Die Stimmung der Menschen in der israelischen Metropole Tel Aviv oszilliert zwischen Angst, Verdrängung und Euphorie.
625 Tage befindet sich Israel nun im Krieg mit der Hamas im Gazastreifen und neun Tage mit seinem langjährigen Feind, der Islamischen Republik Iran. Seit vergangener Woche zerstörte Israel über 1.100 iranische Stützpunkte, um gegen die Gefahr einer Atombombe vorzugehen.
Israel warnte seit Langem, der Iran stünde kurz davor, Nuklearwaffen zu besitzen und der Angriff war der Regierung zufolge eine Notwendigkeit, um eine größere Katastrophe zu verhindern, die nicht nur Israel, sondern die gesamte Welt in Gefahr versetzen würde. Laut dem Chef der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) Rafael Grossi gibt es kein anderes Land, das Uranium auf ein Niveau von sechzig Prozent angereichert hat – ein Wert, für den es keinen zivilen Nutzen gibt und der nur kurz von jenen neunzig Prozent entfernt ist, die es braucht, um eine Atomwaffe zu bauen.
Doch wie sieht das alltägliche Leben in der Metropole Tel Aviv aus? Wie gehen die Menschen mit der derzeitigen Situation um und welche Entwicklungen gab es in den letzten neun Tagen?
Alltägliche Realität
Seit dem 7. Oktober 2023 ging die Bevölkerung durch mehrere Wellen und Perioden: von einem allgemeinen Schock- und Depressionszustand hin zu einer Art Normalität, immer aber zwischen Angstzuständen und Verdrängung oszillierend.
Als der Iran im April letzten Jahres zum ersten Mal damit drohte, Israel anzugreifen – und es dann auch wahrmachte –, warteten alle mit Angst auf das Ereignis. Viele kauften gewaltige Vorräte an haltbaren Lebensmitteln, um damit ihre Schutzräume auszustatten; andere deckten sich mit batteriegeladenen Lampen ein, sollte die Elektrizität für mehrere Tage ausfallen. Die Bevölkerung hielt den Atem an. Wenn ich heute daran zurückdenke, hätten wir uns damals nicht erträumen können, dass dieser Zustand zur neuen alltäglichen Realität werden könnte.
Ängste und Hoffnungen
Am Freitag, den 13. Juni 2025 um 2:50 Uhr in der Nacht, wurde die israelische Bevölkerung von einem lauten Alarm geweckt, der auf ihren Smartphones angezeigt wurde. Es war kein gewöhnlicher Raketenalarm; er war viel lauter und durchdringender – und er signalisierte, die Bevölkerung müsse sich in die Nähe eines Schutzraums begeben und bis auf Weiteres die Vorgaben des für Sicherheitsmaßnahmen in Krisenzeiten zuständigen Heimatfrontkommandos befolgen.
In den Nachrichten waren bereits erste Meldungen, Israel habe begonnen, die Nuklearzentren des Irans anzugreifen und mit einem baldigen Gegenangriff zu rechnen sei. Der nächste Tag zeichnete sich dann auch durch allgemeine Ungewissheit aus. Die Straßen waren leer, entlang der sonst so belebten Strandpromenade erstreckten sich verlassene Bühnen und Getränkestände.
Es war der Tag der Gay-Pride in Tel Aviv, doch statt lauter Tanzmusik hing Unsicherheit, Angst, aber auch Euphorie in der Luft. Trotz der Furcht vor den Auswirkungen der Gegenangriffe des iranischen Regimes auf Israel befürworten die meisten Israelis den Angriff auf die Nuklearkapazitäten der Islamischen Republik. Schließlich könnten mit diesen noch viel größere Schäden entstehen und durch erfolgreiche Angriffe jahrzehntelange Ängste genommen werden.
Auch wenn die Angst vor der Atombombe schon immer im Bewusstsein der israelischen Bevölkerung schwelte, sind die Israelis auch jetzt wie immer alles andere als einer Meinung. Einige aus dem Anti-Regierungslager gehen sogar davon aus, Premierminister Benjamin Netanjahu könnte den Angriff strategisch geplant haben, um eventuelle Neuwahlen zu vermeiden, indem er die Bevölkerung in einen Ausnahmezustand versetzt. Doch auch wenn dem so wäre, ist nicht abzusehen, was die Zerstörung der Nuklearvorhaben des Irans und ein möglicher Regimewechsel für Israel, den Nahen Osten und die gesamte Welt bedeuten könnte.
Der Sturz des iranischen Regimes hätte direkte Auswirkungen auf die Terrororganisationen Hisbollah und Hamas, die vom Iran finanziert werden – und somit auch auf ein mögliches Abkommen zwischen Israel und der Hamas sowie die Befreiung der immer noch in den Tunneln des Gazastreifens gehaltenen Geiseln. Viele Israelis hoffen, die Angriffe könnten das Ende des beinahe zweijährigen Kriegs bedeuten; andere wiederum haben Angst, er könne alles verzögern und die Geiseln in den Hintergrund drängen.
Das Leben in den Schutzräumen …
Seit über einer Woche ist Tel Aviv in einer Art Ausnahmezustand; jede Nacht wird die Bevölkerung von lauten Raketenalarmen geweckt. Bereits zehn Minuten vor dem Alarm ertönt eine Warnung auf den Smartphones, um die Bevölkerung in die Schutzräume zu schicken.
Alle neueren Wohnungen in Israel haben eingebaute Schutzräume, die oft als Kinderzimmer oder Abstellkammern verwendet werden. Sie sind speziell gebaut und raketensicher, solange die Rakete nicht direkt den Schutzraum trifft. Einige der älteren Häuser haben eine Art Keller, der ebenfalls raketensicher ist. Diese Keller sind oft niedrig gebaut, voller Staub, und immer wieder schreit einer der Bewohner wegen der Kakerlaken auf, die hier gerne herumlaufen.
Außerdem gibt es auch öffentliche Bunker in Schulen, neben Kaffeehäusern und Restaurants oder Hotels. Seit letzter Woche sitzen die Menschen hier nahe aneinandergedrängt. Niemand bleibt mehr im Hausflur stehen, wie es die meisten Israelis noch bei den Angriffen der Hamas oder der Hisbollah getan haben.
Auch wenn alle von den nächtlichen Angriffen übermüdet sind, verängstigt und irritiert über die tatsächlichen Einschläge auf Wohnhäuser in der nahen Umgebung, geht das Leben dennoch weiter. Einige scherzen, um von der Situation abzulenken, und Kindern werden im Schutzraum Cartoons gezeigt, um sie abzulenken. Manche Bunker sind sogar mit Spielen oder Malkreiden ausgestattet.
Als wir um vier Uhr Morgen wieder einmal müde im Schutzraum standen, drehte plötzlich eine ältere Dame laute israelische Tanzmusik auf, in der Hoffnung, die Stimmung aufzuhellen. Eine arabische Großfamilie, die neben mir stand, blieb bei den Angriffen aus dem Gazastreifen immer in der Wohnung. Doch wenn es um den Iran geht, ist es anders. Die Mutter weinte und verbarg ihr Gesicht zwischen den Händen, während ihr Sohn sie versuchte, aufzuheitern.
… und auf den Straßen Tel Avivs
Tag für Tag öffnen einige Kaffeehäuser mehr, Supermärkte sind seit Beginn der israelischen Offensive durchgehend geöffnet, ansonsten arbeiten bis auf essenzielle Arbeiter und Angestellte seit letzter Woche aber alle von zu Hause aus.
Bei meinen morgendlichen Spaziergängen sehe ich immer mehr junge Familien, Jogger und vor allem Surfer auf der Strandpromenade. Vor ein paar Tagen hatten die Szenen in Tel Aviv noch an Corona-Zeiten erinnert. Doch heute sind die wenigen Kaffeehäuser, die geöffnet haben, überfüllt. Jeder sucht nach einer Ausrede, um nach draußen zu gehen, auch wenn doch alle eher in ihren Nachbarschaften bleiben.
Ich laufe durch Florentin, einer im Süden Tel Avivs gelegenen Nachbarschaft, die vor allem von jungen Künstlern, Studenten und Homosexuellen bewohnt wird. Hier sieht man keinen Unterschied zu einem gewöhnlichen Wochentag vor dem Krieg. Leute gehen spazieren, in Kaffeehäuser oder Restaurants. Die Besitzerin eines kleinen Second-Hand-Ladens macht sogar »das Geschäft meines Lebens. Ich glaube, jeder geht Stress-Shoppen, viele haben nichts zu tun, und dann kaufen sie ein, um unter Menschen zu kommen und abgelenkt zu sein.«
Doch natürlich machen auch viele Verluste; die meisten Kleinunternehmen wie Yoga-Studios, Fitness-Center, Restaurants, Friseure etc. haben geschlossen. Auch hier ist die Meinung der Israelis wie stets gespalten: Während sich Teile der Bevölkerung hauptsächlich zu Hause aufhalten oder vorübergehend zu ihren Familien gezogen sind, lebt ein anderer Teil der Bevölkerung, als wäre alles wie immer. Ganz nach dem typisch israelischen Motto: »Wir müssen heute leben, denn wir wissen nicht, was morgen kommt.«