Neue Aktivitäten der Terrormiliz Islamischer Staat in Syrien zeigen, dass die Dschihadisten vom Machtvakuum profitieren, welches das zusammengebrochene Regime in Teilen des Landes hinterließ.
Anfang Dezember letzten Jahres – der Sturz des Assad-Regimes war bereits absehbar – berichteten die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) im Nordosten Syriens von neuen Aktivitäten des Islamischen Staates (IS). Die Terrororganisation habe die Kontrolle über große Teile der Wüste von Homs und Deir ez-Zor übernommen und zahlreiche strategische Positionen von den syrischen Regierungstruppen erobert.
Der IS entstand vor zwei Jahrzehnten während der US-Besatzung des Iraks. In seiner Hochzeit kontrollierte er ein Gebiet von der Größe Großbritanniens, das sich vom Irak bis nach Syrien erstreckte. Mithilfe der USA gelang es irakischen Streitkräften 2017, das IS-Kalifat im Irak zu zerschlagen. 2019 fiel mit Baghuz die letzte IS-Bastion in Syrien. Seit dem Zerfall des Kalifats bekämpfen die kurdischen SDF in Kooperation mit den USA die Reste des IS in Syrien.
Heute existiert die terroristische Miliz als ein loses Netzwerk von Gruppen mit einer fundamentalistisch-sunnitischen Ideologie. Er beansprucht die Autorität über alle Muslime und ist gelegentlich mit anderen extremistischen sunnitischen Gruppen, darunter den Taliban, aneinandergeraten.
Auch nach dem Ende des Kalifats verübten Sympathisanten des IS weiterhin Anschläge. Dass sich deren Aktivitäten nicht auf den Nahen Osten beschränken, verdeutlicht eine von der New York Times veröffentlichte Liste von Anschlägen, die in den letzten fünf Jahren vom IS inspiriert oder unterstützt wurden:
- Ein Doppelselbstmordattentat im Jahr 2020 auf den Philippinen, bei dem mindestens vierzehn Menschen getötet wurden.
- Mehrere Anschläge in Frankreich, darunter die Enthauptung eines Lehrers im Jahr 2020.
- Die Ermordung von vier Menschen durch einen Bewaffneten in der Wiener Innenstadt im Jahr 2020.
- Die tödliche Messerattacke auf einen britischen Parlamentarier im Jahr 2021, während dieser sich in einer Kirche mit Wählern traf.
- Ein Selbstmordattentat auf dem internationalen Flughafen in Kabul, bei dem im August 2021 13 US-Soldaten und etwa 170 Zivilisten getötet wurden.
- Die Ermordung von sechs Menschen in einem Supermarkt in Neuseeland im September 2021.
- Zwei Anschläge in Israel im März 2022, bei denen insgesamt sechs Menschen getötet wurden.
- Eine Massenerschießung in einer Moskauer Konzerthalle, bei der im März letzten Jahres 145 Menschen getötet und mehr als 500 verletzt wurden.
- Die tödlichen Schüsse auf sechs Menschen in der Nähe einer schiitischen Moschee in Oman im letzten Sommer.
- Ein vereitelter Bombenanschlag auf ein Taylor-Swift-Konzert in Österreich im Sommer 2024, der nach Ansicht der Behörden Hunderte von Menschen hätte töten können.
- Die tödliche Messerattacke auf drei Menschen bei einem Festival in Westdeutschland im August letzten Jahres.
- Anschläge in Afghanistan, der Demokratischen Republik Kongo, im Irak, in Niger, Pakistan und Syrien, bei denen insgesamt Hunderte von Menschen getötet wurden.
All diese Anschläge zeigen, dass die globale Reichweite der Gruppe nach wie vor atemberaubend ist. Das verdanken die Extremisten nicht zuletzt ihrer modernen Medienstrategie, wie die New York Times berichtete. Über Online-Videos, Social Media-Postings und wöchentliche Newsletter erreichen sie ein weltweites Publikum. Die Propaganda des IS verherrlicht einen rückwärtsgewandten Islam, demzufolge sich alle Muslime strengstens an die frühesten Lehren des Glaubens zu halten haben.
IS-Zukunft liegt in al-Hol
Als die SDF mithilfe der USA im Frühjahr 2019 mit Baghouz die letzte Bastion des Islamischen Staates in Syrien einnahmen, gerieten Tausende von IS-Kämpfern mit ihren Familien in Gefangenschaft. Diese leben seit damals in riesigen, von den SDF kontrollierten Gefangenenlagern. Eines davon ist al-Hol, wo Zehntausende Menschen – vorwiegend Frauen und Kinder, darunter viele aus dem Ausland – untergebracht sind. Aufgrund seiner Größe kann das Lager nicht vollständig kontrolliert werden, weshalb sich die Fraueneinheiten des SDF (YPG) nur auf punktuelle Sicherheitsoperationen beschränken.
Wie Al-Monitor berichtete, wurde bei einer dieser Razzien im Dezember vergangenen Jahres ein acht Monate altes Baby gefunden. Außerdem zahlreiche Kalaschnikow-Sturmgewehre, Handgranaten, Mobiltelefone und die Leiche einer Frau, die vor ihrer Hinrichtung gefoltert worden war. Bei dem Baby geht die YPG davon aus, dass es sich um das Ergebnis einer Verbindung zwischen einer IS-Frau und einem Teenager handle. Auf diese Weise werde versucht, eine neue Generation von IS-Sympathisanten im Camp heranzuziehen, der die Ideologie des IS von Kindesbeinen an eingeimpft wird.
Die Aktionen des IS nahmen bereits 2024 deutlich zu. Neben Angriffen auf die syrische Ölindustrie wurde auch das berüchtigte Erpressungsnetzwerk der Gruppe wieder aktiv, was ihr laut New York Times neue Finanzmittel verschaffte. Grund dafür war die Schwäche der Regimekräfte, die dem IS wenig entgegenzusetzen hatten. Aber auch der Abzug der russischen Wagner-Söldner aus Deir ez-Zor im Jahr 2023, die auf Befehl des Kremls an die Fronten in der Ukraine verlegt wurden, spielt eine Rolle.
Laut der von Al-Monitor zitierten YPG-Sprecherin kommt hinzu, dass durch den starken Anstieg der israelischen Luftangriffe gegen iranische Streitkräfte und vom Iran unterstützte Milizen in Syrien diese ihren Kampf gegen den IS abgebrochen hätten, was den Dschihadisten zusätzlichen Auftrieb gab. Das Vakuum, welches das gestürzte Regime in Teilen Syriens hinterließ, nutzt der IS nun, um sich wieder zu vergrößern.
Chaos-Profiteur
Eine schnelle Lösung des IS-Problems ist nicht in Sicht. Die neuen Machthaber in Damaskus sind zwar erklärte Gegner der Dschihadisten, sollten sie aber nicht in der Lage sein, das Land zu stabilisieren – sei es durch interne Spaltung oder äußere Einflüsse regionaler Akteure –, wird das daraus folgende Chaos der Terrorgruppe weiteren Auftrieb verschaffen. Auch ein überstürzter Rückzug der US-Streitkräfte aus dem Osten Syriens könnte dem IS zugutekommen. Wie US-Präsident Donald Trump kürzlich erklärte, sollten die Vereinigten Staaten mit der Zukunft Syriens »nichts zu tun haben«.
Das Erstarken des IS würde sich auch auf den benachbarten Irak auswirken, wo man sich bereits über neue Anschläge durch dessen Dschihadisten Sorgen macht, zumal ein Abzug der amerikanischen Streitkräfte aus dem Irak kurz bevorsteht.
Der IS mag zwar nicht mehr die territoriale Macht von einst besitzen, doch die jüngsten Entwicklungen im Nahen Osten zeigen, wie gefährlich unterschätzt diese Gruppe weiterhin bleibt. Die aktuellen Vorstöße und die Zahl der weltweiten Anschläge verdeutlichen, wie fragil die Fortschritte im Kampf gegen die Terrororganisation sind. Langfristig wird die Lösung des IS-Problems nur durch einen stabilen Nahen Osten möglich sein – ein Ziel, das weit entfernt scheint, solange regionale Machtkämpfe und internationale Rückzüge die Bühne dominieren.