Ein palästinensischer Journalist und Friedensaktivist verbrachte im Lauf seines Lebens viele Monate in Hamas-Gefängnissen im Gazastreifen, weil er versucht hatte, Brücken zu Israelis zu bauen.
Rami Aman
Am 6. Oktober 2023 kurz nach Mitternacht unterhielt ich mich mit meinem Freund Ramez über meine Pläne, Anfang November Gaza zu besuchen, um die Lizenzierung des Gaza Youth Committee mit der Palästinensischen Autonomiebehörde abzuschließen und gemeinsame Projekte zwischen Palästinensern im Gazastreifen, im Westjordanland und zwischen Palästinensern und Israelis umzusetzen.
Wir sprachen auch über die Fortsetzung unserer Initiativen zum Aufbau israelisch-palästinensischer Kommunikationsbrücken, zur Förderung des gegenseitigen Respekts und zur Fortsetzung unserer Arbeit am Aufbau einer neuen Generation palästinensischer Führungskräfte, die sich aktiv an der Entscheidungsfindung beteiligen und diese beeinflussen.
Während ich mit Ramez sprach, hörte ich im Hintergrund eine israelische Drohne summen, was mich dazu veranlasste zu sagen, dass ich ihr nerviges Geräusch vermisse, ein Geräusch, das mich an die Atmosphäre und die Kriege in Gaza erinnert. Wie üblich wachte ich am Morgen des 7. Oktober um acht Uhr früh auf.
Ich weiß nicht mehr, was mich dazu veranlasste, Facebook zu öffnen, was ich normalerweise um diese Uhrzeit nicht tue. Alles, was ich dann dort sehen und lesen konnte, waren Live-Übertragungen und zahlreiche Videos und Beiträge über Hamas-Kämpfer, welche die Grenze zu Land, zu Wasser und in der Luft stürmten, die in israelische Häuser, Armeeposten und auf das Areal eines Musikfestivals eindrangen, an dem Hunderte junger Menschen teilnahmen, die in der Folge gejagt, misshandelt und getötet wurden.
Was mich am meisten überraschte – und ich dachte zunächst, die Videos seien gefälscht –, waren die Szenen mit Leichen, um die herum sich Menschengruppen sammelten, sowie solche, in denen Zivilisten und israelische Soldaten angegriffen, geschlagen und entführt wurden. Hamas-Führer hielten Reden, stachelten die Menschen auf und vermittelten ihnen den Eindruck, nur noch wenige Minuten von Tel Aviv entfernt zu sein.
Vertraute Taktik
Als jemand aus Gaza, der mit der Ideologie der Hamas und dem Verhalten der israelischen Armee vertraut ist, wusste ich, dass diese Szenen bei den meisten Menschen im Gazastreifen tiefe Angst auslösen würde. Wir wissen, dass die Hamas weder unser Wohlergehen anstrebt noch jemals angestrebt hat, sondern bloß ihre eigenen Interessen, wobei sie uns alle als menschliche Schutzschilde benutzt.
Dies ist seit ihrem ersten Krieg mit den israelischen Streitkräften im Jahr 2009 der Fall, bei dem über 1.400 Palästinenser getötet wurden und den die Hamas als siegreich bezeichnete. Ich beschloss damals, das Gaza Youth Committee zu gründen und verstand die Vision der Hamas seit dieser Zeit sehr gut. Was 2009 geschah, hat sie gemeinsam mit dem Palästinensischen Islamischen Dschihad dazu veranlasst, zwischen 2012 und 2022 mehrfach dieselbe Taktik anzuwenden.
In diesen Momenten am Morgen des 7. Oktobers war ich zutiefst besorgt um meine Freunde in der Nähe der Grenze, um das Schicksal von Roni Keidar, ihrem Ehemann und ihrer Familie, die ich in ihrem Zuhause besucht hatte, und auch um meine Freunde Eric Yellin, Julia Chaitin, Rosara, Liora, Adele, Avi, Orna, Robi, Mori, Rafi, Ruth, Jaber, Ayman, Vivian, Shayna und andere.
In den vergangenen zehn Jahren hatte ich viele Momente, Treffen, Initiativen und Anrufe mit meinen israelischen Freunden geteilt. Sie erkundigten sich immer nach mir und setzten sich mit meiner Familie in Verbindung, wenn ich wieder einmal in einem der Hamas-Gefängnisse war. Aber ich wusste, dass sie, versuchte ich einen von ihnen zu kontaktieren, denken könnten, ich hätte irgendetwas mit den Angriffen zu tun.
Viele Israelis glaubten bereits vor dem 7. Oktober, alle Bewohner des Gazastreifens würden die Hamas unterstützen. Also beschloss ich, ein wenig zu warten und für ihre Sicherheit zu beten und zu bitten. Ich wandte mich an meine enge Freundin, die Journalistin Eugenia, in Israel, um die Situation zu besprechen, wie gefährlich sie war, und um die in den sozialen Medien kursierenden Videos zu überprüfen.
Auch Eugenia hatte nicht viele Informationen. Ich schickte ihr Clips aus palästinensischen sozialen Medien und erzählte ihr, nur Stunden zuvor am Telefon den Lärm israelischer Drohnen gehört zu haben, die ganz Gaza überwachten und filmten, wie sie es seit 2003 ständig tun.
Dann begann ich, meine Schwestern, Freunde, Kollegen und Ramez in Gaza zu kontaktieren, und sie alle verstanden die Gefährlichkeit des Kommenden. Zum ersten Mal spürte ich den enormen Druck, als palästinensischer Friedensaktivist zu leben, da ich wusste, dass meine Familie, mein Zuhause und meine Freunde den Vergeltungsmaßnahmen der israelischen Armee ausgesetzt sein könnten, gingen sie gegen die Palästinenser vor.
Die ersten Kriegstage waren blutig. Im Laufe der Wochen startete ich über mein globales Netzwerk ein paar schnelle Initiativen im Gazastreifen, um Familien und Freunden zu helfen, und erhielt Nachrichten über Angriffe auf meine Freunde in Gaza. Die schlimmste Nachricht war der Tod der drei Kinder meines Freundes Ramez Al-Souri, jenes Mannes, der 2018 an der Grenze zu Gaza neben mir stand und Tauben mit friedlichen Botschaften in die Luft steigen ließ.
Ramez suchte als Christ gemeinsam mit seiner Familie in der griechisch-orthodoxen Kirche Schutz, welche aber von israelischen Flugzeugen bombardiert wurde, wobei mehr als fünfzehn Menschen getötet wurden, darunter meine Freunde Abdel Nour und Tareq, die ich zwei Monate zuvor in Kairo kennengelernt hatte. Ramez Al-Souri hatte mir von seinen Plänen erzählt, sich mit seiner Frau und den beiden Töchtern in Ägypten niederzulassen, weil er unter der Hamas litt, aber sie alle wurden bei diesem israelischen Angriff getötet, was sich wie ein persönlicher Schlag anfühlte.
Ich erfuhr auch, dass Hamas-Kämpfer meine Freundin Vivian Silver getötet hatten, eine israelische Friedensaktivistin, die ich gut kannte. Ich wusste, wie viel sie für Dutzende palästinensische Patienten, Kinder, Frauen und Studenten getan hatte, indem sie finanzielle, medizinische und psychologische Unterstützung leistete. Sie hatte den Palästinensern mehr geholfen als die Hamas es je getan hatte.
Anders als andere Palästinenser
Als der Krieg eskalierte, forderten viele Israelis Rache an den Bewohnern der Küstenenklave. Selbst angebliche Freunde von mir, die in Friedensorganisationen arbeiten und behaupten, mit ihren Projekten den Frieden zu fördern, stachelten mich und andere zu Gewalt an. Einige verfluchten mich sogar in Nachrichten und Kommentaren und fragten mich sarkastisch, ob ich die Handlungen der Hamas verurteile. Diese Frage empfand ich als Beleidigung meiner Person und meines Lebens, insbesondere da ich viele Monate, ja, Jahre in Hamas-Gefängnissen verbracht habe, weil ich mich geäußert und Israelis vor Ort in Gaza verteidigt habe.
Ich bin nicht wie andere, die nur von außerhalb Gazas sprechen. Ich hatte Proteste und sogar eine Bewegung gegen die Hamas organisiert und wurde von Hamas-Vernehmern physisch, psychisch und emotional gefoltert, weil ich meine israelischen Freunde verteidigte und mich im Gazastreifen selbst kontinuierlich gegen die Hamas aussprach. Ich bin nicht wie andere Palästinenser, die von der Hamas verhaftet wurden und dann billige Deals machten, um aus dem Gefängnis zu kommen, nur um später mit Israelis Geschäfte zu machen, um mehr Geld und Spenden zu erhalten; und die vorgaben, die Hamas zu kritisieren, sobald sie außerhalb von Gaza waren, während sie ihre Gunst suchten, als sie noch vor Ort waren.
Ich weiß, dass ich eine große Anzahl von Palästinensern vertrete, und ich weiß genau, was sie wollen, durch Hunderte von Initiativen, Tausende von Treffen und Zehntausende von Begegnungen und Aktivitäten mit diversen Vertretern der palästinensischen Gesellschaft, darunter Frauen, Männer, Behinderte, Kranke, Kinder und Jugendliche im Gazastreifen in den letzten 25 Jahren.
Übrigens hat das Gaza Youth Committee, das ich mitgegründet habe, auch nach dem 7. Oktober nie aufgehört, seine Aktivitäten und Kontakte mit Israelis zu organisieren, und ich bin immer stolz darauf, echte israelische Friedenspartner zu haben, die an die Menschenrechte der Palästinenser glauben, und wir arbeiten zusammen, um eine gemeinsame Generation aufzubauen, die einander respektiert.
Oktober, November und Dezember 2023 waren für mich eine Zeit der Offenbarung, die das wahre Gesicht vieler Palästinenser und Israelis zeigte, insbesondere derer, die in Friedensorganisationen arbeiten, die den Frieden nur um persönlicher Beziehungen, Networking-Veranstaltungen und Abendessen willen fördern und Beziehungen auf Kosten der wahren Opfer – sowohl Israelis als auch Palästinenser – aufbauen, die seit Jahrzehnten unter diesem Krieg und Konflikt leiden.
Ein Jahr nach dem Beginn eines Kriegs, der mehr als 1.500 Israelis und rund 40.000 Palästinensern das Leben gekostet hat; bei dem immer noch mehr als hundert Israelis als Geiseln gehalten werden und zwei Millionen Menschen im Gazastreifen aus ihren Häusern flüchten musste; eines Kriegs, der auch auf den Libanon übergegriffen hat, kann jeder das nächste Opfer sein.
Es gibt im Gazastreifen niemanden, der nicht von den Ereignissen vom 7. Oktober betroffen ist. Ich habe, wie viele andere Palästinenser auch, durch die israelischen Bombenangriffe und persönliches Leid Angehörige, Verwandte, Familien, Freunde und Kinder verloren.
Keiner von ihnen war ein Kämpfer oder Terrorist; sie waren friedliche Menschen, die immer von einem besseren Leben träumten. Ich kannte sie gut, und von ihnen schöpfe ich meine Kraft und setze meinen Weg fort, indem ich versuche, Frieden zu verbreiten und Israelis und Palästinenser immer wieder dazu aufrufe, miteinander zu reden und die Brücken der Kommunikation zu erhalten, da sie der Schlüssel sind, um Hoffnung zu finden und ein besseres Leben für Israelis und Palästinenser überall zu schaffen.
Rami Aman ist palästinensischer Journalist, Friedensaktivist im Gazastreifen und Gründer des Gaza Youth Committee. Der Text erschien auf Englisch zuerst beim Jewish Indipendent. Übersetzung von Alexander Gruber.)