Eine internationale Organisation konstatierte im März in einer Studie den Ausbruch einer Hungersnot im nördlichen Gazastreifen, hat dabei aber ihre eigenen Standards nicht eingehalten, was die Schlussfolgerungen unzuverlässig macht.
Eine von der Times of Israel dokumentierte israelische Untersuchung ergab, dass die Schlussfolgerungen und Prognosen besagter Studie unzuverlässig seien. Die Überprüfung, die von den Vereinten Nationen, einigen Menschenrechtsorganisationen und sogar vom Internationalen Gerichtshof in der von Südafrika eingebrachten Völkermordklage gegen Israel zitierten worden war, durch das israelische Gesundheitsministerium ergab außerdem, dass bei den Prognosen für eine Hungersnot offenbar »konsequent versucht wurde, den erheblichen Rückgang der Kriegsintensität und einen erheblichen Anstieg der humanitären Anstrengungen und Hilfslieferungen zu ignorieren«.
Am 18. März veröffentlichte die Organisation Integrated Food Security Phase Classification (IPC) eine »Spezialkurzdarstellung« über die unsichere Ernährungslage im Gazastreifen, in der sie feststellte, dass Hunderttausende von Menschen bereits von einer Hungersnot betroffen seien und diese Zahl bis Juli auf über eine Million ansteigen werde, sollten die Feindseligkeiten nicht sofort eingestellt werden.
Die mit der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen verbundene IPC gilt als neutrale und glaubwürdige Organisation, wenn es um die Beurteilung geht, wo überall Hungersnöte auftreten könnten. So wurde ihre Einschätzung vom März über den Gazastreifen auch vom Internationalen Gerichtshof (IGH) in seinem Beschluss vom 28. März zustimmend zitiert und diente als Grundlage für die Anordnung an Israel, die Versorgung des Gazastreifens mit humanitärer Hilfe zu erhöhen. In seinem Beschluss vom 24. Mai erinnerte der IGH erneut an seine aufgrund der IPC-Einschätzung erlassene frühere Anordnung.
Eigene Standards nicht eingehalten
Die vom israelischen Gesundheitsministeriums durchgeführte und vom Außenministerium vergangene Woche veröffentlichte Überprüfung ergab jedoch erhebliche Mängel in der Methodik des IPC-Sonderberichts. Dabei wurde insbesondere festgestellt, dass die »Spezialkurzdarstellung« von den IPC-Standards und -Grundsätzen, wie sie von der Organisation selbst festgelegt wurden, abweicht.
So versäumte es der IPC-Bericht, der sich auf den Zeitraum vom 21. Dezember 2023 bis zum 10. März 2024 bezog, den Anstieg der humanitären Hilfe in diesem Zeitraum anzuerkennen; er zitierte wiederholt unzuverlässige und nicht repräsentative Umfragen unter den Bewohnern des Gazastreifens zu ihrem Stand der Ernährungssicherheit und er lieferte keine Statistiken zur Sterblichkeitsrate aufgrund von Unterernährung, wie sie bei einer Hungersnot zu erwarten wäre und es die IPC bei der Bewertung von Hungersnöten sonst praktiziert.
Außerdem sollen Daten über die physischen Erscheinungsformen der Unterernährung aus nicht offengelegten Quellen und auf nicht offengelegte Weise gesammelt worden sein. Positive Trends vor Ort wie der Rückzug der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) aus großen Teilen Nordgazas und die Abnahme der Intensität der Kampfhandlungen wurden bei der gemachten Prognose einer Verschärfung der Hungersnot hingegen ignoriert.
Der am 18. März veröffentlichte IPC-Bericht stellte fest, dass sich bereits 677.000 Menschen im Gazastreifen in der »Katastrophenphase 5« der Ernährungsunsicherheit befanden und prognostizierte einen Anstieg zwischen dem 16. März und dem 15. Juli auf 1.107.000. Der Bericht und die in ihm gemachten Prognosen berücksichtigen jedoch weder die Öffnung des Grenzübergangs Kerem Shalom im Dezember noch die daraufhin gestiegene Zahl der täglich in das Gebiet einfahrenden Lastwagen mit humanitärer Hilfe. Auch die Abwürfe von Nahrungsmitteln aus der Luft, die Öffnung der Güterübergänge in den von der Ernährungsunsicherheit am stärksten betroffenen nördlichen Gazastreifen oder die Eröffnung von zwanzig Bäckereien im gesamten Gazastreifen wurden nicht erwähnt.
Die Prognose für den nördlichen Gazastreifen und Gaza-Stadt basierte nicht nur auf der sich als falsch herausstellenden Annahme, dass der »Konflikt und die damit verbundenen Opferzahlen von März bis Juli wahrscheinlich auf einem ähnlichen Niveau wie im Januar/Februar 2024 liegen werden«, sondern auch auf der Hypothese, dass der nördliche Gazastreifen für humanitäre Hilfe »größtenteils unzugänglich und zeitweise schwierig zu erreichen« sein würde. Und dies, obwohl Israel zum Zeitpunkt des Berichts bereits daran arbeitete, den humanitären Zugang zu der Region zu verbessern. Seitdem wurden drei Güterübergänge zwischen Israel und dem nördlichen Gazastreifen geöffnet, wodurch sich die Versorgungskapazität weiter erhöht hat.
Es scheint wahrscheinlich, dass die Nichtberücksichtigung dieser Entwicklungen zu den düsteren Prognosen im IPC-Bericht vom März beigetragen hat, wie die Times of Israel die Erkenntnisse des israelischen Gesundheitsministerium festhält.
Mangelnde Repräsentativität
Ein weiteres, wesentliches methodisches Problem der IPC-»Spezialkurzdarstellung«, auf das durch den Prüfbericht des israelischen Gesundheitsministeriums hingewiesen wurde, ist die mangelnde Transparenz hinsichtlich der Zuverlässigkeit der zitierten Erhebungen. So stützt sich die IPC-Analyse der Situation im nördlichen Gazastreifen in hohem Maße auf eine Telefonumfrage des Welternährungsprogramms (WFP), die zwischen Dezember 2023 und Februar 2024 durchgeführt wurde und eine sehr kleine Stichprobe von nur 104 Befragungen umfasste.
»Der Umfrage zufolge haben die meisten Haushalte im gesamten Gazastreifen einen unzureichenden Nahrungsmittelverbrauch, wobei fast 88 Prozent der Haushalte im Norden des Gazastreifens einen unzureichenden Nahrungsmittelverbrauch meldeten (was auf die IPC-Phasen 4 und 5, Notfall und Katastrophe, hindeutet)«, heißt es in der Untersuchung, obwohl die Umfrage für solche allgemeinen Aussagen eine zu geringe Stichprobengröße hatte.
Auch die Feststellung, dass im Gouvernement Deir al-Balah nur ein halber Liter Trinkwasser pro Person und Tag zur Verfügung stehe, basierte auf einer Telefonumfrage in nur vierunddreißig Haushalten. Weiters heißt es, dass wegen der unzureichenden Nahrungsmittelversorgung »weit verbreiteter Gewichtsverlust, Krankheiten und Unterernährung vorherrschen«, doch stützt sich diese Behauptung auf Interviews, die das Welternährungsprogramm im Januar mit lediglich »acht Schlüsselinformanten« geführt hatte, wobei nicht öffentlich gemacht wurde, wer diese Informanten waren.
Ein weiterer wichtiger Aspekt des Spezialberichts war eine Datenanalyse zum mittleren Oberarmumfang (MUAC) bei Kindern, der als wichtiger physischer Indikator für Unterernährung gilt. Die IPC-Ergebnisse dazu basierten auf einer »vom Global Smart Team durchgeführten Neuanalyse« von Daten, die aus »verschiedenen« Quellen gesammelt worden seien. Allerdings »gibt es keinen überprüfbaren Hinweis auf diese ›Neuanalyse‹ und es ist auch nicht klar, ob die Rohdaten vom Gesundheitsministerium der Hamas oder aus anderen Quellen stammen«, heißt es dazu im Bericht des israelischen Gesundheitsministeriums.
Ein weiteres, vom israelischen Gesundheitsministerium festgestelltes Problem besteht darin, dass der IPC-Bericht festhält, seine »Analyse konnte sich nicht, wie in den IPC-Protokollen vorgesehen, auf repräsentative Beweise für die nicht durch ein Trauma induzierte Sterblichkeit stützen«. In der Zusammenfassung des Berichts heißt es dennoch, es gebe »einen Aufwärtstrend bei der nicht durch ein Trauma [wie Explosion oder Verschüttung; Anm. Mena-Watch] induzierten Sterblichkeit«, der sich voraussichtlich beschleunigen werde, »was dazu führt, dass alle Schwellenwerte für eine Hungersnot wahrscheinlich bald überschritten werden«.
In Anbetracht des von der Organisation selbst eingestandenen Fehlens von repräsentativen Daten zur nicht durch ein Trauma induzierten Sterblichkeit sei nicht bekannt, worauf die Feststellung einer steigenden Zahl solcher Todesfälle beruhe, hielt der Bericht des israelischen Gesundheitsministeriums fest.
Korrektur gefordert
Der Bericht des Gesundheitsministeriums fasst zusammen, viele der Unzulänglichkeiten des IPC-Berichts vom März hingen mit »dem systematischen und konsequenten Bestreben« zusammen, den deutlichen Rückgang der Kriegsintensität und die signifikante Zunahme der humanitären Bemühungen zwischen dem IPC-Bericht vom Dezember und jenem vom März zu ignorieren. »Jede Analyse oder Prognose, die diese Trends ignoriert, ist zutiefst irreführend«, hieß es in dem israelischen Bericht. Das Fehlen von Verweisen auf öffentlich zugängliche Quellen für die in der IPC-»Spezialdarstellung« zitierten Schlüsselzahlen und Studien mache nicht nur eine unabhängige Bewertung unmöglich, sondern sei auch »nicht mit den Anforderungen an Transparenz und Zugänglichkeit von Daten vereinbar, die im IPC-Handbuch definiert sind«.
Abschließend heißt es seitens des israelischen Gesundheitsministeriums, der voraussichtlich im Juni veröffentlichte nächste IPC-Bericht über den Gazastreifen »sollte die Wiederholung dieser Fehler vermeiden und eine Anerkennung und Korrektur der im vorangegangenen Bericht gemachten Fehler beinhalten«.