„Als Erdoğan am späten Sonntagabend einmal mehr als parteiischer Präsident den Balkon betrat, war von seiner früheren anmaßenden Laune nichts mehr zu spüren. Seine Miene spiegelte die Bauchschmerzen wider, den Volksentscheid, den er mit 60 Prozent zu gewinnen gehofft hatte, mit Mühe und Not gerettet zu haben. Dass es sich dabei um einen Pyrrhussieg handelt, weiß er selbst am besten. Er hatte alle Neinsager als Terroristen bezichtigt; es muss ihm gehörig die Laune verdorben haben, zu sehen, dass das halbe Land aus ‚Terroristen‘ besteht, zu spüren, dass sie ihn beinahe gestürzt hätten, und zu wissen, dass er die Abstimmung nur gewann, weil die Wahlkommission im letzten Augenblick auch ungültige Stimmzettel zuließ. (…)
Mit der Meinung, die von einem repressiven Regime mit autoritärem Führer garantierte Stabilität sei besser als ein demokratisches Chaos ohne ihn, deshalb brauchten sie Erdoğan, standen die europäischen Finanzkreise aufseiten des Ja-Lagers. Einige europäische Regierungen hatten sich mit ihrem Schweigen dieser Auffassung angeschlossen und ignoriert, dass es noch eine andere Türkei über Erdoğan hinaus gibt.“ (Can Dündar: „Das Stockholm-Syndrom“)