Im Düsseldorfer Karneval wurde gegenüber Israel derselbe Lumpenpazifismus vertreten, der gegenüber Russland angeprangert wurde.
Thomas Stern
Der Düsseldorfer Rosenmontagsumzug ist bekannt für seine »Mottowagen«, die sich von jenen anderer Städte durch ihre besondere satirische Schärfe abheben. Gestaltet werden sie von Wagenbauer Jacques Tilly, dem wohl einzigen prominenten Vertreter seines Fachs.
Obwohl es sich damit also sozusagen um die einzigen »Autoren-Karnevalswagen« handelt, spiegeln sie in der Regel weniger einen individuellen Blick aufs Zeitgeschehen wider, sondern sind, ihrem populistischen Zweck entsprechend, eher Ausdruck eines kollektiven Bewusstseins. Es ist daher sinnvoll, sie als kulturethnografische Objekte zu betrachten, die Auskunft über die geistige Verfasstheit der deutschen Gesellschaft geben können.
Zwei Wagen
In diesem Jahr waren hier zwei Wagen besonders aufschlussreich, deren Gegenüberstellung einen zentralen Widerspruch offenbart.
Beim ersten handelte es sich um eine Satire auf den von Donald Trump betriebenen Umschwung in der amerikanischen Außenpolitik im Ukrainekrieg, der durch Konzessionswillen gegenüber Russland und erhöhten Druck auf die Ukraine gekennzeichnet ist. Dies wird als »Hitler-Stalin-Pakt 2.0« karikiert, bei dem die Ukraine in Gestalt Selenskyjs im Handschlag zwischen Trump und Putin blutig zermalmt wird.
Der zweite Wagen stellte einen Kommentar zum sogenannten Nahost-Konflikt dar. Hier war zu sehen, wie eine als »Gott (welcher auch immer)« gekennzeichnete Figur eine mit der palästinensischen Flagge und der Aufschrift »Palästinenser« versehene Figur auf der einen Seite und eine mit der israelischen Flagge und der Aufschrift »Juden« versehene (und physiognomisch als Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu identifizierbare) Figur auf der anderen Seite wütend an den Ohren zerrt und in die Luft hebt. Dazu war der Schriftzug »Und jetzt sucht endlich eine politische Lösung« zu lesen.
Ewiger Kreislauf
Bei der ARD-Übertragung des Umzugs gab es ein einordnendes Zitat von Jacques Tilly: »Hier sieht man, dass Gott […] den ewigen Kreislauf von Verbrechen und Vergeltung im Nahen Osten einfach nur noch satthat.« Und falls irgendjemand es danach immer noch nicht kapiert hatte, fügte die ARD ihre eigenen erklärenden Worte hinzu: »Es ist auch hier sehr sichtbar, dass die beiden Figuren hier auf einer Höhe sind, also der Palästinenser und auch der Jude.«
Somit werden sämtliche Klischees von »Gewaltspiralen«, Rachsucht und zwei gleichermaßen uneinsichtigen Seiten bemüht, welche die europäische Sicht auf den Konflikt seit jeher vernebeln und nach dem antisemitischen Gewaltexzess vom Oktober 2023 unangebrachter denn je erscheinen. Zwischen Angreifer und Angegriffenem wird nicht unterschieden; beide werden von der imaginierten höheren Instanz in gleichem Maß wie ungezogene Kinder zur Rechenschaft gezogen. Tilly macht Israel dabei zum Vorwurf, sich gegen seine Angreifer mit aller gebotenen Konsequenz zu verteidigen und mahnt es dringend zu einer diplomatischen Einigung – dass sich unter den Palästinensern auch die Hamas befindet, die gelobt, auch noch den letzten Juden weltweit ermorden zu wollen, fällt dabei selbstverständlich unter den Tisch.
Der Wagenbauer macht sich dabei dieselbe Art von fehl gerichteten Forderungen und Ermahnungen, von Appeasement-Einstellung und Täter-Opfer-Gleichsetzung zu eigen, die er bei Donald Trump im Kontext des Ukrainekriegs zu Recht kritisiert und gar, übers Ziel hinausschießend, mit einem Hitler-Stalin-Vergleich belegt (eine Analogie mit Chamberlain und dem Münchener Abkommen wäre in diesem Zusammenhang sicherlich passender gewesen).
Lumpenpazifismus
Dies illustriert ein interessantes Phänomen: Exakt jener Vulgärpazifismus, der die deutsche Gesellschaft so lange bestimmt hat, durch den Ukrainekrieg aber dankenswerterweise immer mehr in Misskredit geraten ist, darf immer noch, mehr oder weniger ungestört, die Deutungshoheit beanspruchen, wenn es um Israel geht. Sicherlich ist er auch im Kontext des Ukrainekriegs nicht ausschließlich an die rechten und linken Ränder der Gesellschaft verbannt, ein gesamtgesellschaftliches Gewicht wie im Kontext des Nahost-Konflikts hat er in diesem Zusammenhang aber schon lange nicht mehr. Im Israel-Diskurs sitzt der »Lumpenpazifismus«, wie Sascha Lobo ihn prägnant nannte, immer noch auf dem hohen moralischen Ross, von dem er bezüglich der Ukraine bereits hinuntergestoßen wurde.
Es ist eine Art von Doppelmoral, die nicht nur in Deutschland, sondern in den westlichen Gesellschaften allgemein leider allgegenwärtig ist und die sich hier in der wenig subtilen Ästhetik des Karnevals in Düsseldorf besonders eindrücklich zur Schau gestellt hat.