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Syrien: Gewalteskalation in Latakia

Regierungstruppen in der syrischen Provinz Latakia. (© imago images/Xinhua)
Regierungstruppen in der syrischen Provinz Latakia. (© imago images/Xinhua)

In der Küstenprovinz Latakia ist es zu Hinrichtungen von Alawiten gekommen. Das bringt die Übergangsregierung in Zugzwang, die nun zeigen muss, wie ernst ihre Versuche sind, sich als gemäßigt darzustellen.

Begonnen hat die gewalttätige Eskalation in der syrischen Küstenprovinz Latakia am Donnerstag mit offenbar bestens vorbereiteten Angriffen von Anhängern des gestürzten Assad-Regimes, die zwar einige Monate gebraucht haben, um sich zu reorganisieren, in den letzten Tagen und Wochen aber deutlich darum bemüht waren, im alawitischen Kerngebiet einen Aufstand gegen die neue Regierung in Damaskus zu starten. Der Syrien-Experte Charles Lister spricht von mehr als 40 Angriffen auf Regierungstruppen in den vergangenen drei Wochen.

Immer wieder kam es anlässlich von Versuchen zur Festnahme ehemaliger Regimevertreter, von denen viele Alawiten sind und sich in der Küstenprovinz Latakia versteckt halten, zu mehr oder minder großen bewaffneten Auseinandersetzungen. Von Assad-Anhängern und ihren internationalen Unterstützern wurden diese Zusammenstöße stets als Angriffe auf »die Alawiten« dargestellt, um einen ethnisch-konfessionellen Krieg zu provozieren – ganz dem Drehbuch folgend, das einst im Irak nach dem Sturz Saddam Husseins umgesetzt wurde.

Die Attacken von Assad-treuen Aufständischen am Donnerstag waren allerdings von einer anderen Qualität, die Folge waren heftige, teils mehrere Stunden andauernde Kämpfe. Am Donnerstagabend sprach die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte bereits von rund 120 Toten.

Übergriffe und Hinrichtungen

Zahlreiche Truppen der Regierungsseite wurden daraufhin in die Provinz verlegt, um den Aufstandsversuch niederzuschlagen. Offenbar kam es an mehreren Orten zu Übergriffen und Hinrichtungen von alawitischen Männern. Verlässliche Zahlen gibt es dazu (Stand: später Samstagnachmittag) noch nicht, die Angaben aus verschiedenen Quellen unterscheiden sich teils erheblich.

Als die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte am Samstagvormittag von mehr als 340 Toten sprach, dürfte es sich um die Gesamtzahl an Toten der vergangenen drei Tage gehandelt haben, nicht ausschließlich um Opfer von Hinrichtungen. Was diese betrifft, berichtete die Beobachtungsstelle von »fünf schrecklichen Massakern, bei denen 162 Zivilisten ums Leben kamen«, wobei diese Angaben nicht verifizierbar waren. Andere Quellen sprechen laut Jerusalem Post von insgesamt 180 bis 200 Toten. Laut dem Institute for the Study of War ereigneten sich diese mutmaßlichen Verbrechen an Orten, an denen Aufständische zuvor Regierungskräfte attackiert hatten.

Währenddessen machen Videos von den Ereignissen die Runde, deren Authentizität aber nicht immer bestätigt werden kann. Oft ist auch nicht genau zu sagen, was in ihnen zu sehen ist, denn Bilder sprechen meist nicht für sich. Aufnahmen von Leichen geben keinen Aufschluss darüber, wer die Männer waren, ob es Zivilisten im eigentlichen Sinn waren (auch aufständische Assad-Anhänger agieren nicht in Uniformen), wann und wie sie getötet wurden und vor allem: wer für die Tötungen verantwortlich war.

Kein Interesse

Vor allem über den letzten Punkt gibt es zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur wenige gesicherte Informationen. Die Bezeichnung »Regierungstruppen« ist jedenfalls reichlich ungenau, da es im Post-Assad-Syrien keinen regulären Sicherheitsapparat gibt, noch immer zahlreiche bewaffnete Gruppen existieren und es an leicht verfügbaren Waffen keinen Mangel gibt.

Keine Hinweise gibt es darauf, dass Hinrichtungen alawitischer Zivilisten auf Befehl oder mit Befürwortung durch die Übergangsregierung erfolgt seien. Solche Schlagzeilen und Bilder sind vielmehr das Letzte, das diese in einer Zeit gebrauchen kann, in der sie um internationale Anerkennung und Unterstützung beim Wiederaufbau des Landes bemüht ist.

Entscheidend für die Zukunft wird sein, wie sich die Interimsregierung zu den begangenen Übergriffen und Hinrichtungen verhält. Präsident al-Sharaa hat angekündigt, dass die Regierung weiterhin gegen Aufständische vorgehen werden, aber auch betont, dass jeder hart bestraft werde, der Übergriffe gegen die Zivilbevölkerung begehe. Ob sie das wirklich tut und dazu überhaupt die nötige Autorität hat, wird sich weisen. Sowenig Assad in den letzten Jahren seines Regimes das Land wirklich wieder unter Kontrolle hatte, sowenig kontrollieren es heute al-Sharaa und die HTS-Milizen.

Am Samstag hat die Regierung Charles Lister zufolge die Militäroperationen in der Küstenprovinz eingestellt und die Absicht bekanntgegeben, Bewaffnete aus dem Gebiet zu entfernen, die nicht dem Verteidigungs- und Innenministerium unterstehen, was als Hinweis darauf verstanden werden kann, dass dort Einzelne oder Gruppen agiert haben, die nicht unter Kontrolle der Regierung standen.

Weiters wurden laut Lister zwei Gruppen festgenommen, denen anscheinend die Beteiligung an Übergriffen oder Verbrechen vorgeworfen werden. Das Verteidigungsministerium bestätigt die Festnahme von zumindest einer Gruppe von Männern, welche »die Anweisungen missachteten und Zivilisten angriffen«.

Währenddessen soll es weiterhin Angriffe von Pro-Assad-Aufständischen auf Regierungstruppen geben. Aus ihrer Sicht gibt es ja auch keinen Grund, jetzt zurückzustecken. Eine größere Schädigung der Legitimitär der Interimsregierung als die Ereigenisse der vergangenen drei Tage hätte es kaum geben können.

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