Zum zehnten Mal ist es dem Parlament nicht gelungen, einen Präsidenten als Nachfolger von Michel Aoun zu wählen, dessen Amtszeit am 31. Oktober geendet hatte.
An der Parlamentssitzung am vergangenen Donnerstag zur Wahl eines neuen libanesischen Präsidenten nahmen 109 von 128 Abgeordneten teil, wobei sich die Stimmen sich wie folgt verteilten: Michel Moawad, der Kandidat der Partei Libanesische Kataeb, erhielt 38 Stimmen, während 37 Abgeordnete einen unausgefüllten Wahlzettel Abgaben. Die restlichen Stimmen verteilten sich auf verschiedene libanesische Persönlichkeiten, und andere Wahlzettel waren durchgestrichen.
Nach Artikel 49 der libanesischen Verfassung wird der Präsident der Republik im ersten Wahlgang mit einer Zweidrittelmehrheit, d.h. von 86 Abgeordneten, gewählt, und in den folgenden Sitzungen genügt die absolute Mehrheit. In keiner der zehn Sitzungsperioden seit September konnte jedoch ein zweiter Wahlgang abgehalten werden, da das erforderliche Quorum nie erreicht wurde.
Pattsituation
Die verschiedenen Parlamentsblöcke werfen der Hisbollah und ihren Verbündeten vor, die Präsidentenwahl zu behindern, indem sie im ersten Wahlgang leere Wahlzettel abgeben und sich dann zurückziehen, sodass das erforderliche Quorum für den zweiten Wahlgang nicht erreicht wird.
Der libanesische Ministerpräsident Najib Mikati erklärte nach dem neuerlichen Scheitern am vergangenen Donnerstag, dass »das Amt des Staatsoberhauptes noch immer unbesetzt ist, weil es Differenzen zwischen den verschiedenen Kräften und Parteien gibt«. In seiner Presseerklärung hieß es, dass » die Sorge um die Gegenwart und die Zukunft in allen Regionen« des Landes geteilt und »der Druck der sozialen Krise von allen Libanesen getragen” werde.
Der Strategieexperte Richar Dagher erklärt, der Libanonbefinde sich »noch immer in der Sackgasse, die wir in den vergangenen Sitzungen schon erlebt haben, die aufgrund des Gleichgewichts [der verschiedenen Fraktionen] im Parlament und der hohen Sperrklauseln zu keinem Ergebnis geführt haben«. Dagher betonte, dass »die Möglichkeit, zu einer einvernehmlichen Lösung zu gelangen, gering erscheint, obwohl es nicht unmöglich ist«. Dazu müssten Parteien allerdings »zu politischem Realismus zurückkehren, was die Präsidentschaftswahlen anbelangt«.
In Bezug auf die Frage, ob es dem Kandidaten der libanesischen Kataeb-Partei, Michel Moawad, doch noch gelingen könnte, gewählt zu werden sagte der libanesischen Experte Dagher: »Wir befinden uns exakt an derselben Stelle, wie zwei Monaten. Es gibt einen Block, der die Kandidatur von Moawad unterstützt, und einen anderen, der immer noch mit weißen Zetteln abstimmt – und es gibt ein Gleichgewicht zwischen den beiden Blöcken. Es ist nicht zu erwarten, dass sich an diesem Kräfteverhältnis etwas ändern wird.«
»Soziale Explosion
Das Parlamentsmitglied Qassem Hashem erklärte, das erneute Scheitern der Präsidentenwahl auch im zehnten Wahlgang sei zu erwarten gewesen. Angesichts der Kräfteverhältnisse und der gegenwärtigen Pattsituation, »die es keiner Partei erlaubt, ihren Kandidaten zum Präsidenten zu küren, kann es auch in der nächsten Sitzung keine anderen Ergebnisse geben.« Hashem befürchtet, dass die Parlamentskrise explosionsartig eskalieren und zu einer sozialen Krise werden könnte, »die die nationale Stabilität bedroht eine generelle Sicherheitskrise nach sich zieht. Das ist nicht mehr weit entfernt.«
Der Direktor des Allgemeinen Sicherheitsdienstes im Libanon, Generalmajor Abbas Ibrahim, warnte ebenfalls vor einer »sozialen Explosion« und einer Verschlechterung der Sicherheitslage im Libanon: Wenn nicht bald ein Präsident gewählt werde, werden »sich die Dinge werden zum Schlechten wenden. Die soziale Situation wird früher oder später explodieren«, meint Ibrahim.
Dass diese Warnung direkt von der Spitze des Sicherheitsapparats kommt, zeige, wie gefährlich die Lage sei, schrieb der libanesische Journalist Ghassan Jawad und präzisierte, der Allgemeine Sicherheitsapparat stehe in direktem und täglichem Kontakt mit den Menschen und könne daher »die soziale, sicherheitspolitische und politische Lage einschätzen. Er verfügt über Informationen die Gesellschaft und die soziale Realität betreffend, die es ihm erlauben, die Lage auf der Grundlage der ihm vorliegenden Daten und Zahlen« besser zu beurteilen als irgendjemand sonst, meinte Jawad abschließend.