Siedlungen im weltweiten Vergleich: Wenn Recht auf einem Auge blind ist, ist es kein Recht

Internationales Recht (Quelle: Pixabay)
Internationales Recht (Quelle: Pixabay)

Der internationale Vergleich zeigt: Gegen israelische Siedlungen wird ein Recht in Stellung gebracht, das nirgendwo sonst auf der Welt Anwendung findet.

Israelische Siedlungen sind ein Bruch internationalen Rechts – gebetsmühlenartig wird dieses Dogma wiederholt, seit US-Außenminister Mike Pompeo am 18. November erklärte, dass die Vereinigten Staaten genau das von nun an anders bewerten. Selten wird dabei ausgeführt, worin genau das „internationale Recht“ bestehen soll, gegen das Israel angeblich verstößt. Mit gutem Grund: Von internationalem Recht kann nicht gesprochen werden, wenn dieses Recht nur auf ein Land der Welt angewendet wird.

Die Vierte Genfer Konvention

Begründet wird der Vorwurf, israelische Siedlungen seien nach internationalem Recht illegal, in aller Regel unter Verweis auf die sogenannte IV. Genfer Konvention von 1949 (offiziell: „Genfer Abkommen über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten“). Darin ist in dem Abschnitt über „besetzte Gebiete“ in Art. 49(6) zu lesen:

„Die Besatzungsmacht darf nicht Teile ihrer eigenen Zivilbevölkerung in das von ihr besetzte Gebiet deportieren oder umsiedeln.“

Nicht zufällig weckt die Erwähnung von Deportationen oder Umsiedlungen Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg, an die von Deutschland betriebenen, massiven Bevölkerungsverschiebungen und an die Vernichtungspolitik gegenüber den europäischen Juden, denn genau diese Vorgänge hatten die Autoren vor Augen, als sie Art. 49(6) verfassten (sehen Sie dazu den autoritativen Kommentar des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes).

Dem unbefangenen Blick erschließt sich nicht, was der Passus mit den umstrittenen Siedlungen zu tun haben soll. Der israelische Staat siedelt niemanden um, und schon gar nicht „deportiert“ er Teile der eigenen Bevölkerung. Dass dieser Artikel, der eine Lehre der brutalen Deportationspolitik der Nazis war, ausgerechnet in Stellung gebracht wird, um Juden zu verbieten, sich freiwillig im Westjordanland niederzulassen, ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass hier politisch wie moralisch einiges schiefläuft.

Fragwürdige Erweiterungen

Um das Problem der zweifelhaften Anwendbarkeit von Art. 49(6) auf die israelischen Siedlungen zu umgehen, wurde dessen manifester Inhalt im Laufe der Jahre einfach erheblich erweitert. Der neuen Interpretation zufolge soll sich der israelische Staat nicht nur schuldig machen, wenn er „Umsiedlungen“ oder „Deportationen“ seiner eigenen Bevölkerung ins Westjordanland vornehme, sondern auch, wenn er den freiwilligen Umzug von Israelis bloß unterstütze.

Das war beispielsweise die Sichtweise des Internationalen Gerichtshofs in seinem Rechtsgutachten über die israelischen Sicherheitsanlagen an der Grenze zum Westjordanland aus dem Jahr 2004 (unter Ziffer 120). Der Gerichtshof legte allerdings weder eine rechtliche Begründung für diese Erweiterung vor, noch sind seine Rechtsgutachten verbindlich.

Auf ähnliche Weise erklärte das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs von 2008 in Art. 8(2)(b)(viii) „die unmittelbare oder mittelbare Überführung durch die Besatzungsmacht eines Teils ihrer eigenen Zivilbevölkerung in das von ihr besetzte Gebiet“ [Hrvg. F.M.] zu einem Kriegsverbrechen. In diesem Fall wurde die Erweiterung auf Druck der arabischen Staaten eingefügt, die damit explizit auf Israel abzielten. Geltendes Völkerrecht wurde auch daraus freilich nicht: Israel ist, wie die USA und einige andere Staaten, dem Statut des Internationalen Strafgerichtshof nicht beigetreten und daher an dessen Bestimmungen nicht gebunden.

Der Praxistest

Entgegen dem Eindruck, den die vielen Kritiker der neuen US-Politik im Hinblick auf den rechtlichen Status der Siedlungen erwecken wollen, sind die Anwendbarkeit und die Reichweite von Art. 49(6) der IV. Genfer Konvention nicht unumstritten: Gilt der Wortlaut von 1949, oder die in den Jahren danach hinzugefügte, erhebliche Erweiterung? Und folgt aus dem Passus, dass Israel völkerrechtlich dazu verpflichtet sei, die Siedlungen aufzugeben und deren Bewohner zurück ins eigene Land zu holen, wie ebenfalls vielfach behauptet wird?

Wie so oft in Fragen des Völkerrechts besteht ein möglicher Weg zur Klärung strittiger Punkte darin, gewissermaßen die Probe aufs Exempel zu machen, d.h. zu fragen, wie abseits des geschriebenen Wortes die wirkliche Praxis aussieht: Wie gestaltet sich der tatsächliche Umgang von Staaten, internationalen Organisationen und anderen Akteuren mit Siedlungen in besetzten Gebieten? Sind die Maßstäbe, die an Israel angelegt werden, dieselben Maßstäbe, nach denen andere derartige Situationen auf der Welt bewertet werden? Lässt sich aus dem internationalen Vergleich eine einheitliche Praxis ablesen?

Glücklicherweise gibt es genau diesen internationalen Vergleich bereits: „Unsettled: A Global Study of Settlements in Occupied Territories“ lautet der Titel einer vor zwei Jahren vorgelegten Studie. Darin vergleicht der Völkerrechtler Eugene Kontorovich alle seit der Verabschiedung der IV. Genfer Konvention 1949 aufgetretenen Fälle länger anhaltender Besatzungen, auf die Art. 49(6) ähnlich Anwendung finden müsste, wie im israelisch-palästinensischen Konflikt. Acht Schauplätze konnte er identifizieren: Ost-Timor, Westsahara, Nord-Zypern, den Libanon, Kambodscha, Bergkarabach, Abchasien und die Krim.

Schauen wir uns beispielhaft drei der weniger bekannten Fälle an, die von Kontorovich erörtert werden.

Ost-Timor

Ost-Timor war eine portugiesische Kolonie, die Mitte der 1970er Jahre in die Unabhängigkeit entlassen werden sollte, ein Vorgang, der von Indonesien unterbunden wurde, das 1975 in Ost-Timor einmarschierte und das Land 1976 annektierte. Auf internationalen Druck hin stimmte Indonesien 1999 der Abhaltung einem Referendum zu, in dem sich 78 Prozent für die Unabhängigkeit Ost-Timors aussprachen, die schließlich 2002 erlangt wurde.

In der Besatzungszeit betrieb Indonesien in Ost-Timor eine umfassende Siedlungspolitik, die zum einen die Bevölkerungskonzentration in bestimmten Teilen Indonesiens vermindern und zum anderen die ethnische Zusammensetzung Ost-Timors verändern sollte. Im Großen und Ganzen erfolgte die Einwanderung von Indonesiern in das besetzte Gebiet auf freiwilliger Basis, aber der Staat bot umfangreiche Anreize. In Anwerbebüros wurde gezielt Werbung für die Ansiedlung in Ost-Timor gemacht, die Neuankömmlinge erhielten kostenlos Land zugeteilt, darüber hinaus gab es finanzielle und andere Unterstützungsleistungen.

Wie viele Indonesier in das besetzte Gebiet von Ost-Timor zogen, ist nicht genau feststellbar, Schätzungen von Ende der 1990er Jahre sprachen aber von zwischen 160.000 und 180.000 Menschen, fast 20 Prozent der Gesamtbevölkerung Ost-Timors.

Auf dem Wege zur Unabhängigkeit verpflichtete sich Ost-Timor zum Schutz der während der Besatzung zugezogenen Indonesier. Das neue Nationalitätsgesetz erschwerte den Siedlern zwar den Zugang zur Staatsbürgerschaft, sie konnten bis auf wenige Ausnahmen aber im Land bleiben.

Obwohl die ehemalige Kolonialmacht Portugal und die sogenannte internationale Staatengemeinschaft die Besetzung und Annexion Ost-Timors verurteilten, thematisierten kein Staat und keine internationale Organisation die indonesische Siedlungspolitik als Verstoß gegen die Genfer Konvention. Zu keinem Zeitpunkt wurde Art. 49(6) bemüht, um eine Politik zu verurteilen, die klar auf die Veränderung der ethnischen Zusammensetzung des besetzten Gebietes abzielte. Im Zuge der Konfliktbeilegung wurde weder gefordert, dass die Siedler Ost-Timor verlassen müssten, noch wurde der indonesische Staat zur Zahlung von Entschädigungen verpflichtet.

Westsahara

Westsahara war bis Mitte der 1970er Jahre eine spanische Kolonie, die nach dem spanischen Rückzug 1976 von Marokko besetzt und zuerst in Kooperation mit Mauretanien, später aber alleine regiert wurde. Vom Einmarsch an bestand die marokkanische Politik darin, Westsahara zu „marokkanisieren“. Marokko unternahm im Land umfangreiche Infrastruktur- und andere Bauvorhaben; wirtschaftliche Anreize, darunter deutlich höhere Löhne, freies Wohnen und andere Unterstützungsmaßnahmen, lockten zahlreiche Marokkaner an. Diese Politik führte dazu, dass heute in Westsahara Schätzungen zufolge zwei Mal so viele Marokkaner leben wie gebürtige Sahrauis. Kontorovich fasst zusammen:

„Das marokkanische Siedlungsprogramm in Westsahara ist eines der am längsten andauernden, größten und ambitioniertesten der Welt. Es beinhaltete den Transport Hunderttausender Siedler durch ausgedehnte Wüsten und ihre Ansiedlung in einer schwierigen und feindlichen Umgebung unter enormen Kosten für die Besatzungsmacht.“

Intensive Bemühungen um ein Ende des Konflikts und der Besatzung sind bis heute gescheitert. Angesichts der massiven demographischen Veränderung, hervorgerufen durch die marokkanische Siedlungspolitik, ist fraglich geworden, wie eine Unabhängigkeit Westsaharas überhaupt noch aussehen könnte.

Trotz anhaltender internationaler Kritik an der marokkanischen Besatzung wurde die marokkanische Siedlungspolitik weder von Staaten noch von internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen verurteilt. Nie wurde Marokko unter Bezugnahme auf Art. 49(6) der IV. Genfer Konvention eines Bruchs des Völkerrechts beschuldigt. In den Bemühungen um eine Konfliktlösung wurde niemals der Abzug der marokkanischen Siedler gefordert.

Libanon

Im Jahr 1976 intervenierte Syrien in den Bürgerkrieg im Libanon, der bis 2005 unter syrischer militärischer Besatzung blieb. In dieser Zeit zogen Hunderttausende Syrer in den Zedernstaat, syrische Firmen kontrollierten wesentliche Zweige der libanesischen Wirtschaft und wurden bei staatlichen Auftragsvergaben bevorzugt. Syrische Siedler machten rund ein Drittel der Bevölkerung des Landes aus, die zahlreichen syrischen Arbeitskräfte machten viele Libanesen arbeitslos. Im Zuge des Rückzugs 2005 verließen etliche Syrer das Land, aber viele blieben im Libanon.

Die internationale Gemeinschaft verurteilte die syrische Besatzung, prangerte den Zuzug von Syrern aber genauso wenig an wie die international agierenden Menschenrechtsorganisationen. Zu keinem Zeitpunkt wurden Verstöße gegen das Völkerrecht nach Art. 49(6) der IV. Genfer Konventionen an den Pranger gestellt.

Gemeinsamkeiten der staatlichen Praxis

Die anderen von Kontorovich untersuchten Fälle fördern ganz ähnliche Befunde zutage wie die drei von mir beschriebenen. Hervorzuheben wären darunter noch die von Russland besetzten Gebiete Abchasien und die Halbinsel Krim: Obwohl vor allem die Besetzung der Krim international für scharfe Kritik sorgte und deshalb sogar Sanktionen gegen Russland verhängt wurden, ist die Siedlungspolitik in den russisch besetzten Gebieten international überhaupt kein Thema und von Art. 49(6) keine Rede.

Als Ergebnis von Kontorovichs Vergleich lassen sich aus der Staatenpraxis folgende Schlüsse ziehen:

  1. In allen Fällen einer länger andauernden Besatzung eines an die Besatzungsmacht angrenzenden Gebiets gibt es mehr oder minder umfangreiche Siedlungstätigkeiten, von denen manche tiefgreifende Auswirkungen auf die Demographie der besetzten Gebiete haben. Oftmals geht der Zustrom von neuen Siedlern Hand in Hand mit der Flucht oder Vertreibung zahlreicher Bewohner aus den besetzten Gebieten. (Die großen Ausnahmen diesbezüglich waren die vietnamesische Besatzung Kambodschas – und die israelische Besatzung des Westjordanlands.)

  2. In allen untersuchten Fällen ging die fast selbstverständliche Siedlungstätigkeit mit weitgehendem internationalem Schweigen einher. Außer den betroffenen Ländern selbst verurteilten weder Staaten noch internationale Organisationen die jeweilige Siedlungspolitik als Bruch des Völkerrechts, und in keinem Fall wurde auf einen Verstoß gegen Art. 49(6) der IV. Genfer Konvention verwiesen – nicht im Sinne einer engen Auslegung, in der es um „Umsiedlung“ und „Deportation“ geht, und schon gar nicht im Sinne einer weiter gefassten Auslegung, die schon die Ermöglichung oder Unterstützung des Zuzugs von Siedlern in das besetzte Gebiet als Kriegsverbrechen verurteilt.

    Eigentlich müsste Art. 49(6) umso öfter Anwendung finden, umso weiter er ausgelegt wird. In der realen Praxis der Staaten und internationalen Organisationen spielt er aber selbst bei weitester Auslegung praktisch keine Rolle.

  3. In keinem Fall forderte die internationale Staatengemeinschaft im Rahmen von Konfliktlösungsprozessen den Abzug der Siedlerbevölkerung aus dem besetzten Gebiet. (Das forderten höchstens betroffene Staaten, wie etwa Zypern im Falle der türkischen Siedler im türkisch besetzten Norden des Landes). Vielmehr wurde mehrfach explizit Sorge dafür getragen, dass die Siedler am Ort verbleiben und auch an der Zukunftsgestaltung des Landes mitwirken können.

Die große Ausnahme

All das steht in geradezu schreiendem Gegensatz zu der Art und Weise, wie Staaten, internationale Organisationen und andere Akteure sich im Fall der israelischen Siedlungen im Westjordanland positionieren: Hier wird ein Verhalten an den Tag gelegt wie buchstäblich nirgendwo sonst auf der Welt. Der Vergleich zwischen Israel und ähnlich gelagerten Schauplätzen zeigt in aller Klarheit, wie hohl die Berufung auf internationales Recht bei der Verurteilung israelischer Siedlungen ist.

Internationales Recht muss zwei Komponenten aufweisen: Es muss sich um Recht in dem Sinne handeln, dass Normen allgemeingültig festlegen, wie ähnlich gelagerte Fälle zu bewerten sind. Und es muss insofern international sein, als es nicht ausschließlich auf ein Land angewendet werden darf.

Anders gesagt: Wenn Regeln und Normen nicht konsistent auf verschiedene Fälle Anwendung finden, sondern auf einen einzigen Fall beschränkt bleiben, handelt es sich nicht um Recht. Dass diejenigen, die Israel aussondern und ausschließlich israelische Siedlungen anprangern, ausgerechnet das internationale Recht im Munde führen, ist nicht Ausdruck des Bemühens um die Einhaltung internationalen Rechts, sondern dessen Perversion.

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