Türkei: Gegen das Schweigen

Gastbeitrag von Tanja Benli

akin-atalay-gozaltina-alindiAkin Atalay, Herausgeber der Cumhuriyet, die eine der ältesten türkischen Tageszeitungen und mit die letzte öffentlich kritische Stimme in der Türkei ist, wurde gestern Mittag bei seiner Ankunft noch auf dem Rollfeld des Flughafens in Istanbul festgenommen. Dass er dies vorausgesehen hat, konnte man in einer von ihm am 9. November 2016 veröffentlichten Erklärung in der Cumhuriyet lesen. Dort kündigte er an, dass aufgrund der aktuellen Entwicklungen absehbar sein wird, dass er lange Zeit nicht mehr die Gelegenheit haben werde, zu seinen Mitarbeitern und Freunden zu sprechen.

Während in der vergangenen Woche führende Redakteure der Cumhuriyet (Turhan Günay, Kadri Gürsel, Önder Çelik, Musa Kart, Murat Sabuncu, Güray Öz, Bülent Utku, M. Kemal Güngör, Hakan Kara) festgenommen wurden, verweilte Akin Atalay auf Einladung der CHP Köln und der Nazim Hikmet Stiftung in Köln. Zur gleichen Zeit wurde sein Haus in Istanbul durchsucht. Im Anschluss daran wurden über staatliche Medien diffarmierende Meldungen verbreitet, er unterstütze, wie auch die anderen inhaftierten Cumhuriyet-Mitarbeiter, die PKK und die Gülen-Bewegung. Außerdem hätte Atalay seine Verbindungen genutzt und sei vor der Festnahme ins Ausland geflohen.

Trotz dieser Anschuldigungen und der absehbaren Folgen entschied sich Akin Atalay ganz bewusst für die Rückkehr in die Türkei. Er tat dies mit dem Wissen, dass Tayyip Erdogan plant, für diejenigen, die er für terroristische Unterstützer der PKK und der Gülen-Bewegung hält, die Todesstrafe einzuführen. Warum setzt Atalay sich dieser Gefahr freiwillig aus? Hierzu erklärt er, er wolle seinen „Glauben an die Demokratie der Türkei, an die Menschenrechte, den Rechtsstaat und die für diese Dinge kämpfenden Menschen zeigen.“ Er wolle den für die Zukunft der Türkei kämpfenden Menschen seine Hoffnung und seine Zuversicht beweisen – und sie nicht allein lassen: Weder die zu Unrecht inhaftierten Journalisten und Politiker, noch alle anderen Inhaftierten der beispiellosen Verhaftungswelle der letzten Monate.

Laut Bahri Belen, einem Anwalt der Cumhuriyet, habe gegen keinen der Zeitungsmitarbeiter ein juristischer Grund zur Verhaftung vorgelegen. Man wolle, so Akin Atalay, die Cumhuriyet zum Schweigen bringen.

Seit dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 vollzieht Erdogan den zuvor begonnenen Umbau der Türkei weg von demokratischen Strukturen in Richtung einer Diktatur mit atemberaubender Geschwindigkeit. Er spricht unverhohlen von „Säuberungen“. Kritische Stimmen sollen zum Schweigen gebracht werden, so auch die Cumhuriyet, alles unter dem Deckmantel des Vorwurfs der Unterstützung der Gülen-Bewegung und/oder der PKK.

Seitdem wurden 169 Medienunternehmen geschlossen, über 2.500 Journalisten wurden seitdem entlassen, mehr als 120 Journalisten verhaftet. 48.500 Lehrer, Akademiker und Beamte des Bildungsministeriums wurden entlassen, ebenso mehr als 7.000 Richter, Staatsanwälte und weitere Angestellte des Justizministeriums, sowie weitere 103.000 Menschen aus dem Staatsdienst. 40.00 Menschen sitzen in Untersuchungshaft, viele davon Politiker, Journalisten, Wissenschaftler, Intellektuelle. Bei 70.000 Menschen steht ein Verhör noch aus.

In einem Interview, das Can Dündar, der ehemalige Chefredakteur der Cumhuriyet, mit Edzard Reuter (dessen Eltern vor den Nazis in die Türkei flohen) führte, spricht dieser von einer gespenstischen Stimmung der Angst in der Türkei, die überall spürbar sei. Dies erinnere ihn an die Anfangsjahre der NS-Zeit.

Aktuell, so scheint es, ist eine Einteilung der Stimmungslage in der Türkei nach dieser beispiellosen Verhaftungs- und Kündigungswelle möglich in die Gruppe derer, die trotz ihrer Angst weiter kämpfen, die weiter an all die Inhaftierten erinnern, die Mahnwachen vor der Cumhuriyet-Redaktion abhalten, die sich allen Repressalien zu widersetzen versuchen mit dem Risiko, die oder der nächste zu sein; in die zahlreichen Erdogan-Unterstützer und in diejenigen, die Angst haben, eine regierungskritische Meinung zu äußern, einhergehend mit Existenzangst und der Gefahr, verhaftet und gefoltert zu werden.

Hannah Arendt schrieb „Furcht entsteht in der Tyrannei dadurch, dass der Raum der Freiheit, den die Gesetze umhegten, von der Willkür des Tyrannen in eine Wüste verwandelt ist“. Mit dem mutigen Vorhaben Akin Atalays, dieser Furcht zu trotzen, darf man ihn, darf man alle diese Menschen nicht allein lassen!

Bei den Mahnwachen vor der Cumhuriyet hört man: „Fasizme karsi, omuz omuza“ (Gegen den Faschismus, Schulter an Schulter). Dies ist nicht nur Aufforderung an die deutsche Regierung und die Europäische Union, die sich nach einer desaströsen und fatalistischen Außenpolitik erpressbar gemacht haben nun von einem Despoten, der die Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Rechtstaatlichkeit und universelle Menschenrechte de facto abgeschafft hat. Sondern auch an all diejenigen, die vorgeben, Freiheit und demokratische Werte gegen die Barbarei verteidigen zu wollen.

Artikel zuerst erschienen auf Jungle Blog.

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