Szenarien für die politische Krise in Tunesien 

Politische Krise in Tunesien: Präsident Saied bei einer Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates
Politische Krise in Tunesien: Präsident Saied bei einer Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates (© Imago Images / APAimages)

Die Verhaftung des Führers der der Muslimbruderschaft nahestehenden Ennahda-Bewegung, Rashid Ghannouchi, durch die tunesischen Behörden vor zehn Tagen ist ein Höhepunkt der politischen Krise des Landes.

Am 17. April nahmen die tunesischen Behörden Rashid Ghannouchi in seiner Wohnung in der tunesischen Hauptstadt fest und untersagten am folgenden Tag Versammlungen vor der Zentrale der von ihm geführten Ennahda-Bewegung. Zwei Tage später wurde nach einer mehr als achtstündigen Untersuchung ein Haftbefehl gegen Ghannouchi erlassen, wobei der Hauptanklagepunkt »Verschwörung gegen die innere Sicherheit des Staates« lautet.

Dieser Vorwurf steht im Zusammenhang mit einem Treffen der Oppositionsparteien, bei dem Ghannouchi über das »Bürgerkriegsszenario« in Tunesien sprach und sagte, es gebe »ein intellektuelles und ideologisches Hemmnis in Tunesien, das faktisch einen Bürgerkrieg begründet«. Die Vorstellungen von Tunesien »ohne diese oder jene Partei, ohne die Ennahda-Bewegung, ohne den politischen Islam, ohne die Linke«, zählte Ghannouchi unter Bezug auf die autoritären Anwandlungen von Präsident Kais Saied auf, »ohne eine dieser Komponenten ist Tunesien ein Bürgerkriegsprojekt«.

Die Anwältin des Ennahda-Führers Monia Bouali sagte zur Inhaftierung Ghannouchis, sie sei das Resultat einer »politischen und unfairen Entscheidung«: »Es war eine bereits geplante Entscheidung. Ghannouchi sitzt im Gefängnis, weil er seine Meinung geäußert hat.« Auf der anderen Seite des Spektrums zitierte die BBC einen Beamten des tunesischen Innenministeriums mit der Aussage, Ghannouchi sei zum Verhör gebracht und sein Haus auf Anweisung der Staatsanwaltschaft durchsucht worden, um »aufrührerische Äußerungen« zu untersuchen, die er getätigt habe.

Seit Juli 2021 befindet sich Tunesien in einer politischen Krise, nachdem Präsident Kais Saied beschlossen hatte, das damals von der Ennahda-Bewegung geführte Parlament einzufrieren, die Verfassung zu ändern und Parlamentswahlen abzuhalten, die eine bescheidene Wahlbeteiligung aufwiesen.

Höhepunkt des Konflikts

Die nunmehrige Verhaftung des Führers der Ennahda-Bewegung kann als Höhepunkt des Konflikts zwischen Kais Saied und dem politischen Islam angesehen werden, der mit der politischen Polarisierung zwischen dem Regime und der Opposition (insbesondere den Kräften des politischen Islams) zusammenfiel und ein noch nie dagewesenes Ausmaß erreichte, so ein Forschungspapier des Emirates Center for Studies.

In dem Papier werden drei Szenarien für die politische Lage nach der Inhaftierung Ghannouchis beschrieben, wobei das erste in der Möglichkeit einer Eskalation der Kampagne der Behörden gegen die Führer der Ennahda-Bewegung besteht, die zur Auflösung der mit der Muslimbruderschaft verbundenen Bewegung und zum Ende des organisierten politischen Islams im Land führen könnte. Diesem Szenario stehen jedoch Hindernisse entgegen, die mit den potenziellen Auswirkungen einer solchen Auflösung der Ennahda-Bewegung und – in weiterer Folge – der westlich orientierten Opposition auf die innere Sicherheit zusammenhängen und die Fähigkeit Tunesiens beeinträchtigen könnten, internationale Kredite zur Rettung seiner schwächelnden Wirtschaft zu erhalten.

Das zweite und wahrscheinlichere Szenario ist die Beibehaltung des aktuellen Status in der Konfrontation mit der Ennahda-Bewegung. Laut diesem Szenario könnten die Behörden einige Führer verhaften und Gerichtsverfahren gegen sie durchführen, ohne jedoch die Bewegung selbst aufzulösen. Vielmehr würden sie sich auf das Notstandsrecht stützen, um die Aktivitäten der Opposition zu behindern.

Das dritte Szenario besteht darin, dass die Regierung ihre Maßnahmen gegen die Bewegung zurücknimmt und die verhafteten Führer, darunter Ghannouchi, freilässt. Nach Ansicht des Emirates Center for Studies scheint der Eintritt dieses Szenarios jedoch unwahrscheinlich zu sein, zumindest auf kurze Sicht.

Andererseits wird in einer Analyse des Malcolm Kerr-Carnegie Middle East Center festgestellt, dass Ghannouchi und die Ennahda-Bewegung zwischen 2011 und 2021 zehn Jahre lang die Regierungskoalition in Tunesien anführten und eine Politik verfolgten, die den sozialen Unmut über die Korruption der politischen Klasse schürte und die Hoffnung auf einen sozialen und wirtschaftlichen Wandel zunichte machte. In der Analyse heißt es jedoch auch, die Verhaftung Ghannouchis stelle »eine erhebliche Eskalation dar, da sie die bestehende politische Sackgasse in Tunesien konsolidieren und den politischen Raum im Land weiter schrumpfen lassen wird«.

Tunesien steht also vor einer schwierigen politischen Polarisierung zwischen der Regierung und der Opposition – insbesondere dem politischen Islam –, gepaart mit einer kritischen Wirtschaftslage und der Notwendigkeit von Krediten zur Rettung des Landes. Diese Entwicklungen schränken das Handeln der Regierung in der nahen Zukunft ein und machen das Szenario eines »kontrollierten Zusammenstoßes« mit der Opposition wahrscheinlicher, indem sie deren Einfluss zwar beschränkt, zugleich aber einige politische Türen offenhält und ihr eine gewisse Freiheit bei ihren Aktivitäten lässt.

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