Das amerikanische FBI zeigt neuerliches Interesse an einem bislang nicht aufgeklärten Terroranschlag auf ein Passagierflugzeug in Panama im Jahr 1994 und untersucht aktiv, ob – wie seit Jahren vermutet – die libanesische Terrororganisation Hisbollah dafür verantwortlich ist. Das berichtet die auf die Analyse von Terrororganisationen und ihrer Strukturen spezialisierte amerikanische Forschungsgruppe The Investigative Project on Terrorism (IPT).
Bei dem Absturz von Alas-Chiricanas-Flug 901 am 19. Juli 1994 waren alle 21 Personen an Bord getötet worden, darunter zwölf jüdische Geschäftsleute. Bei dem Flugzeug handelte es sich um eine Turboprop-Maschine des Typs Embraer EMB 110, ein kleines Flugzeug, das von Fluggesellschaften für wenig frequentierte Kurzstreckenflüge eingesetzt wird. Es war von Colón nach Panama City unterwegs. In der 70.000-Einwohner-Stadt Colón gibt es seit 1890 eine jüdische Gemeinde.
Kurz nachdem es um 16:30 Uhr Ortszeit gestartet war, stürzte das Flugzeug ab. Der gerade zum Präsidenten Panamas gewählte Ernesto Perez Balladares sagte seinerzeit, es habe den „Anschein“, als sei in der Kabine eine Bombe explodiert.
Nur einen Tag zuvor war ein LKW-Bombenanschlag auf das Jüdische Gemeindezentrum in Buenos Aires (AMIA) verübt und dieses völlig zerstört worden; 87 Menschen wurden dabei getötet, über hundert weitere verletzt. Als Sprengstoff wurde eine Mischung aus Ammoniumnitrat – allgemein bekannt durch die verheerende Explosion in Beirut am 4. August 2020 – und Heizöl verwendet.
Nismans Ermittlung
Der argentinische Staatsanwalt Alberto Nisman führte zehn Jahre lang Ermittlungen, um die Anschläge aufzuklären und die Urheber vor Gericht zu bringen. Er wurde am 18. Januar 2015 von Unbekannten ermordet, nachdem er die argentinische Präsidentin Christina Fernández de Kirchner und andere Politiker beschuldigt hatte, aus Rücksicht auf den Iran die Aufklärung der Anschläge zu verhindern. Am 19. Januar 2015 hätte Nisman diese Vorwürfe einer Parlamentskommission vorstellen sollen.
Laut Nismans 675-seitiger Anklageschrift handelte der Selbstmordbomber Ibrahim Hussein Berro, der den Anschlag auf das AMIA verübte, auf Befehl aus dem Iran. Es war, so Nisman,
„eine Entscheidung, die ausführlich diskutiert und letztendlich im Einvernehmen der seinerzeit höchsten Vertreter der iranischen Regierung getroffen wurde, im Kontext einer Außenpolitik, die durchaus gewillt war, Gewalt anzuwenden, um die Ziele der … Islamischen Republik zu erreichen“.
Die Führer des Machtapparats hätten sich am 14. August 1993 in der iranischen Stadt Maschad getroffen. An dem Treffen hätten der geistliche Führer Ali Khamenei, Präsident Ali Akbar Rafsanjani, Außenminister Ali Akbar Velayati und Geheimdienstminister Ali Fallahijan teilgenommen, außerdem auch zwei Männer aus Lateinamerika: Mohsen Rabbani, der 1983 in Argentinien eingetroffen war und später iranischer Kulturattachée in Argentinien wurde, sowie Ahmad Reza Asghari, dritter Sekretär der iranischen Botschaft in Buenos Aires. „Beide Männer spielten Schlüsselrollen bei der geheimdienstlichen Infrastruktur, die die iranische Regierung in Buenos Aires unterhielt und ohne die eine Operation vom Ausmaß des AMIA-Anschlags nicht erfolgreich hätte durchgeführt werden können“, so die Anklageschrift.
Da die Vorgehensweise bei dem AMIA-Anschlag dieselbe war wie bei dem Anschlag auf die israelische Botschaft in Buenos Aires zwei Jahre zuvor, sei der Verdacht sofort auf die Hisbollah gefallen, schreibt Nisman. Er erwähnt, dass James Bernazzani, der beim FBI auf organisierte Kriminalität in Lateinamerika spezialisiert ist, die Handschrift der Hisbollah anhand von drei Punkten erkannte:
- Anschlag mit einer Autobombe
- Anschlag auf ein jüdisches Ziel
- Täter ein Selbstmordbomber
Die marxistische kolumbianische FARC, so Bernazzani, verübte zwar ebenfalls Anschläge mit Autobomben, aber niemals mit Selbstmordbombern.
Am 23. Juli 1994, so die Anklageschrift weiter, berichtete die libanesische Tageszeitung An-Nahar, dass in den libanesischen Städten Beirut und Sidon ein mimeographisch vervielfältigtes Bekennerschreiben einer Gruppe namens Ansar Allah verbreitet worden sei, in dem sich der Absender sowohl zu dem Anschlag auf das AMIA als auch auf Alas-Chiricanas-Flug 901 bekannte. Laut der Meinung von Bernazzani, der Nisman sich anschloss, war Ansar Allah ein fiktiver Name, den die Hisbollah „außerhalb der Gefechtszone“ benutzte.
Solche fiktiven Namen kennen wir von den Hisbollah-Anschlägen auf die Kasernen amerikanischer und französischer Soldaten im Libanon und die US-Botschaft in Beirut im Jahr 1983: Damals bekannte sich eine Gruppe namens „Islamischer Dschihad“ – ebenfalls ein Pseudonym der Hisbollah. Oder München 1972: Zu dem Massaker an den elf israelischen Leichtathleten und einem deutschen Polizisten bekannte sich an der Stelle von Jassir Arafats Fatah eine fiktive Gruppe namens „Schwarzer September“.
In seiner Anklageschrift setzte Nisman die Terroranschläge in Argentinien und Panama in Verbindung zu anderen mutmaßlich von der Hisbollah unternommenen Terroraktionen:
- den am 26. Juli 1994 verübten Autobombenanschläge auf die israelische Botschaft in London und das Londoner Balfour-Haus, dem Sitz einer jüdischen Wohlfahrtseinrichtung.
- einem vereitelten Anschlag auf die israelische Botschaft in Bangkok am 11. März 1994: Rund 200 Meter von der Botschaft entfernt stieß ein LKW an diesem Tag mit einem Motorradtaxi zusammen. Der LKW-Fahrer verübte zu Fuß Fahrerflucht. In einem 1.600 Liter großen Wassertank auf dem LKW fand die Polizei eine Woche später Zünder, C4-Plastiksprengstoff, Metallrohre und eine große Menge Düngemittel. Die Explosion hätte mehrere Wohnblocks zerstört, so die Ermittler.
Über den Anschlag auf Alas-Chiricanas-Flug 901 heißt es in Nismans Anklageschrift:
„Die Explosion sprengte ein Loch in den Rumpf und beeinträchtigte das rechte Triebwerk, wodurch die Kabine buchstäblich entzweigerissen wurde. Der erste Verdacht fiel auf einen libanesischen Staatsbürger, der als Lya Jamal identifiziert wurde. Die Tatsache, dass er genau an der Stelle saß, wo die Bombe explodierte, und der Zustand seines Körpers zeigten an, dass er direkten Kontakt mit der Bombe hatte. Außerdem wurde festgestellt, dass er falsche Pässe bei sich führte.“
Bald stellte sich heraus, dass „Lya Jamals“ wahrer Name Ali Hawa Jamal lautete. Zu ihm sucht das FBI Personen seither nach Informationen.
Neue Spur?
Dass das FBI wieder aktiv an dem Fall Alas-Chiricanas-Flug 901 arbeitet, nehmen die Analysten des IPTdeshalb an, weil in jüngster Zeit ein weiterer Fahndungsaufruf hinzugekommen ist: In Zusammenhang mit dem Anschlag wird ein 52-jähriger arabischer Fallschirmspringer namens Ali Hage Zaki Jalil gesucht.
Jalil, so heißt es in dem neuen Fahndungsaufruf, sei am Tag des Anschlags und am nächsten Tag an der Absturzstelle gewesen. Panamas Behörden verhafteten ihn fünf Monate später, weil er illegal 16 Mini-Mac-9-mm-Maschinenpistolen sowie Zünder, eine militärische Zündschnur (die der bei den Bombenangriffen verwendeten ähnlich war) und eine Einzahlungsbescheinigung über 500.000 US-Dollar von einer panamaischen Bank besaß.
Zeugen berichteten den Ermittlern, dass Jalil häufig Handfunkgeräte bei sich führte und benutzte, wie sie bei dem Leichnam des Tatverdächtigen im Flugzeug gefunden worden waren. „Jalils öffentliche Spur“, so das IPT, „endet nicht lange nach seiner Verhaftung in Panama im Oktober 1994. Haben die Behörden vor langer Zeit einen Hauptschuldigen durch die Finger gleiten lassen? Warum?“
Das Fahndungsplakat des FBI identifiziere ihn nur als eine Person „von Interesse“. Jalil soll mehrere Bars auf der venezolanischen Insel Margarita besitzen. Die Insel gilt als wichtiger Stützpunkt der Hisbollah, die sich auf die Unterstützung durch die venezolanische Regierung verlassen kann. Jalil soll kürzlich in Panama gewesen, dort 2018 eine Firma registriert haben, die im Fallschirmspringersport tätig ist, und kolumbianische und venezolanische Pässe haben, heißt es weiter.
Warum Jalil 26 Jahre nach seiner Verhaftung in Panama wieder in den Fokus gerückt sei, sei unbekannt, so die Autoren von IPT. Der Fahndungsaufruf sei Teil „laufender Ermittlungen”, bei denen Agenten „aktiv Hinweise verfolgen und Gespräche führen”, teilte der Sprecher des FBI in Miami, James Marshall, dem IPT mit. „Trotz der Zeit, die vergangen ist, glauben die Ermittler, dass Ali Hage Zaki Jalil Informationen zu dieser Untersuchung haben könnte“, schrieb Marshall. Mehr wollte er nicht sagen. Panamaische Beamte antworteten nicht auf eine Bitte um Stellungnahme.
Alas-Chiricanas-Flug 901 war im Mai 2018 auch Thema bei einem Staatsbesuch von Panamas Präsident Juan Carlos Varela. Nach seiner Rückkehr aus Jerusalem sagte Varela gegenüber Reportern, er werde Anweisung erteilen, die Ermittlungen wiederaufzunehmen, „angesichts von Geheimdienstberichten, die klar zeigen, dass es ein Terroranschlag war“. Daraus wurde allerdings nie etwas, und mittlerweile ist Varela auch nicht mehr Präsident.
Akute Bedrohung der jüdischen Gemeinden
Die Präsenz der Hisbollah in Lateinamerika ist seit zwei Jahrzehnten ein offenes Geheimnis. Seit dem Amtsantritt von US-Präsident Donald Trump – und mehr noch seit dem Amtsantritt von US-Außenminister Mike Pompeo im April 2018 – unternehmen die Staaten der Region erstmals koordinierte Schritte gegen das Terrornetzwerk, vor allem im Dreiländereck (TBA) Brasilien, Paraguay und Argentinien, das als Hochburg der Hisbollah gilt. So wurde im September 2018 Assad Ahmad Barakat, ein Geldbeschaffer der Hisbollah, in Brasilien an der Grenze zu Paraguay verhaftet.
Berichten zufolge hatten Barakat und 13 weitere Personen, die allesamt entweder in Paraguay oder Brasilien wohnen und auch keine Geschäfte in Argentinien betreiben, in den Jahren davor Hunderte Male von Brasilien aus zu Fuß die Ponte Tancredo Neves überquert, die den Grenzfluss Iguazú überspannt, hatten auf argentinischer Seite in der Stadt Puerto Iguazú das Casino Iguazú besucht, wo sie große Geldsummen in Chips und anschließend, nachdem sie einige kleinere Einsätze gemacht hatten, wieder zurück in Bargeld tauschten.
Weder darüber, mit wie viel Geld sie gekommen noch mit wie viel sie gegangen waren, mussten sie irgendwelche Angaben machen. Assad Barakats Cousin Hassan Ali soll auf diese Weise 620-mal Geld über die Grenze und zurückgebracht haben. Im August 2018 hatte die argentinische Polizei zahlreiche Casinos und Hotels in dem Ort durchsucht. Im Juli 2020 wurde Assad Barakat an Paraguay ausgeliefert, wo ihm nun der Prozess gemacht werden soll.
Auch auf Regierungsebene hat sich in den letzten Jahren einiges bewegt: Im Juli 2019 stufte Argentinien die Hisbollah als Terrororganisation ein. Im selben Monat jährte sich zum 25. Mal der Terroranschlag auf das AMIA. Aus diesem Anlass drängte Luis Almagro, der Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), die Mitgliedsländer, dem argentinischen Beispiel zu folgen. Vier Länder folgten dem Aufruf bislang: Paraguay (August 2019), Kolumbien (Januar 2020), Honduras (Januar 2020) und Guatemala (Oktober 2020).
Das ist wichtig, denn die Einstufung der Hisbollah als Terrororganisation ist die Voraussetzung dafür, dass die Behörden in Lateinamerika etwas zur Aufdeckung und Bekämpfung ihrer Strukturen unternehmen. Solange die Tätigkeit für die Hisbollah kein Verbrechen ist, wird man vielen ihrer Helfer keine Straftat nachweisen können und sie auch nicht mit nachrichtendienstlichen Mitteln überwachen; sie werden nach außen als gewöhnliche libanesische Geschäftsleute erscheinen, von denen es in Lateinamerika viele gibt.
David Djemal, Präsident der Antidiffamierungskommission der jüdischen Organisation B’nai B’rith Panama, erklärte letztes Jahr am 18. Juli bei einer Gedenkveranstaltung zum 25. Jahrestag des Terroranschlags auf Alas-Chiricanas-Flug 901:
„Es ist das erste Mal seit 25 Jahren, dass wir in Panama einen Gottesdienst und eine Gedenkveranstaltung abhalten. Wir wussten immer, dass es eine Bombe war. … Unsere Gefallenen sind nicht gestorben. Sie wurden getötet.“
Dass die Hisbollah in Lateinamerika weiter eine akute Bedrohung für die jüdischen Gemeinden ist, zeigt sich dieser Tage: Am Samstag, den 14. November, bestätigte die argentinische Regierung, dass sie die Kontrollen an der Grenze zu Paraguay verschärft hat, nachdem bei der argentinischen Botschaft in London ein anonymer Hinweis eingegangen war, dass es einen Bombenanschlag auf ein „jüdisches Ziel“ in Argentinien geben könne, der mit Ammoniumnitrat verübt werden soll, das „von einer Person aus der Republik Paraguay“ ins Land gebracht wird.