Um weniger von russischem Erdgas abhängig zu sein, zelebriert die Türkei ihre Freundschaft zu Aserbaidschan – auch militärisch.
Als ob die Interventionen in Syrien und Libyen nicht genug wären, baut die Türkei nun auch ihre Aktivitäten im Südkaukasus aus. Deutlich hat Armenien auf das jüngste Militärmanöver der Türkei in Aserbaidschan reagiert. Der armenische Ministerpräsident Nikol Paschinjan warf Ankara vor, dadurch die Spannungen in der Region zu erhöhen.
Die Militärübungen fingen am 1. August an und sollen noch bis zum 10. August andauern. Den Angaben des aserbaidschanischen Verteidigungsministeriums zufolge üben die türkischen und aserbaidschanischen Landstreitkräfte vom 1. bis zum 5. August in der Exklave Nachitschewan und in der Nähe der Hauptstadt Baku. Die Manöver von Kampfhubschraubern und Flugzeugen sollen bis zum 10. August dauern und auch im Norden Aserbaidschans – an der Grenze zu Armenien – stattfinden.
Neue Eskalation
Auch wenn die türkische Seite beteuert, dass die Militärübung schon länger geplant gewesen sei, erfolgt sie zu einem äußerst angespannten Augenblick. Gefechte und Scharmützel zwischen Armenien und Aserbaidschan sind zwar nicht neu, doch neuerdings eskalierte der Grenzkonflikt. Mitte Juli kam es zu heftigen Gefechten mit Artillerieeinsatz, auf beiden Seiten starben mehrere Dutzend Soldaten und Offiziere.
Anders als in der Vergangenheit brach die jüngste Eskalation allerdings nicht im seit Jahrzehnten umkämpften Gebiet Bergkarabach aus, das sich vor rund 30 Jahren von Aserbaidschan abspaltete. Es kam stattdessen zu Gefechten an der nördlichen Grenze, im Gebiet rund um den aserbaidschanischen Ort Tovuz.
Zwei Staaten, eine Nation
Wie selbstverständlich stellte sich die Türkei an die Seite des „Bruder-Staates“ Aserbaidschan und folgte damit erneut dem Leitspruch des aserbaidschanischen Ex-Präsidenten Heydar Aliyev: „Zwei Staaten, eine Nation“. „Unsere bewaffneten unbemannten Luftfahrzeuge, Munition und Raketen mit unserer Erfahrung, Technologie und unseren Fähigkeiten stehen Aserbaidschan zur Verfügung“, sagte İsmail Demir, Leiter des Vorstands der Verteidigungsindustrie, einer Organisation, die dem türkischen Präsidenten unterstellt ist.
Beide Staaten verbindet ein über Ethnie und Sprache definiertes Gemeinschaftsgefühl, durch Kulturfeste und Austauschprogramme wird es gefördert. Der kleine Bruder ist gegenwärtig auch der einzige türkische Nachbar, zu dem die Außenbeziehungen – anders als mit Armenien, Griechenland, Irak, Iran und Zypern – konfliktfrei verlaufen.
Die Türkei versteht sich seit je als ein Schutzpatron Aserbaidschans, hat das Land 1991 nach seiner Unabhängigkeit als erster Staat anerkannt und pflegt seitdem sehr freundschaftliche, geradezu brüderliche Beziehungen. Dadurch befriedigt sie sowohl ideologische wie auch politische Interessen, und legt auf die militärische wie wirtschaftliche Zusammenarbeit großen Wert.
Dies hat unter anderem mit dem ökonomischen Potenzial Aserbaidschans zu tun, die Ausbeutung der Ressourcen des Kaspischen Meeres haben für die Türkei enorme Bedeutung. Da die Türkei über keinerlei eigene natürliche Ressourcen verfügt, ist sie extrem von Energieimporten abhängig. Seit Mai 2020 bezieht sie von Aserbaidschan als ihrem nunmehr größten Erdgasexporteur einen großen Anteil ihres Gasbedarfs.
Die Türkei importiert aserbaidschanisches Erdgas über die südkaukasische Gaspipeline (Baku-Tiflis-Erzurum) und Transanatolische-Pipeline (TANAP). Im ersten Quartal dieses Jahres betrug die durchschnittliche tägliche Durchsatzkapazität der Südkaukasus-Gaspipeline 33,6 Millionen Kubikmeter Erdgas.
Der Kampf um den Energiemarkt
Zentrale Rolle im aktuellen Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan spielt die Region Tovuz. Dort liegen wichtige Energie-, Eisenbahn- und Handelsrouten, die für Aserbaidschan, Georgien, die Türkei, Europa, Russland, Iran, Zentralasien und China eine strategische Bedeutung haben.
Durch aserbaidschanisches Erdgas bemüht sich die Türkei, ihre Energieabhängigkeit von Russland und dem Iran zu verringern. Die wichtigste Transitroute hierfür liegt in der Region Tovuz. Dort verläuft Aserbaidschans Südkaukasus-Pipeline und führt Gas zur transanatolischen Erdgaspipeline (TANAP) in der Türkei, die ein wesentlicher Bestandteil der türkischen und europäischen Bemühungen ist, um die Energieabhängigkeit von Russland zu verringern.
Die Region Tovuz ist von zentraler Bedeutung für die Ölpipeline Baku-Tiflis-Ceyhan und die Eisenbahnlinie Baku-Tiflis-Kars. Dabei handelt es sich um zwei gemeinsame Projekte, die Aserbaidschan, Georgien und die Türkei seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion realisiert haben. Folglich ist dieses Gebiet entscheidend für die aserbaidschanischen Energieexporte nach Europa und stellt die einzige Landroute dar, die Aserbaidschan über Georgien mit der Türkei verbindet.
Zum Missfallen Russlands
Am 15. Juli drohte US-Außenminister Mike Pompeo erneut mit Sanktionen gegen Energieunternehmen, die an russischen Pipelines nach Europa und in die Türkei beteiligt sind. Sowohl die EU als auch die Türkei werden unter Druck gesetzt, über Energieversorgungsketten ohne Russland nachzudenken.
Russland ist über die angedrohten US-Sanktionen gar nicht amüsiert. Moskau ist sich im Klaren darüber, dass es sich bei der Region Tovuz um den entscheidenden Korridor für die Türkei und Europa handelt, Zugang zu Zentralasien und China zu erhalten. So kann russisches und iranisches Territorium umgangen werden, insbesondere wenn aserbaidschanisches Erdgas als alternative Ressource nach Europa und in die Türkei geliefert wird.
Entsprechend handelt Moskau als Schutzpatron Armeniens und führte ebenso erst neulich ein Militärmanöver mit Armenien durch. Mehr als 1.500 Soldaten seien an der Übung in Armenien beteiligt gewesen, teilte das russische Militär der Agentur Interfax mit. Kampfjets, Hubschrauber und Drohnen seien zum Einsatz gekommen.
Mit Argusaugen verfolgt Russland die türkischen Bemühungen, von russischen Gasexporten unabhängiger zu werden. Auch wenn Russland und die Türkei durch die jüngst eröffnete Pipeline TurkStream, die sowohl Südeuropa als auch die Türkei mit Erdgas versorgen soll, näher gerückt sind und die russische Gazprom ein wichtiger Erdgaslieferant für die Türkei bleiben wird, dürfte die russisch-türkische Rivalität insbesondere in Libyen und Syrien einen Ausgleich der Interessen schwierig machen.
Das könnte auch Auswirkungen auf den armenisch-aserbaidschanischen Konflikt haben, der zum Teil auch ein russisch-türkischer ist. Metin Gürcan kommt in seiner Analyse für al-monitor daher zu einem ganz schlüssigen Fazit: „Insgesamt dürfte der geopolitische Druck auf die aserbaidschanisch-armenische Grenze in den kommenden Monaten zunehmen, da Aserbaidschans Rolle als wichtigster nicht russischer Energieversorger der Türkei und Europas zunimmt.“