Der krebskranke französisch-algerische Schriftsteller Boualem Sansal wurde in Algier wegen Verletzung der nationalen Einheit zu fünf Jahren Haft ohne Bewährung verurteilt.
Der französisch-algerische Schriftsteller Boualem Sansal wurde vom Strafgericht in Dar El Beida bei Algier zu einer Geldstrafe von ca. 3.500 Euro und fünf Jahren Haft ohne Bewährung und damit zur Hälfte der von der Staatsanwaltschaft geforderten Strafe verurteilt. Angeklagt war der als Kritiker des politischen Islams und der algerischen Behörden bekannte Sansal wegen Verletzung der nationalen Einheit, Beleidigung der Armee, Schädigung der nationalen Wirtschaft und Besitz von Videos und Veröffentlichungen, welche die nationale Sicherheit und Stabilität bedrohen.
Der normalerweise an seinem ikonischen Pferdeschwanz erkennbare Schriftsteller wurde (wie alle Häftlinge in Algerien) dem Gericht kahlrasiert vorgeführt und sah laut einem AFP-Korrespondenten trotz seiner Krebserkrankung den Umständen entsprechend fit aus.
Antisemitismus
Im Anschluss an die Verurteilung bezeichnete Sansals französischer Anwalt François Zimeray die Entscheidung als »Urteil, das die eigentliche Bedeutung des Wortes Gerechtigkeit verrät« und appellierte an den algerischen Präsidenten Abdelmadjid Tebboune, Sansal wegen dessen Krankheit zu begnadigen: »Sein Alter und sein Gesundheitszustand machen jeden Tag, den er im Gefängnis verbringt, noch unmenschlicher. Ich appelliere an den algerischen Präsidenten: Die Justiz hat versagt, lassen Sie wenigstens die Menschlichkeit siegen.«
Vor dem Prozesses war Zimeray ein Visum verweigert und der Zugang zu seinem Klienten untersagt worden, weil der Anwalt Jude ist und Sansal wegen einer früheren Lesereise nach Israel als zionistischer Agent behandelt wurde, wie Claus Leggewie im Perlentaucher schreibt.
Wie Mena-Watch bereits Ende Februar berichtete, »bekam der 80-jährige Sansal im Gefängnistrakt einer algerischen Klinik, in der seine Krebserkrankung behandelt wird, Besuch von einigen Männern, die ihm nachdrücklich zu verstehen gaben, sich einen anderen Anwalt zu suchen – und zwar einen Franzosen, ›der nicht jüdisch ist‹. Anders als Zimeray hätte solch einer vielleicht eine Chance, eine Einreisegenehmigung nach Algerien zu erhalten«, wurde Sansal damals mitgeteilt, der als Reaktion in einen Hungerstreik trat.
Bilaterale Spannungen
Bei dem Prozess am 20. März hatte der Staatsanwalt zehn Jahre Gefängnis ohne Bewährung und eine Geldstrafe von einer Million algerischer Dinar gefordert. Sansal wurde insbesondere vorgeworfen, in einem Interview die Position Marokkos übernommen zu haben, wonach sein Territorium während der französischen Kolonialzeit zugunsten Algeriens beschnitten worden sei.
Sansals Verhaftung am 16. November in Algier verschärfte die ohnehin schon starken bilateralen Spannungen, die im vergangenen Sommer durch eine Kehrtwende Frankreichs ausgelöst worden waren, als Paris einen Autonomieplan für die Westsahara unter marokkanischer Souveränität unterstützte. Die algerische Nachrichtenseite TSA schrieb, dass es bei dem Prozess »nicht nur um das Schicksal eines Mannes, sondern auch um die unmittelbare Zukunft der Beziehungen« zwischen Algerien und seinem ehemaligen Kolonialherrscher ging.
Der französische Präsident Emmanuel Macron wies die Anschuldigungen gegen Sansal als »nicht schwerwiegend« zurück, zeigte sich jedoch zuversichtlich, dass sein algerische Amtskollege Tebboune in dieser Angelegenheit »Weitsicht« beweisen werde. Macron forderte wiederholt die Freilassung des Schriftstellers und verwies dabei auch auf dessen durch die Krebserkrankung angegriffenen Gesundheitszustand. Nach der Verkündung des Strafrahmens gegen Sansal am gestrigen Donnerstag verurteilten französische Politiker aller Couleur die Entscheidung des algerischen Gerichts scharf.
Begnadigung?
Bei seinem Prozess letzte Woche sagte Sansal, er habe die möglichen Auswirkungen seiner Äußerungen über die Grenzen Algeriens zu Marokko nicht vorhergesehen. Er bestritt jegliche Absicht, Algerien schaden zu wollen; er habe lediglich im Namen der Meinungsfreiheit »eine Ansicht geäußert«, so die algerische Zeitung Echorouk.
Algerien hat die französische Rechte und die extreme Rechte für die Anheizung des Streits verantwortlich gemacht und argumentiert, dass die französische Diplomatie nun von Hardlinern geführt wird, die den regionalen Rivalen Marokko bevorzugen.
In einem offensichtlichen Versuch, die Spannungen zu entschärfen, sagte Tebboune in einem Interview am Samstag, der Fall sei »in guten Händen« und bezeichnete Macron als seinen »einzigen Bezugspunkt« für die Wiederherstellung der angespannten Beziehungen. Vor der Urteilsverkündung am Donnerstag spekulierte der Analyst Hasni Abidi, dass Sansal möglicherweise während der bevorstehenden muslimischen oder nationalen Feiertage vom Präsidenten begnadigt werden könnte.