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Hamas-Chef Sinwar: Blutvergießen in Gaza hilft der Hamas 

Poster mit Hamas-Chef Yahya Sinwar in Tel Aviv ruft Israelis zur Einigkeit im Kampf gegen Hamas auf
Poster mit Hamas-Chef Yahya Sinwar in Tel Aviv ruft Israelis zur Einigkeit im Kampf gegen Hamas auf (© Imago Images / ZUMA Wire)

Yahya Sinwars Korrespondenz mit Hamas-Funktionären in Doha und Waffenstillstandsvermittlern belegt seine Zuversicht, dass die Terrorgruppe gegen Israel bestehen kann.

In einem aktuellen Bericht schildert das Wall Street Journal (WSJ), wie der Hamas-Chef in Gaza, Yahya Sinwar, sich über Monate hinweg jedem Druck widersetzt hat, ein Waffenstillstands- und Geiselabkommen mit Israel abzuschließen. Er, Sinwar, gehe davon aus, dass weitere Kämpfe und weitere tote palästinensische Zivilisten zu seinem Vorteil wären. »Wir haben die Israelis genau da, wo wir sie haben wollen«, sagte Sinwar kürzlich in einer Botschaft an Hamas-Vertreter, die eine Vereinbarung mit katarischen und ägyptischen Vertretern aushandeln wollten. 

Sinwar halte sich bei seinem aktuellen Vorgehen an ein einfaches Schema, das den Großteil seines politischen Lebens geprägt habe und, einmal in die Enge getrieben, darin bestehe, einen Ausweg in der Gewalt zu suchen, analysierte das WSJ. Dutzende Nachrichten an Unterhändler bei den Waffenstillstandsverhandlungen, Hamas-Mitglieder außerhalb des Gazastreifens und an andere Adressaten beweisen Sinwars Missachtung von Menschenleben und verdeutlichen seine Überzeugung, Israel hätte durch den Krieg mehr zu verlieren als die Terrororganisation.

In einer Botschaft an die Hamas-Führer in Doha führte Sinwar – ähnlich wie das Politbüromitglied Osama Hamdan – die zivilen Verluste in nationalen Befreiungskriegen wie etwa in Algerien an, wo Hunderttausende im Kampf um die Unabhängigkeit von Frankreich starben, und erklärte: »Das sind notwendige Opfer.«

In einem Brief an den politischen Führer der Hamas, Ismail Haniyeh, datiert mit 11. April, also kurz nachdem drei von Haniyehs Söhnen bei einem israelischen Luftangriff getötet wurden, schrieb Sinwar, deren und der Tod anderer Palästinenser brächten »Leben in die Adern dieser Nation« und ließen sie »zu Ruhm und Ehre« aufsteigen. Bereits im November hatte sich Haniyeh in ähnlicher Weise über die zivilen Oper in Gaza geäußert, als er erklärte, »das Blut der Frauen, Kinder und älteren Menschen« rufe nicht um Hilfe, sondern werde von der Hamas gebraucht, »damit es in uns den revolutionären Geist, die Entschlossenheit und den Geist der Herausforderung erweckt und uns antreibt, vorwärts zu gehen«.

Krieg schadet Israel

Trotz aller Bemühungen Israels, den Terrorchef zu töten, ist Yahya Sinwar nicht nur noch immer am Leben, sondern steuert nach wie vor die Kriegsanstrengungen seiner Terrorgruppe mit dem ultimativen Ziel, einen dauerhaften Waffenstillstand zu erreichen, der es der Hamas ermöglicht, einen historischen Sieg über Israel zu erringen, um so die Führung der palästinensischen nationalen Sache zu beanspruchen.

Aber auch das Scheitern eines dauerhaften Waffenstillstands würde laut Sinwar ausschließlich Israel zum Nachteil gereichen, da es in diesem Fall kaum eine andere Wahl als die Besatzung des Gazastreifen hätte, die sich für Monate oder Jahre im Kampf gegen einen von der Hamas angeführten Aufstand verzetteln könnte. 

»Für Netanjahu wäre ein Sieg noch schlimmer als eine Niederlage«, weil dieser eine israelische Besetzung von mehr als zwei Millionen Palästinensern zur Folge hätte, behauptete Sinwar bereits im Jahr 2018 gegenüber einem für die israelische Tageszeitung Yedioth Ahronoth tätigen italienischen Journalisten. »Wir kommen nur mit Blut in die Schlagzeilen. Kein Blut, keine Nachrichten.«

Obwohl Sinwar die Anschläge vom 7. Oktober 2023 geplant und genehmigt hatte, zeigen frühe Nachrichten an die Unterhändler über eine Waffenruhe seine Überraschung über die Brutalität des bewaffneten Flügels der Hamas und anderer Palästinenser und mit welcher Leichtigkeit sie Gräueltaten an Zivilisten begingen. »Die Dinge gerieten außer Kontrolle«, formulierte Sinwar in einer seiner Botschaften und bezog sich dabei auf Banden, die israelische Frauen und Kinder in Geiselhaft nahmen, womit er den offiziellen Standpunkt der Hamas bezüglich der zivilen Opfern vom 7. Oktober 2023 wiedergab.

Die Hamas hätte keine Zivilisten getötet, log etwa auch deren Funktionär Ayman Shanaa Anfang November in einem Interview. »Die Al-Qassam-Brigaden rückten ein und es gibt Aufnahmen, die von ihnen veröffentlicht wurden, die zeigen, wie gut sie die Zivilisten in ihren Häusern behandelt haben«. Für die Hamas sei das Töten von Frauen und Kindern »haram«, also verboten. Was die Männer betreffe, seien diese »Besatzer meines Landes. Ich möchte mich nicht auf die Diskussion einlassen, wer ein Zivilist, wer ein Kämpfer ist, aber jeder, der mein Land besetzt, ist ein Kämpfer und kein Zivilist. Alle Siedler in der Region nahe Gaza sind bewaffnet, also sind sie alle Kämpfer.«

Falsch eingeschätzt

Zu Kriegsbeginn konzentrierte sich Sinwar darauf, die nach Gaza verschleppten Geiseln als Verhandlungsmasse zu nutzen, um eine israelische Bodenoperation im Küstenstreifen zu verzögern. So erklärte er kurz nach Beginn der israelischen Invasion, seine Organisation sei zu einem sofortigen Austausch der Geiseln gegen alle in Israel festgehaltenen palästinensischen Häftlinge bereit. 

Doch der Terrorchef hatte die Reaktion Israels auf den 7. Oktober falsch eingeschätzt: Prompt erklärte Premierminister Benjamin Netanjahu, Israel werde die Hamas zerstören und der einzige Weg zur Freilassung der Geiseln sei militärischer Druck.  

Aber auch die Unterstützung, die der Iran und die libanesische Hisbollah der Hamas zu bieten bereit waren, scheint Sinwar fehlinterpretiert zu haben: Als der in Katar residierende Hamas-Führer Ismail Haniyeh und sein Stellvertreter Saleh al-Arouri im November nach Teheran reisten, erklärte ihnen der iranische Oberste Führer Ayatollah Ali Khamenei, sein Land werde zwar die Hamas unterstützen, sich aber nicht in den Konflikt einmischen. »Sinwar wurde von ihnen zum Teil in die Irre geführt, zum anderen hat er sich selbst in die Irre geführt«, analysierte der israelische Kommentator Ehud Yaari, der Sinwar seit dessen Tagen im Gefängnis kennt. »Er war extrem enttäuscht.«

Im vergangenen November begann die politische Führung der Hamas, sich inoffiziell von Sinwar zu distanzieren: Er habe die Anschläge vom 7. Oktober gestartet, ohne sie zu informieren, so arabische Beamte. »Die politische Führung der Hamas glaubt, dass der Gazastreifen verloren sein könnte. Sie glaubt nicht, dass Sinwar und seine Leute der israelischen Offensive lange standhalten können, deshalb wollen sie jetzt einen Deal machen«, kommentierte Ehud Yaari im Dezember die damals stattfindenden Verhandlungen des Doha-Flügels von Haniyeh über die Bildung eines Bündnisses mit der Fatah. 

Sinwar bezeichnete diese Kehrtwende in einer Botschaft an die politischen Führer als »beschämend und empörend. Solange die Kämpfer noch stehen und wir den Krieg noch nicht verloren haben, sollten solche Kontakte sofort abgebrochen werden«, schäumte er. »Wir sind in der Lage, noch monatelang weiterzukämpfen.«

Wandel zugunsten Sinwar

Als Anfang Januar Saleh al-Arouri bei einem mutmaßlich israelischen Angriff in Beirut getötet wurde, habe Sinwar seine Kommunikationsweise zu ändern begonnen, so vom Wall Street Journal zitierte arabische Beamte, Pseudonyme benutzt und Nachrichten nur noch verschlüsselt und durch eigens ausgewählte, vertrauenswürdige Helfer übermittelt. Dennoch deuten seine Mitteilungen darauf hin, dass er zu spüren begann, dass sich die Dinge zugunsten der Hamas entwickelten. 

Als sich Ende Januar der militärische Vormarsch Israels zu einer zermürbenden und verlustreichen Schlacht in Sinwars Heimatstadt Khan Younis verlangsamt hatte, bemühten sich arabische Vermittler um eine Beschleunigung der Waffenstillstandsgespräche. Am 19. Februar setzte Israel der Hamas eine Frist bis zum rund einen Monat später beginnenden Ramadan, um die Geiseln frei zu lassen, oder sich einer Bodenoffensive in Rafah zu stellen, das von israelischen Beamten als die letzte Hochburg der Islamisten bezeichnet wurde. 

In einer Botschaft forderte Sinwar seine Kameraden die Führungsriege außerhalb des Gazastreifens auf, keine Zugeständnisse zu gewähren und stattdessen auf ein dauerhaftes Kriegsende zu drängen. Eine hohe Zahl ziviler Opfer würde weltweiten Druck auf Israel erzeugen, und »Israels Reise nach Rafah kein Spaziergang sein«, so Sinwar, der Doha versicherte, seine Truppen seien auf den israelischen Angriff gut vorbereitet.

Im Mai drohte Israel erneut mit einer Attacke auf Rafah, sollten keine Waffenstillstandsgespräche zustande kommen, was die Hamas jedoch als reine Verhandlungstaktik interpretierte. Premierminister Netanjahu erklärte damals den Vorstoß nach Rafah mit der Notwendigkeit der Zerstörung der dortigen militärischen Struktur der Hamas und der Unterbindung des Schmuggels aus Ägypten. Als Antwort töteten am 5. Mai Sinwars Truppen beim Kerem-Shalom-Übergang vier israelische Soldaten. 

Während Hamas-Funktionäre außerhalb des Gazastreifens sich ab diesem Zeitpunkt Sinwars zuversichtliche Haltung zu eigen machten, leitete Israel kurz darauf seine Rafah-Operation ein, die, wie Sinwar vorausgesagt hatte, mit einem hohen humanitären und diplomatischen Preis verbunden war. Seine jüngsten Botschaften hingegen lassen seine Bereitschaft, in den Kämpfen zu sterben, deutlich erkenen. So verglich der Hamas-Führer den Krieg gegen Israel mit der Schlacht von Kerbala im Irak im 7. Jahrhundert, bei welcher der Enkel des Propheten Mohammed getötet wurde: »Wir müssen auf demselben Weg weitergehen, den wir begonnen haben, oder es soll ein neues Kerbala werden.«

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