst bestätigte in einem Interview mit dem staatlichen türkischen Fernsehsender TRT die feindseligen Absichten hinter dem Abkommen:
„Südzypern, Ägypten, Griechenland und Israel werden nicht in der Lage sein, in dieser Region ohne die Zustimmung der Türkei eine Erdgaspipeline zu bauen.“
Alarmstimmung über den „Clown in Istanbul“
Ägyptische Kommentatoren zeigen sich von der Entwicklung alarmiert. Der Journalist Muhammad Yousuf Al-‘Azizi, der laut MEMRI die Ansichten der Regierung vertritt, lobte in einem Beitrag deren vorausschauendes Handeln. Wer sich gefragt habe, warum Ägypten seit Jahren zu Wasser, zu Land und auf See aufrüste und warum es bei der Entwicklung des Erdgasfelds Zohr so in Eile gewesen sei, der habe nun vom „Clown in Istanbul“ und „der Marionettenregierung“ in Tripolis die Antwort erhalten. Deren Legitimation sei nun, da sie einen „illegitimen und illegalen“ Vertrag mit der Türkei geschlossen habe, zu Ende.
Die Türkei wisse, dass sie Ägypten auf See nicht gewachsen sei, so Al-‘Azizi, sie kenne die „Fähigkeiten der ägyptischen Marine und auch der ägyptischen Luftwaffe“. In seinen Augen, so Al-‘Azizi, „versucht die Türkei bloß, Ägypten zu beschäftigen, es abzulenken, um es von weiteren Bohrungen abzuhalten und den Ausstoß des Zohr-Felds zu verbessern“. Auf diese Weise wolle die Türkei „Ägypten als regionalen Umschlagplatz für Erdgas schwächen“, „zum Vorteil Katars“.
Der „gefährlichste Aspekt“ der ganzen Sache sei das Ziel der Türkei, in Kooperation mit der Regierung von Al-Sarraj in Tripoli „ihre Terrorbasis in Libyen auszubauen und zu einem Zentrum zu machen, wo der IS sich neu gruppieren und aufs Neue seinen Terror an Ägyptens westlicher Grenze verbreiten kann.“
Die Gegenspieler bleiben nicht untätig
Griechenland und Zypern, die seit langem Seestreitigkeiten und territoriale Auseinandersetzungen mit der Türkei haben, erklärten das Abkommen zwischen Ankara und Tripoli umgehend für „nichtig“; es verstoße gegen das internationale Seerecht. Griechenland hat den libyschen Botschafter in Athen ausgewiesen und bei den Vereinten Nationen Beschwerde eingereicht. Zypern, dessen nördlicher Teil der Insel von der Türkei besetzt ist, hat die EU um Hilfe gebeten. Auf einem Gipfeltreffen am 12. Dezember gaben die Staats- und Regierungschefs der EU eine Erklärung ab, in der sie sich für ihre Mitgliedstaaten Griechenland und Zypern einsetzten. „Das Memorandum verletzt die Hoheitsrechte von Drittstaaten, steht nicht mit dem Seerecht im Einklang und kann deswegen keinerlei Rechtsfolgen für Drittstaaten haben“, heißt es darin.
Ägypten wird im Januar ein Treffen mit den Staats- und Regierungschefs von Griechenland, Zypern und Frankreich abhalten, um eine Reaktion zu besprechen. Israels Außenminister Israel Katz sagte, sein Land unterstütze die Position Griechenlands und Zyperns. Israel werde aber „keine Kriegsschiffe schicken, um sich der Türkei entgegenzustellen“. Weder die Türkei noch Israel hätten ein Interesse an einem Konflikt, so Katz.