Simon Wiesenthal Center: Warnschuss für Berlins Bürgermeister

Von Alex Feuerherdt

Das Simon Wiesenthal Center erwägt, den Regierenden Bürgermeister von Berlin in seiner Auflistung der schlimmsten antisemitischen Ereignisse dieses Jahres zu erwähnen. Dafür erntet es heftige Kritik auch von Personen und Organisationen, die ihm sonst verbunden sind. Zu Unrecht, denn die Überlegung des Zentrums ist eine so gezielte wie berechtigte Warnung an einen alles andere als unwichtigen Politiker, der sich in Bezug auf den Antisemitismus oft einfach wegduckt.

Simon Wiesenthal Center: Warnschuss für Berlins BürgermeisterSeit 2010 veröffentlicht das Simon Wiesenthal Center (SWC) in Los Angeles am Ende jedes Jahres seine „Top Ten Worst Global Anti-Semitic/Anti-Israel Incidents“, also eine Rangliste der zehn aus Sicht des SWC weltweit schlimmsten antisemitischen und antiisraelischen Vorfälle des jeweiligen Jahres. Auch wenn diese Vorfälle oft mit konkreten Personen verbunden sind, ist die Liste eines nicht – selbst wenn das immer wieder behauptet wird: nämlich eine Top Ten der übelsten Antisemiten auf dem Planeten. Sonst würden sich Zusammensetzung und Reihenfolge auch nicht von Jahr zu Jahr so stark ändern, wie es stets der Fall ist. Es geht dem Zentrum vielmehr erkennbar vor allem darum, deutlich zu machen, welch bedrückend vielfältige Erscheinungs- und Ausdrucksformen der Antisemitismus hat; wo er überall zu Hause ist – politisch, geografisch, institutionell; wie enorm die Verheerungen sind, die er anrichtet; und wie dringend der Handlungsbedarf ist, der aus alledem resultiert.

So kommt es, dass nicht nur Mahmoud Abbas, Recep Tayyip Erdoğan, Mahmoud Ahmadinejad, Ali Khamenei, der Islamische Staat, die ungarische Jobbik-Partei, die ägyptische Muslimbruderschaft und die BDS-Bewegung – bei denen die Nominierung sofort einleuchtet – Aufnahme in eine der „Top Ten“ des SWC fanden. Sondern beispielsweise auch der deutsche Journalist Jakob Augstein, der brasilianische Karikaturist Carlos Latuff, der UN-Sonderberichterstatter Richard Falk und der Pink-Floyd-Mitbegründer Roger Waters: allesamt Musterbeispiele für Leute, deren Wirken von israelbezogenem Antisemitismus geprägt ist. Oder, aus dem gleichen Grund, solch vermeintlich honorige Einrichtungen wie die UNRWA und die Vereinigte Kirche von Kanada, sozialdemokratische Politiker wie Jeremy Corbyn und Björn Söder und die Schriftstellerin Alice Walker. Manchmal werden auch Orte und Einrichtungen aufgeführt, in denen der Antisemitismus besonders akut ist, etwa die Hochschulen in den USA, Sportstätten in Europa oder bestimmte Länder.

Die Zusammenstellungen des SWC sind weder wahllos noch undifferenziert, sie gehen keineswegs inflationär mit dem Verdikt des Antisemitismus um und höhlen nicht den Antisemitismusbegriff aus. Wer sich in ihnen wiederfindet, hat durch Äußerungen oder sein Verhalten mindestens wesentlich dazu beigetragen, dass der Hass gegen Juden im Allgemeinen und gegen den jüdischen Staat im Besonderen nicht geringer, sondern stärker wird. Selbstverständlich unterscheiden sich die aufgeführten Personen, Organisationen und Vorfälle in ihrer Bedeutung und hinsichtlich der Heftigkeit des Antisemitismus. Aber das Anliegen des Simon Wiesenthal Centers ist es auch nicht, ein Ranking entlang der machtbedingten Gefährlichkeit der Betreffenden zu erstellen, sondern vielmehr, plakativ zu verdeutlichen, wie beängstigend groß das Spektrum des Judenhasses weltweit ist und wie sich der massenkompatible Antisemitismus in den einzelnen politischen Lagern äußert, selbst bei vermeintlich unverdächtigen, seriösen Akteuren.

 

Hektische Reaktionen, reflexhafte Kritik

Simon Wiesenthal Center: Warnschuss für Berlins BürgermeisterDie „Top Ten Worst Global Anti-Semitic/Anti-Israel Incidents“ des Jahres 2017 stehen zwar – logischerweise – noch nicht fest, doch das SWC denkt schon einmal laut darüber nach, den Regierenden Bürgermeister von Berlin, Michael Müller, auf die Liste zu nehmen. Denn der Sozialdemokrat, so moniert es sein stellvertretender Leiter, Rabbi Abraham Cooper, unternehme als Oberhaupt der vielleicht wichtigsten europäischen Stadt nichts gegen die erstarkende antisemitische BDS-Bewegung. Ganz anders als seine Kollegen in den deutschen Großstädten München und Frankfurt, wo unlängst unmissverständlich beschlossen wurde, den Aktivisten dieses antiisraelischen Zusammenschlusses jeglichen öffentlichen Raum zu nehmen. Zudem, so das Zentrum, bleibe Müller untätig gegenüber dem alljährlichen Aufmarsch am „Al-Quds-Tag“ in der deutschen Hauptstadt, an dem vor allem islamistische Antisemiten, darunter Anhänger des iranischen Regimes und der Terrororganisation Hisbollah, die Vernichtung Israels fordern.

Die Erwägung des SWC hat in Berlin hektische Reaktionen und eine reflexhafte Kritik am Zentrum hervorgerufen, auch bei jenen, denen der Kampf gegen den Antisemitismus sonst ein Anliegen ist. Juliane Wetzel vom Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU Berlin etwa hält die Überlegung für „absurd“ und realitätsfremd. Die Jüdische Gemeinde fände eine Nominierung des Regierenden Bürgermeisters „unverhältnismäßig und falsch“. Die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIga) meint, die Begründung des SWC sei „an den Haaren herbeigezogen“. Reinhold Robbe und Dervis Hizarci, zwei KIgA-Vorstandsmitglieder, glauben zudem, vor einem „inflationären Umgang mit dem Antisemitismus-Begriff“ warnen zu müssen, und fordern in einer Presseerklärung, die „Postulierung des Berliner Regierenden Bürgermeisters zu einem der ‚zehn weltweit schlimmsten Antisemiten‘“ – die allerdings nachweislich überhaupt niemand erhoben hat – müsse „sofort und unmissverständlich zurückgenommen werden“.

Anetta Kahane, die Vorsitzende der Amadeu-Antonio-Stiftung, geht ebenfalls fälschlicherweise davon aus, dass es sich bei der „Top Ten“ um eine „Liste der zehn schlimmsten Antisemiten weltweit“ handelt, und ist der Ansicht, es sei „übertrieben“, Müller darauf zu setzen. Denn wer sich nicht von Antisemiten distanziere, sei deshalb „noch nicht unbedingt selbst einer“. Allerdings habe es der Regierende Bürgermeister in der Vergangenheit tatsächlich zu oft versäumt, sich klar gegen Antisemitismus auszusprechen. Es dürfe beispielsweise nicht sein, dass in Berlin „alljährlich ein antisemitischer Al-Quds-Marsch geduldet wird, der offen Juden den Tod und die Vernichtung Israels fordert“. Zudem, so Kahane, erlebten viele Juden alltäglich antisemitische Bedrohungen und gäben sich deshalb nicht mehr offen als Juden zu erkennen. Auch darauf habe Müller bisher nicht reagiert. Die mögliche Nominierung durch das SWC möge Müller deshalb als dringenden Appell und Chance verstehen: „In Zeiten des zunehmenden Antisemitismus sollte er sich jetzt von Gruppen und Personen distanzieren, die diesen unverhohlen äußern und auf die Straße tragen.“

 

Warum die Kritik am SWC falsch ist

Simon Wiesenthal Center: Warnschuss für Berlins BürgermeisterEs ist genau diese Duldung von antisemitischen Aktivitäten, derentwegen das SWC darüber nachdenkt, den Regierenden Bürgermeister einer bedeutenden Metropole in seiner diesjährigen Aufstellung der schlimmsten antisemitischen Vorfälle zu erwähnen. Zum kürzlich erfolgten Boykott des großen Berliner Musikfestivals Pop-Kultur durch eine Reihe von Bands, den die BDS-Bewegung anlässlich einer kleinen Geldspende der israelischen Botschaft gefordert hatte, äußerte sich zwar der Berliner Kultursenator Klaus Lederer kritisch. Von Müller dagegen war kein Wort zu hören, dabei hätte die Angelegenheit unbedingt Chefsache sein müssen. Auch zu den Al-Quds-Aufmärschen schweigt der SPD-Politiker stets – offenkundig, um eine Auseinandersetzung mit der muslimischen Community um jeden Preis zu vermeiden. Eine sträfliche, feige wirkende Passivität.

Die Jüdische Gemeinde – die nicht nur deshalb gute Gründe hätte, verärgert zu sein – nimmt Michael Müller dennoch gegen das Simon Wiesenthal Center in Schutz. Einige ihrer Mitglieder stellen sich sogar zusätzlich in der Öffentlichkeit dezidiert hinter den Regierenden Bürgermeister. Eine der wenigen, die das nicht tut, sondern die Überlegung des Zentrums begrüßt, ist die Schauspielerin und Sängerin Sandra Kreisler. Sie sagt: „Das SWC bemüht sich mit dieser alljährlichen Liste, Aufmerksamkeit gegenüber jenem Antisemitismus zu erreichen, der weitgehend unbemerkt die Hirne der Menschen langsam vergiftet. Dazu muss er sich just jene aussuchen, die entweder diese ‚Unbemerktheit‘ garantieren, zulassen, sanktionieren, oder jene, die (wie Augstein) nebenbei und wie selbstverständlich Lügen über Juden und Israel verbreiten und gestalten. Die Vordenker, die Zulasser, die Ignorierer. Insofern ist es absolut richtig, Michael Müller auszuwählen: Als Regierender Bürgermeister hätte er die Pflicht, Antisemitismus gegenüber aufmerksam zu sein, ihn stets zu benennen und zu unterbinden.“

Das sind klare und wahre Worte. Und es ist offensichtlich, warum das SWC sich schon jetzt, rund vier Monate vor der Veröffentlichung der diesjährigen „Top Ten“, zu einem möglichen Kandidaten äußert: Es ist eine Aufforderung, Klartext zu sprechen, konsequent zu handeln und falsche Rücksichtnahmen aufzugeben – gegenüber der BDS-Bewegung, gegenüber den Organisatoren und Teilnehmern des „Al-Quds-Tages“, gegenüber anderen antisemitischen Vereinigungen. Die Botschaft lautet: Tu endlich etwas, sonst bekommst du von uns die Quittung für dein ständiges Wegducken. Doch das Simon Wiesenthal Center wird in seinen Bestrebungen kaum unterstützt und sieht sich sogar der Kritik selbst von Organisationen ausgesetzt, die ihm normalerweise verbunden sind. Das ist unverständlich, falsch und kontraproduktiv.

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