Von Avi Issacharoff
Die islamistische Terrorgruppe hat begriffen, dass die Übernahme der vollen Verantwortung für den Gazastreifen viel Ärger mit sich bringt. Sie schliesst daher lieber ein Einheits-Abkommen mit der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) und lässt diese die Drecksarbeit erledigen.
Es ist schwer, den Überblick zu behalten, so oft, wie die Hamas und die Fatah angeblich schon an der Schwelle zur Versöhnung standen. Und es ist nahezu unmöglich, den Überblick über die vielen Worte zu behalten, die von hochrangigen Vertretern beider Bewegungen in der palästinensischen Presse und den arabischen Medien über die Notwendigkeit von nationaler Versöhnung und von Einheit zwischen dem Gazastreifen und dem Westjordanland gesagt und geschrieben wurden.
Aktuell ist die palästinensische Einheit wieder in die Schlagzeilen zurückgekehrt. Eine riesige, 460 Teilnehmer zählende Delegation der Regierung der Palästinensischen Autonomiebehörde in Ramallah, angeführt von Premierminister Rami Hamdallah und bestehend aus Regierungsvertretern, Sicherheitspersonal und Experten für Wasser, Elektrizität und wer weiß wofür sonst noch, wird am Montag [2. Oktober 2017, Anm. Mena Watch] nach Gaza reisen, um symbolhaft die „Rückkehr der PA-Regierung in den Gazastreifen“ zu demonstrieren. Einige Delegationsmitglieder sind bereits am Donnerstag eingetroffen. Etwas mehr als zehn Jahre nach der Spaltung zwischen dem Westjordanland und dem Gazastreifen infolge des blutigen Umsturzes der dortigen PA-Regierung durch die Hamas, stehen wir nun angeblich vor einem historischen Moment der Einheit. Die Delegation, welche Zimmer in mehreren Hotels in Gaza angemietet hat, plant die Durchführung diverser Gespräche und Diskussionen, hauptsächlich fürs Protokoll und für die Kameras, um somit zumindest den Anschein der Versöhnung zu erwecken.
Irgendwie wird man das Gefühl eines Déjà-vu nicht los. Sahen wir nicht etwas ganz Ähnliches bereits im April 2014 in Form eines Versöhnungspakts und der Gründung einer „nationalen Konsens-Regierung“? Einheit ergab sich daraus jedoch nicht. Nachdem die „Konsens“-Regierung gegründet worden war, weigerte sich PA-Präsident Mahmoud Abbas strikt, die Gehälter der Hamas-Beamten im Gazastreifen zu finanzieren. Dann kamen die Entführung und Ermordung der drei israelischen Teenager und der Krieg zwischen der Hamas und Israel in Gestalt der Operation Protective Edge.
Inwiefern also ist die jetzige Situation anders? Möglicherweise ist sie es gar nicht. Die Einzelheiten der Vereinbarung zwischen den beiden Parteien sind bislang unklar. Es fällt schwer, sich vorzustellen, dass eine von beiden in grundsätzlichen Fragen – wie etwa der Beibehaltung der Bewaffnung der Hamas und der Frage, wer die Grenzen zum Gazastreifen kontrollieren wird – klein beigeben wird. Möglicherweise werden wir Zeugen einer weiteren Wiederholung des altbekannten Musters: Zuerst wird die Einheit gefeiert, dann gibt es Schwierigkeiten bei den Gesprächen und schließlich verbreitert sich die Kluft und die Rivalität zwischen den beiden Parteien wird noch größer.
Einige Dinge haben sich jedoch tatsächlich verändert.
Zunächst wurde in den vergangenen Monaten die Führung der Hamas ausgetauscht. Khaled Mashal und seine im Ausland lebende Führungsclique sind nicht länger an der Macht. Die Hamas wird jetzt von zwei Männern angeführt, die im Gazastreifen leben und in den dortigen Flüchtlingslagern geboren wurden: Ismail Haniyeh aus dem Flüchtlingslager Shati, der den politischen Flügel anführt, und der im Lager Khan Younis geborene Yahya Sinwar, der Kopf der Hamas im Gazastreifen. Haniyeh und Sinwar befürworten beide die palästinensische Einheit, auch wenn nicht ganz klar ist, was ihnen dabei vorschwebt. Sie reden permanent über deren Notwendigkeit und versuchten wiederholt, vertrauensbildende Maßnahmen gegenüber der Fatah und deren Führer Abbas zu ergreifen. Abbas seinerseits hat in den vergangenen Wochen mehrfach mit Haniyeh gesprochen; somit wurde ein Dialog eröffnet.
Auch die für die Sicherheitskräfte der jeweiligen Parteien verantwortlichen Regierungsvertreter führen Gespräche. Für den Anfang geht es dabei um die Koordinierung der Ankunft der sehr großen Fatah-Delegation. Offizielle Vertreter der Hamas haben die Auflösung des von ihnen im Gazastreifen gegründeten „Führungskomitees“ verkündet, welches die Regierung [des PA-Premiers] Hamdallah ersetzen sollte. Das Komitee wurde ohne Vorbedingungen aufgelöst, obwohl die Hamas in der Vergangenheit umfassende Bedingungen gestellt hatte, darunter insbesondere die Forderung zur Aufhebung der PA-Sanktionen über den Gazastreifen.
Ebenfalls berücksichtigen sollte man zwei am Donnerstag getätigte Aussagen von Sinwar, dem bis vor nicht allzu langer Zeit radikalsten Hamas-Führer, gegenüber einer Gruppe junger Leute in Gaza: „Ich werde jedem den Hals umdrehen, der gegen die Versöhnung ist, sei es aus der Hamas oder irgendeiner anderen Gruppierung“, erklärte Sinwar. „Die Entscheidung, die Spaltung zu beenden, ist eine strategische Entscheidung. Es gibt keinen Weg zurück.“
Weiterhin stellte er fest, dass Mohammed Deif – der Terror-Chef und Kommandant der Kassam-Brigaden – die Versöhnung befürworte. „Die Führer der Palästinensischen Autonomiebehörde müssen diese Ära der Spaltung beenden und sich der Zukunft zuwenden, um einen nationalen Plan zu erstellen“, stellte er fest. „Die Hamas wird schmerzhafte Zugeständnisse machen müssen, eines schwieriger als das vorherige, wenn sie die Versöhnung erreichen will.“ Die Krönung: „Die Hamas hat das Führungskomitee bereits aufgelöst, bevor Abu Mazen [Abbas] sich aufmachte, um vor der UN [Generalversammlung vergangene Woche] zu sprechen, weil die Hamas der Ansicht ist, dass ein starker Präsident im Interesse der Nation und der Palästinenser ist.“
Personelle Veränderungen
Sinwar sagte außerdem, die Hamas werde weiterhin eine umfassende Koordinierung mit den zahlreichen rivalisierenden Gruppen im Gazastreifen aufrechterhalten, und sie „hoffe, alle in die palästinensische National-Armee zu integrieren.“
Die personellen Veränderungen und der veränderte Tonfall in der Hamas-Führung stehen im Zusammenhang mit einer unbequemen Wahrheit für die islamistische Terrorgruppe: Die Hamas war gezwungen, das Scheitern ihrer Regierung auf ziviler Ebene – das Leben im Gazastreifen unter ihrer Herrschaft ist erbarmungslos hart – sowie die damit einhergehende Gefahr, dass die Bewohner des Gazastreifens sich gegen sie erheben werden, einzugestehen. Die Bereitschaft, das Führungskomitee ohne Vorbedingungen aufzulösen und die Schlüssel an Hamdallahs Regierung zu übergeben, soweit es um zivile Angelegenheiten geht, ist gleichbedeutend mit einem öffentlichen Eingeständnis des Scheiterns.
Die Hamas hat ein Jahrzehnt lang auf jede nur erdenkliche Weise versucht, die Kontrolle über den Gazastreifen aufrechtzuerhalten. Nun allerdings gibt sie eindeutige Zeichen für ihre Bereitschaft, den Weg frei zu machen, zumindest im zivilen Bereich. Die katastrophalen Stromversorgungsengpässe (die Bewohner des Gazastreifens werden nur fünf Stunden täglich mit Strom versorgt), die Abschaltung der Wasserversorgung (im Durchschnitt gibt es nur einmal alle vier Tage fließendes Wasser), die schwindelerregende Arbeitslosenquote (ungefähr 44 Prozent), der schleppende Wiederaufbau des Gazastreifens nach dem Konflikt mit Israel im Jahr 2014, die Schließung des Grenzübergangs zu Ägypten in Rafah – all dies hat dazu beigetragen, dass die Hamas, und in erster Linie Sinwar und Haniyeh, die Sache mit der Kontrolle über die Küstenenklave neu überdenken mussten.
Diese Entwicklung ist tatsächlich dramatisch. Denn die Hamas entstand aus der Muslimbruderschaft als angeblicher Beweis dafür, dass „der Islam die Antwort“ ist. Nun erkennt sie ihre Grenzen. Möglicherweise orientiert sie sich an der tunesischen Ennahdha-Bewegung, die klug genug war zu erkennen, dass sie nicht souverän sein oder die Regierung bilden könne und es ihr besser ginge, wenn sie in der Opposition sitzt. Vielleicht aber bevorzugt die Hamas auch das Beispiel aus dem Libanon: ähnlich der Hisbollah im Rahmen des Möglichen zu operieren.
Es ist eine einfache Idee, zumindest in der Theorie: Sie erlaubt der Palästinensischen Autonomiebehörde die laufenden Angelegenheiten im Gazastreifen zu regeln, sich um Strom- und Wasserversorgung, Abwässer, soziale Sicherheit, Arbeitslosigkeit etc. zu kümmern, während sie gleichzeitig dafür sorgt, dass der militärische Arm der Hamas auch weiterhin seine komplette Bewaffnung behält. Auf diese Weise bleibt die Hamas auch künftig das Kraftzentrum vor Ort im Gazastreifen, während die PA sich mit den lästigen, undankbaren Alltagsgeschäften beschäftigen muss. Bei aller Unterstützung der Einheit haben offizielle Hamas-Vertreter explizit darauf hingewiesen, dass sie nicht beabsichtigen, die „Waffen des Widerstands“ – exakt dieselbe Bezeichnung, die die Hisbollah im Libanon verwendet – aufzugeben.
Es gibt mehrere zentrale Streitpunkte, in denen sich die beiden Seiten potentiell einigen können. Das Problem der nach dem Putsch von 2007 eingestellten Regierungsbeamten der Hamas – ungefähr 45.000 Personen – kann gelöst werden. Wenn beide Seiten bereit sind, könnte dafür eine Lösung gefunden werden (möglicherweise entsprechend dem von einem Schweizer Diplomaten, der mehrfach den Gazastreifen besuchte, vorgeschlagenen „Schweizer Modell“). Nahezu 20.000 dieser Beamten sind Angehörige der zivilen Polizeitruppe, der zivilen Streitkräfte und der Verteidigungsagenturen, die geschaffen wurden, um den Schutz der persönlichen Sicherheit der Bewohner des Gazastreifens sicherzustellen. Die PA könnte sie für ihre offiziellen Behörden anheuern, auch wenn diese bereits jetzt aus allen Nähten zu platzen drohen.
Ein weiterer Faktor, den man in dieser Hinsicht im Hinterkopf behalten sollte, ist die Reaktion der Internationalen Gemeinschaft. Die Versöhnung mit der Hamas und eine Vereinbarung, gemäß derer die PA bereit ist, die Gehälter von, sagen wir einmal 16.000 bis 20.000 Angehörigen der Sicherheitskräfte, die bis vor Kurzem Hamas-Beamte waren, zu bezahlen, würde voraussichtlich zu Problemen beim Transfer von Beihilfen an die Palästinensische Autonomiebehörde führen. Die Verabschiedung des Taylor Force Act im US-Kongress – der die amerikanische Hilfe an die PA aufgrund der Zahlungen von Abbas an die Familien von Terroristen einschränkt – wird für Dezember erwartet. Dies ist möglicherweise einer der Faktoren, der Abbas antreibt, den Versöhnungsprozess zu beschleunigen.
Was passiert mit dem „militärischen Flügel“?
Was zudem gelöst werden könnte, ist das Problem der PA-Präsenz an den Grenzübergängen zum Gazastreifen. Ranghohe Hamas-Vertreter haben angedeutet, dass sie damit einverstanden wären, wenn die Sicherheitskräfte der PA die formale Kontrolle übernehmen und vielleicht sogar an der Grenze zu Israel und Ägypten stationiert würden. Dies hätte die permanente Öffnung des Grenzübergangs Rafah und eine unmittelbare Verbesserung der wirtschaftlichen Situation im Gazastreifen zur Folge. Eine derartige Maßnahme würde in Washington, und zum Teil auch in Israel, breite Unterstützung finden. Vor Kurzem sagte der Nahost-Abgesandte der USA, Jason Greenblatt – der sich in Begleitung von Generalmajor Yoav Mordechai, dem Koordinator der Regierungsaktivitäten in den palästinensischen Gebieten, befand – die PA müsse an die Grenzübergänge zurückkehren.
Die entscheidende Frage in der Einheit von Fatah und Hamas, die von Israel aufmerksam beobachtet wird – und die möglicherweise die Realisierbarkeit und Ernsthaftigkeit einer Versöhnungsvereinbarung bestimmen wird – ist die Frage, was mit dem militärischen Flügel der Hamas geschehen wird. Abbas ist sich durchaus bewusst, dass eine Vereinbarung, die den militärischen Arm der Hamas unangetastet lässt, ein Problem darstellen wird – für Israel, die internationale Gemeinschaft sowie seine eigenen Interessen –, und es ist schwer vorherzusagen, ob er einer solchen Vereinbarung zustimmen wird. In der Vergangenheit war die Entwaffnung der Hamas eine feste Vorbedingung Abbas‘ für jedes potentielle Einheitsabkommen.
Abbas ist außerdem dafür bekannt, dass er seinen Rivalen nicht so leicht vergibt. Ranghohe PA-Offizielle sagen, er habe keine Eile, sich im Gazastreifen in die Arme der Hamas zu stürzen. Es herrscht nach wie vor ein tiefgreifendes Misstrauen zwischen der Fatah und der Hamas und auch die Bewohner im Westjordanland und dem Gazastreifen haben ihre Ressentiments gegenüber beiden Gruppierungen. Dennoch mag das in den Meinungsumfragen unter der palästinensischen Bevölkerung im Westjordanland gespiegelte geringe Ansehen von Abbas einhergehend mit der Verzweiflung über mangelnde Fortschritte im Friedensprozess ihn möglicherweise dazu verleiten, den Kassam-Brigaden zu erlauben, ihre Waffen zu behalten.
Ein Hinweis dafür, dass es Abbas dieses Mal recht ernst mit der Einheit ist, ist die Tatsache, dass PA-Geheimdienstchef Majed Faraj, sein enger Vertrauter und Berater, die Delegation begleitet, die er in den Gazastreifen schickt. Faraj ist so etwas wie eine palästinensische Kombination aus Yitzhak Molcho, dem persönlichen Berater von Premierminister Benjamin Netanyahu, und Mossad-Chef Yossi Cohen. Faraj ist für seine unnachgiebige und kompromisslose Politik gegenüber der Hamas bekannt und wird den Versöhnungsprozess im Gazastreifen anführen.
In der finalen Auswertung wird Abbas genau wissen wollen, was die Hamas anbietet und es ist unwahrscheinlich, dass er überstürzt einer Vereinbarung zustimmen wird, bevor er weiss, wie der amerikanische Friedensplan aussieht. Wenn es also eine echte Versöhnung geben soll, dann wird dies ein schrittweiser Prozess sein, der sich erst nach monatelanger Debatte über die kleinsten Details zahlloser kontroverser Themen entwickeln wird. Und, wie wir alle wissen, liegt der Teufel im Detail.
Auf Englisch zuerst erschienen bei The Times of Israel.