Es war der Fluss, der den biblischen Garten Eden bewässert und zur Entstehung der Zivilisation beigetragen haben soll, doch heute liegt der Tigris im Sterben.
Der Irak mag reich an Öl sein, leidet aber nach jahrzehntelangem Krieg unter Armut, Dürre und Wüstenbildung. Das Land, das von einer Naturkatastrophe nach der anderen heimgesucht wird, gehört nach Angaben der UNO zu jenen fünf, die am stärksten vom Klimawandel betroffen sind. Ab April steigen die Temperaturen auf über 35 Grad Celsius, und heftige Sandstürme begraben den Irak oft unter einer dichten, orangefarbenen Staubschicht. Im Sommer klettert die Temperatur schließlich auf über 50 Grad Celsius und erreicht damit die Grenze der menschlichen Belastbarkeit, und dies umso mehr, als häufige Stromausfälle die Klimaanlagen von Millionen Menschen außer Betrieb setzen.
Zugleich ist der einst mächtige Tigris, der zusammen mit seinem Zwillingsfluss Euphrat vor Tausenden von Jahren Mesopotamien zu einer Wiege der Zivilisation machte, dem Versiegen nahe. Der Tigris, die Lebensader des Irak, welche die geschichtsträchtigen Städte Mosul, Bagdad und Basra miteinander verbindet, führt durch menschliche Eingriffe wie Staudämme vor allem in der stromabwärts gelegenen Türkei sowie durch nachlassende Regenfälle und Klimawandel immer weniger Wasser.
Ein AFP-Videojournalist reiste nun entlang des 1.500 Kilometer langen Flusslaufs durch den Irak, vom zerklüfteten kurdischen Norden bis zum Golf im Süden, um die ökologische Katastrophe zu dokumentieren, die die Menschen dazu zwingt, ihre alte Lebensweise zu ändern. Kurdische Landwirte nahe der Grenze zur Türkei und zu Syrien beschuldigen die Türkei, in der der Tigris entspringt, das Wasser mit ihren Dämmen zurückzuhalten, wodurch der Abfluss in den Irak drastisch reduziert wird.
Die irakische Regierung sagt Ähnliches: Laut offiziellen Statistiken zufolge ist der den Irak erreichende Pegel des Tigris im letzten Jahrhundert auf nur noch 35 Prozent seines Durchschnittswerts gesunken. Bagdad fordert Ankara regelmäßig auf, mehr Wasser abzugeben. Der türkische Botschafter im Irak, Ali Riza Guney, wiederum forderte den Irak auf, »das verfügbare Wasser effizienter zu nutzen« und twitterte im Juli, dass »Wasser im Irak weitgehend verschwendet wird«. Damit hat er laut Experten nicht Unrecht, denn die irakischen Landwirte neigen dazu, ihre Felder zu fluten, wie sie es seit der sumerischen Antike tun, anstatt sie zu bewässern, was zu enormen Wasserverlusten führt.
Vom Diyala, einem Nebenfluss, der in der Nähe der Hauptstadt Bagdad in der Zentralebene in den Tigris mündet, sind nur noch Pfützen mit stehendem Wasser in seinem ausgetrockneten Bett übrig. Die Dürre hat den für die Landwirtschaft der Region so wichtigen Wasserlauf ausgetrocknet. In diesem Jahr sahen sich die Behörden gezwungen, die Anbauflächen um die Hälfte zu reduzieren, was bedeutet, dass im schwer getroffenen Gouvernement Diyala keine Feldfrüchte mehr angebaut werden können.
Die Weltbank warnte letztes Jahr, dass einem Großteil des Irak ein ähnliches Schicksal droht. »Bis zum Jahr 2050 würde ein Temperaturanstieg von einem Grad Celsius und ein Niederschlagsrückgang von zehn Prozent zu einer Verringerung des verfügbaren Süßwassers um zwanzig Prozent führen«, hieß es in einem Bericht. »Unter diesen Umständen wird fast ein Drittel der bewässerten Flächen im Irak kein Wasser mehr haben.«
Besorgniserregend
Wasserknappheit, die sich auf die Landwirtschaft und die Ernährungssicherheit auswirkt, gehört bereits zu den »Haupttreibern der Landflucht« im Irak, so die UN und mehrere Nichtregierungsgruppen im Juni. Die Internationale Organisation (IOM) für Migration erklärte im August, »Klimafaktoren« hätten in den ersten drei Monaten dieses Jahres mehr als 3.300 Familien aus den zentralen und südlichen Gebieten vertrieben. »Die Klimamigration ist im Irak bereits Realität«, so die IOM.
Das irakische Ministerium für Wasserressourcen gibt der Verschlammung des Flusses die Schuld, da Sand und Erde, die einst flussabwärts geschwemmt wurden, sich nun absetzen und Sandbänke bilden. Bis vor Kurzem setzten die Behörden in Bagdad schwere Maschinen ein, um den Schlamm auszubaggern, aber da die Mittel knapp sind, haben sich die Arbeiten verlangsamt.
Der jahrelange Krieg hat einen Großteil der irakischen Wasserinfrastruktur zerstört, sodass viele Städte, Fabriken, Bauernhöfe und sogar Krankenhäuser ihre Abfälle direkt in den Fluss kippen. Die Abwässer und der Müll aus dem Großraum Bagdad gelangen in den immer weniger Wasser führenden Tigris und bilden eine Giftsuppe, die das Leben im Meer und die menschliche Gesundheit bedroht. Für die irakischen Regierungen, die mit politischen, sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Krisen zu kämpfen haben, hatte die Umweltpolitik bisher keine hohe Priorität.
Am Zusammenfluss von Tigris und Euphrat, dem in den Golf mündenden Shatt al-Arab nahe der Grenze zum Iran und zu Kuwait ist ein Großteil der einst berühmten mesopotamischen Sümpfe – das riesige Feuchtgebiet, in dem die »Sumpfaraber« und ihre einzigartige Kultur beheimatet sind – zu einer Wüste verkommen, seit Saddam Hussein sie in den 1980er Jahren zur Bestrafung der Bevölkerung trockengelegt hat. Doch der Shatt al-Arab ist noch von einer weiteren Bedrohung betroffen: Salzwasser aus dem Golf drängt immer weiter flussaufwärts, während die Strömung des Flusses abnimmt.
Die UNO und örtliche Landwirte berichten, dass die zunehmende Versalzung bereits jetzt die landwirtschaftlichen Erträge und die Fischerei beeinträchtigt, ein Trend, der sich mit dem Anstieg des Meeresspiegels durch die globale Erwärmung noch verstärken wird. Letzten Monat meldeten die regionalen Behörden, der Salzgehalt im Fluss nördlich von Basra habe 6.800 Teile pro Million erreicht – und damit eine fast siebenmal so hohe Konzentration wie in Süßwasser.