Tariq Ramadan, Europas wohl bekanntester Islamist und Islamwissenschaftler, macht jetzt Rap – wenn man das unrhythmische Sprechen von politischer Prosa denn so nennen möchte.
Die frühere Karriere des Mannes, den das Time Magazine einst zu den „hundert wichtigsten Denkern“ zählte, hatte vor drei Jahren einen Knick bekommen: Nachdem immer mehr Frauen ihn wegen Vergewaltigung angezeigt hatten (mittlerweile sind es fünf), saß Ramadan von Februar bis November 2018 in Frankreich in Untersuchungshaft, wegen Fluchtgefahr.
Er wurde auf Kaution freigelassen, musste aber seinen Reisepass abgeben, darf Frankreich nicht verlassen und muss sich einmal in der Woche bei der Polizei melden. Die Universität Oxford beurlaubte Ramadan, und er muss sich weiterhin vor Gericht verantworten. Ramadan bestreitet die Vorwürfe gegen ihn, spricht von „einvernehmlichem Sex“ und hat gegen die Klägerinnen Anzeigen wegen Verleumdung erstattet.
Tariq Ramadan, geboren 1962, ist ein Enkel von Hassan al-Banna, dem Gründer der Muslimbruderschaft, und war von Geburt an Staatsbürger der Schweiz. Dort hatte sein aus Ägypten geflohener Vater, Said Ramadan, ein führender Agitator der Muslimbrüder, sich 1958 nach seinem Studium in Köln niedergelassen und das Islamische Zentrum sowie die Muslimische Weltliga gegründet, um von Genf aus die Ideologie der Muslimbruderschaft zu verbreiten und Islamisten in aller Welt zu unterstützen – ein Werk, dass Tariq und sein Bruder Hani nach dem Tod ihres Vaters im Jahr 1995 fortsetzten.
„Was glaubt ihr eigentlich?“
Am 29. Mai soll Tariq Ramadans erstes Rap-Album erscheinen, es trägt den Titel Traversée (Überfahrt, Überquerung). Eine Kostprobe gibt es bereits auf YouTube: ein achtminütiger Clip mit dem Titel Qu’est ce que vous croyez? – ungefähr zu übersetzen mit: „Was glaubt ihr eigentlich?“
Ramadans Rap – wenn man das unrhythmische Sprechen von politischer Prosa denn so nennen möchte – und das Video wirken relativ primitiv. An Beratern und technischer Unterstützung scheint es gefehlt zu haben; das große Geld der Muslimbruderschaft ist nicht mehr auf seiner Seite.
Am Anfang und am Ende des Videos ist das Cover des Albums zu sehen, dazwischen der Ausschnitt einer Weltkarte, mit Afrika im Mittelpunkt. Vor dem Hintergrund einer Instrumentaluntermalung spricht Ramadan den Text. Die Wörter erscheinen als Text im Bild. Der beginnt so:
„Ihr habt jahrhundertelang gestohlen und gelogen. Ihr wärt gekommen, sagt ihr, um uns zu zivilisieren. Ihr habt unsere Sprachen, unsere Kulturen, unsere Religionen verachtet, unsere Erinnerungen gedemütigt, unsere Traditionen beschmutzt. Aus den Herzen Afrikas, Asiens und des Südens erheben sich erwachte Stimmen, Winde der Menschheit. Sie erwarten keine Reue oder Mitleid. Sie fordern Wahrheit, Gerechtigkeit und Würde.“
Während die Literaturwissenschaft bei fiktionalen Werken im Allgemeinen Autor und Erzähler voneinander trennt, darf man im Falle Tariq Ramadans wohl mit Fug davon ausgehen, dass die in seinem Rap-Text geäußerten Ansichten seine eigenen sind und er sich selbst zu den „erwachten Stimmen“ rechnet.
Als vermeintlicher Repräsentant „Afrikas, Asiens und des Südens“, der seine Sprache, Kultur, Religion, Erinnerungen und Traditionen geschädigt sieht, verlangt er,der am Genfer See wohnende Schweizer, stellvertretend für jenen Teil der Menschheit, der keine Rapvideos produziert, Schadensersatz. Man kennt das Lied, möchte man ausrufen, wenn man den Refrain hört:
„Warten! Warten! Aber was glaubt ihr? Dass wir dort sitzen und zusehen, wie ihr unser Land, unseren Reichtum, unsere Mineralien plündert? Ihr lasst in Ruhe die Geschichte schreiben und kolonisieren? Während ihr unsere Kulturen, unsere Länder, unsere Kontinente, unsere Landschaften ebenso kolonisiert wie unsere Gedanken?“
Im selben Wir-ihr-Stil schimpft Ramadan:
„Globalisierung ist der Name, den ihr den Plünderungen gebt. Ihr möchtet den Schrecken eurer Herrschaft bekämpfen, indem ihr eure Bürger zur Liebe der Armen und zur Nächstenliebe aufruft. Ihr sprecht von Humanität, aber es ist Gerechtigkeit, die ihr verratet! Ihr habt diese Frauen und Männer entmenschlicht, geleugnet, ohne Namen, ohne Alter oder Charakter, die Armen, Verbannten, entwurzelten Wesen. Hier ertrinken sie, dort sperrt ihr sie ein.“
Nach mehrmaligem Wiederholen des zu langen Refrains droht Ramadan – der von den monatlich 35.000 Euro aus Katar, dem Erbe seines Vaters (einem Mitgründer der Offshore-Bank Al Taqwa, die Zweigstellen in der Schweiz, in Liechtenstein und auf den Bahamas hat), seinen Professorenbezügen sowie seinen Buch- und Vortragshonoraren sicherlich immer recht ordentlich leben konnte – sich „selbst zu bedienen“:
„Ihr habt die Wahl, wir haben sie nicht. Entweder ihr teilt oder wir bedienen uns selbst. Steht nicht in euren schönen Abhandlungen geschrieben, dass der Arme und der Hungrige kein Dieb ist?“
Von „Hoffnung“, „Liebe“ und „Freiheit“ ist die Rede. Kann Ramadan noch jemanden täuschen? Die zu täuschen, die getäuscht werden wollen, darin war er zeitlebens ein Meister. Das Time Magazine nannte ihn im Jahr 2000 einen „von sieben Innovatoren des 21. Jahrhunderts“. Das kann man immer noch auf Ramadans Website nachlesen.
Zu Gast beim Papst
Papst Benedikt XVI. empfing Tariq Ramadan 2008 im Vatikan. Im französischen Fernsehen diskutierte Ramadan im selben Jahr mit dem französischen Ministerpräsidenten Nicolas Sarkozy. Dabei saß Sarkozy auf einem Stuhl im Studio, während das Gesicht des zugeschalteten Ramadan auf zwei – schätzungsweise jeweils acht Quadratmeter großen –Leinwänden erschien. Geradezu sinnbildlich.
Ramadans Genfer Doktorarbeit über seinen Onkel al-Banna – der Hitler verehrte und eine Gesellschaft mit strikter Geschlechtertrennung anstrebte – war nach Ansicht einiger Leute, die sie gelesen haben, eine reine Lobhudelei, die zudem al-Bannas Werk durch falsche Übersetzungen (etwa „Aktivist“ statt „Soldat“) für den europäischen Geschmack die Schärfe nahm.
Nachdem sie beim ersten Versuch abgelehnt wurde, habe Ramadan mithilfe des Soziologieprofessors Jean Ziegler „ein intensives Lobbying in Gang“ gesetzt, „um eine zweite Jury für die Beurteilung der Doktorarbeit zu finden, welche dieser wohlgesinnter war“, schreibt der Ramadan-Biograf Ian Hamel. Schließlich sei die Doktorarbeit Aux sources du renouveau musulman. D’Al-Afghani à Hassan Al-Banna, un siècle de réformisme islamique [„An der Quelle des muslimischen Frühlings. Von Al-Afghani bis Hassan Al-Banna, ein Jahrhundert des islamischen Reformismus“] „ganz knapp angenommen“ worden.
„Der Autor erhielt nicht einmal die Erwähnung ‚sehr ehrenhaft’. In der universitären Sprache bedeutete dies, dass die Türen der Fakultäten in der Schweiz für Tariq Ramadan geschlossen blieben“, so Hamel. Aber dank des Doktortitels habe Ramadan „die kleine Welt der (Moral-) Prediger zugunsten einer prestigeträchtigeren verlassen“ können, schreibt Hamel – „jener der Intellektuellen“.
An der von der Muslimbruderschaft durchdrungenen Universität Oxford wurde Ramadan Professor für Islamwissenschaft. Manchen galt er gar als Prophet – „Prophet der Mäßigung“, nannte ihn ein amerikanischer Journalist 2007. Aber gemäßigt war Ramadan nie.
Hamel schreibt in seinem Buch „Tariq Ramadan – histoire d’une imposture“ [„Tariq Ramadan – Geschichte einer Täuschung“]:
„Bereits 1994 erklärte Tariq Ramadan in der Genfer Tageszeitung Le Courrier, wie ein Ehemann seine Frau zu schlagen habe. Im selben Jahr behauptete er in seinem ersten Buch „Muslime im Säkularismus“, dass der ‚Biologieunterricht Lehren enthalten kann, die nicht den Prinzipien des Islam entsprechen. Gleiches gilt auch für Geschichts- oder Philosophieunterricht.’
Später, 1999, bezog sich Tariq Ramadan als europäischer Muslim auf seinen Großvater Hassan al-Banna und Sayyid Qutb, einen der Hauptinspiratoren von al-Qaida und dem IS. Jugendfehler? Im Jahr 2003 schlug Tariq Ramadan im Gespräch mit Nicolas Sarkozy ein ‚Moratorium’ für die Steinigung vor.“
Sarkozy nämlich sprach davon, dass Tariq Ramadans Bruder Hani Ramadan – von dem noch die Rede sein wird – in seinen Büchern die Steinigung von Ehebrechern befürwortet, und forderte Tariq Ramadan auf, sich davon zu distanzieren. Daraufhin kam Tariq Ramadan auf die Idee eines Steinigungsmoratoriums, was also bedeuten würde, die Praxis für eine gewisse Zeit ruhen zu lassen, um sie dann später wieder aufzunehmen.
Terroranschläge sind „Interventionen“
Gegenüber Terrorismus verfuhr Ramadan nach der Devise: Wenn es Terrorismus ist, sind die Täter sicherlich keine Muslime, und wenn die Täter nachweislich Muslime sind, kann es kein Terrorismus sein.
So verurteilte er in einem Gastbeitrag für Le Monde, der am 2. Oktober 2001 erschien, zwar die Terroranschläge vom Elften September, bezweifelte aber, dass Osama bin-Laden oder irgendein Muslim etwas damit zu tun habe. Man müsse fragen: „Wer wird davon profitieren?“. Ramadan beantwortete die selbstgestellte Frage so: „Keine islamische oder arabische Sache wird daraus irgendeinen Vorteil ziehen.“
Dafür aber sicherlich George Bush, der nun als „Held“ dastehe und die Welt hinter sich vereine, und Ariel Sharon, der „die Situation ausnutzt“ und „Terror in den palästinensischen Gebieten“ verbreite. Als Bin-Laden sich später zu den Anschlägen vom Elften September und zu einer Reihe weiterer Massaker bekannte, konnte selbst Ramadan dessen Verantwortung nicht mehr leugnen; er sprach aber nicht von Terrorismus, sondern von „Interventionen“ bzw. Operationen:
„Sie werden für die Interventionen in New York, Bali oder Madrid keine nennenswerte Unterstützung finden, weder in den französischen Vorstädten noch in muslimischen Ländern. Man darf nicht den Widerstand im Irak oder Palästina mit den Pro-Bin-Laden-Operationen verwechseln.“ (Le Point, 22.4.2004)
Wenn also das Blut von Israelis, Amerikanern oder Irakern vergossen wurde, war dies für Tariq Ramadan legitimer „Widerstand“.
Sympathien für Mörder
In seiner Doktorarbeit bezeichnete Ramadan den Mord an dem ägyptischen Präsidenten Anwar Sadat – der Täter gehörte der Muslimbruderschaft an und hasste Sadat wegen dessen Friedenspolitik gegenüber Israel – als eine „Exekution“. Einer der Gutachter der Dissertation habe daran Anstoß genommen, schreibt die französische Feministin und Schriftstellerin Caroline Fourest in ihrem Buch „Brother Tariq. The Doublespeak of Tariq Ramadan“, „doch das Wort blieb unverändert“.
Der kaltblütige antisemitische Schlächter Mohamed Merah war für Ramadan ein „Opfer“. Nachdem Merah drei französische Soldaten, einen Rabbiner und drei jüdische Kinder ermordet hatte, schrieb Ramadan:
„Mohamed Merah erscheint als großer Jugendlicher, als hilfloses, verlorenes Kind, dessen Herz nach Meinung aller liebevoll ist, dessen Gedanken jedoch durcheinander, verstört und besonders inkohärent waren.”
Tariq Ramadan erklärte dann, dass „dieser arme Junge“ sicherlich „schuldig“ sei und „verurteilt werden“ müsse – fügte aber sofort hinzu: „Auch wenn er selbst das Opfer einer Gesellschaftsordnung war, die ihn, ihn und weitere Millionen, bereits zu Marginalität verurteilt hatte, um seinen Status als Bürger mit gleichen Rechten und Chancen nicht anzuerkennen.“
In Teil 2 der Artikels geht es u.a. darum, wie Tariq Ramadan ein begehrter Partner der Linken werden konnte.