Das politische Schaufenster in Deutschland zeigt momentan ein störendes Symptom der Prioritätenverschiebung: Stadtbild statt Solidarität. Echte Anteilnahme am Leid auf der Welt zeigen Aktivisten nicht. Von Michaela Dudley.
Eigentlich ist die Diskussion längst überfällig. Dass Deutschlands Bundeskanzler Friedrich Merz mit seinem »Stadtbild«-Kommentar die Gemüter der Realitätsverweigerer erhitzt, versteht sich. Der Kommentar selbst ist auch verständlich, sogar nachvollziehbar: Das Stadtbild zahlreicher Orte in der Bundesrepublik ist tatsächlich durch einen Verfall entstellt, der nur noch wenig an das Land der Dichter und Denker zu seinen besten Zeiten erinnert.
Von Kiel bis Konstanz werden Litfaßsäulen und Wände mit roten Dreiecken und einschlägig antisemitischen Parolen besprüht. Was ist denn schön an Fußgängerzonen, die sich für Menschen mit Davidstern oder Kippa in Orte des Spießrutenlaufs verwandelt haben? Warum sind ganze Kieze zum Rückzugs- und Aufmarschgebiet für Randalierer geworden, welche die bundesrepublikanische Staatsräson mit Füßen treten? Und wie kann man die Regenbogenflagge angeblich solidarisch schwenken, wenn man andererseits die Gewalt, die aus queerfeindlichen Subkulturen kommt, mit einem Übermaß an Toleranz hinnimmt?
Diese Fragen zu stellen, ist nicht rassistisch, sondern realistisch. Es sind übrigens meine Fragen, die auf Grund eigener Feststellungen entstanden sind. Merz hat seine Bemerkungen verhältnismäßig weniger detailliert und weniger breitgefächert formuliert. Das ist eben auch Teil des Problems. Rückblickend kann man sogar parteiübergreifend Versäumnisse aufdecken, die zu dieser Situation beigetragen haben. Fakt ist jedoch: Es muss etwas unternommen werden.
Die Stunde der Beleidigten
Gerade in Anbetracht der Dringlichkeit der Lage hätte man hoffen müssen, dass sich nun eine dringend notwendige Mobilisierung der Zivilbevölkerung entwickelt. Doch stattdessen tritt eine Bewegung in Erscheinung, deren Hauptanspruch auf Ruhm darin besteht, sich beleidigt zu fühlen und diese Kränkung lautstark zu inszenieren.
»Wir sind die Töchter«, so heißt das Aktionsbündnis, das auf Merz’ Andeutungen über Kriminalität und misslungener Integration – »Fragen Sie mal Ihre Töchter!« – mit bühnenreifer Empörung antwortet. Der vollständige Name der Initiative sollte allerdings eher so lauten: »Wir sind die privilegierten weißen Töchter, die niemals nachts alleine über den Neuköllner Hermannplatz laufen müssen.« Denn es fällt nämlich auf, dass diese Töchter, ob Millennials oder Zoomer (aus der Generation Z), eher der Gattung der White Saviors zuzuordnen sind. Links, privilegiert und internetaffin.
Siehe Luisa Neubauer, Influencerin und Umweltaktivistin, sprich: Visionärin. Die 29-Jährige ist die treibende Kraft von »Wir sind die Töchter« und eine der fünfzig prominenten Frauen, die den »Stadtbild«-Brandbrief unterzeichnet haben. Neubauer weiß, wie man einen Flashmob, den flüchtigen Generalstreik der Gegenwart, aus dem Boden stampft.
Der Begriff »Boden« passt hier übrigens wunderbar, insofern die propalästinensische Bewegung nach dem Waffenstillstand in den Untergrund verschwand. Und ja, auf den bunt gemischten Demonstrationen von »Wir sind die Töchter« wird mitunter die Flagge Palästinas medienwirksam geschwenkt. Im Raster ihres von ca. 718.000 Followers gefolgten Instagram-Profils lässt Neubauer Sympathien dafür erkennen. Das Titelbild eines Videos zeigt stolz die Trägerin einer mit »Palestine« beschrifteten Jacke. Kann ja passieren, ist auch nicht verboten. Dennoch merkwürdig.
Wann gab es eine derartig große Solidaritätswelle weißer Wohlstandstöchter, als zwei Jahre lang Juden bedrängt und geschlagen wurden? Wie viele Karens in Kufiyas, die sich Feministinnen nennen, gingen hierzulande auf die Barrikaden, um die brutale Unterdrückung der Frauen in der Islamischen Republik Iran zu thematisieren? Und wo bleibt der Aufschrei gegen den systematischen Massenmord, den Islamisten an Christen in Nigeria begehen?
Als Ehrenamtliche betreue ich seit 2018 einzelne queere Geflüchtete, unter anderem aus den Palästinensergebieten. Jene aus dem Gazastreifen sind der Queerfeindlichkeit, der Misogynie und teils auch dem gegen Schwarze gerichteten Rassismus der Hamas nur knapp entkommen. Ausgerechnet diese Opfer, nämlich echte Queere aus Palästina und nicht die »Queers for Palestine«, werden hier in Europa von propalästinensischen Akteuren beschimpft und bedroht, weil sie »nicht mitziehen«. Auch diese Opfer fühlen sich vom heutigen Stadtbild bedroht.
Schwarz auf Weiß
Neubauer proklamierte jüngst: »Wir sind plusminus 40 Millionen Töchter in diesem Land. Wir haben ein aufrichtiges Interesse daran, dass man sich mit unserer Sicherheit beschäftigt. Worauf wir gar keinen Bock haben, ist, als Vorwand oder Rechtfertigung missbraucht zu werden für Aussagen, die unterm Strich einfach diskriminierend, rassistisch und umfassend verletzend waren.«
Aber wer benutzt hier eigentlich wen? Einerseits betonen die Töchter, sie seien antirassistisch und erklären sie sich dementsprechend solidarisch mit den angeblichen Millionen von verunglimpften Migranten. Doch andererseits erwecken sie nicht unbedingt den Eindruck, die Kritik vieler Schwarzer am weiß dominierten Aktivismus – Stichwort Bevormundung – auch nur im Ansatz verstanden zu haben. Bei der Triage der Tragödien haben wir scheinbar immer das Nachsehen, solange weiße Erretter am Werk sind.
Als Berlinerin mit afroamerikanischen Wurzeln kann ich bekräftigen, dass Schwarze sich für die Aufwertung des Stadtbildes interessieren müssen. Wohlbemerkt nicht lediglich in ästhetischer Hinsicht. Das heißt auch nicht, dass der strukturelle Rassismus kein Problem sei. Das Sterben junger Schwarzer in Brennpunktvierteln ist kein Hirngespinst, sondern bittere Realität.
Doch die »Betroffenheit« vieler Schwarzer macht sich leider oft erst dann bemerkbar, wenn das Kind schon im Brunnen oder wortwörtlich reglos auf dem Boden einer Gewahrsamszelle liegt. Aber wer passt auf den Weg dahin auf? Wer innerhalb der Community thematisiert die Zunahme von Drogenkonsum, die Verherrlichung durch Gangster-Rap, die toxische Maskulinität und die Selbstradikalisierung der Jugend?
Es greift zu kurz, die angeblichen oder auch tatsächlichen Vorurteile des bürgerlichen Milieus anzuprangern. Sich am Nasenring durch die Manege führen zu lassen, wenn White Saviors einen Einfall haben, ist nicht hilfreich. Was wir dringend brauchen, ist eine ehrliche Auseinandersetzung mit den rassistischen Vorurteilen, die auch im linken Milieu tief verwurzelt sind: dem Rassismus der geringen Erwartungen. Denn vermeintlich »progressive« Ansichten fördern faktisch die Verwahrlosung marginalisierter Kinder, indem sie in ihnen nur hilflose Opfer sehen und damit jegliche Notwendigkeit zu Selbstkritik und Prävention ausblenden. Die »Bewegung« entpuppt sich schließlich als Stagnation.






