Zwei Buchneuerscheinungen setzen sich mit der Instrumentalisierung des Rechts im palästinensisch-israelischen Konflikt auseinander.
Im Bemühen, Israel auf der Weltbühne an den Pranger zu stellen und zu delegitimieren, kommt der Berufung auf Recht eine bedeutende Rolle zu.
Auf dem diplomatischen Parkett beklagen die Palästinenser und deren Parteigänger die angeblich gleichermaßen zahlreichen wie systematischen Verstöße Israels gegen das Völkerrecht, prangern routinemäßig so gut wie jeden Akt israelischer Selbstverteidigung als „Kriegsverbrechen“ an und berufen sich auf das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“, mit dessen Hilfe die „illegale Besatzung“ beendet und ein palästinensischer Staat geschaffen werden müsse.
Derweilen machen Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch und Amnesty International unter Bezugnahme auf das humanitäre Völkerrecht und auf die Menschenrechte gegen Israel Stimmung. Schon allein, um den Gegnern des jüdischen Staates dieses Feld, das die öffentliche Wahrnehmung stark beeinflusst, nicht widerstandslos zu überlassen, müssen Israel und dessen Unterstützer dieser Kriegsführung im Gewand des internationalen Rechts entgegentreten.
Wer sich hier kundig machen will, ist – wie in fast allen Fragen, die den Nahen Osten im Allgemeinen und Israel im Besonderen betreffen – auf englischsprachige Publikationen angewiesen. Aus der Reihe diesbezüglicher Neuerscheinungen stechen zwei besonders hervor.
Der Krieg der Rechte
Joel M. Margolis, ein Anwalt im Telekommunikationsbereich und ehemaliger Mitarbeiter u.a. im amerikanischen Justizministerium, hat mit „The Israeli-Palestinian Legal War“ hat eine gute Einführung in die einander widersprechenden rechtlichen Ansprüche der Konfliktparteien vorgelegt. Den Hauptteil des Buches bilden sieben Kapitel, in denen die aus Sicht des Autors wesentlichen Fragen erörtert werden:
- Stellen das Westjordanland und der Gazastreifen einen palästinensischen Staat dar?
- Kann Israel souveränen Anspruch auf das Territorium erheben?
- Sollte die sogenannte Grüne Linie im Rahmen einer Zweistaatenlösung die Grenze zwischen Israel und Palästina sein?
- Wer sollte Jerusalem regieren?
- Darf Israel Siedlungen jenseits der Grünen Linie unter- bzw. behalten?
- Gibt es ein palästinensisches Rückkehrrecht nach Israel?
- Welche Maßnahmen sollen oder müssen ergriffen werden, um den Sicherheitsbedürfnissen beider Seiten Genüge zu tun?
Margolis‘ Anspruch ist es, die rechtlichen Argumente beider Seiten so gut wie möglich darzulegen. Nach kurzen Einführungen in die jeweiligen Fragestellungen präsentiert er zuerst stets die palästinensischen rechtlichen Standpunkte und Argumente, im Anschluss daran legt er die israelischen Positionen dar. Dabei enthält sich der Autor einer Bewertung der vorgebrachten Ansprüche. Er will nicht Partei ergreifen, sondern seinen Lesern die nötigen Grundlagen vermitteln, um selbst urteilen zu können.
Die von Margolis gewählte Form hat den Vorteil, beide Seiten sozusagen „selbst“ zu Wort kommen zu lassen und ihre Standpunkte möglichst ohne die Verzerrungen vorzubringen, die mit deutlich Partei ergreifenden Darstellungen oft einhergehen. Sie bringt aber auch einige Nachteile mit sich.
Was ist der Mainstream?
Der Autor will sich in seiner Darstellung auf die Argumentationsweise des palästinensischen bzw. israelischen Mainstreams beschränkten. Was die israelische Seite betrifft, ist das nicht weiter problematisch, weil es im Hinblick auf den Konflikt einen sehr weitgehenden gesellschaftlichen Konsens gibt. Auf Seiten der Palästinenser sieht die Sache freilich anders aus.
Denn der Ausschluss von Haltungen, die Margolis als abseits des Mainstreams und als „extremistisch“ einstuft, hat zur Folge, dass er praktisch nur die offiziellen Verhandlungspositionen der PLO wiedergibt. Die islamistische Hamas aber, die aus den letzten palästinensischen Wahlen (2006) als stärkste Kraft hervorgegangen ist und aller Wahrscheinlichkeit nach auch heute wieder eine Mehrheit gewinnen würde, wird somit nahezu vollständig ausgeblendet.
Die Ablehnung sämtlicher Vereinbarungen mit Israel, das offen propagierte Ziel der restlosen Vernichtung des jüdischen Staates, der sich auf den Islam und die Protokolle der Weisen von Zion berufende Judenhass der Terrorgruppe, das Ziel der Errichtung eines islamischen Gottesstaates in ganz Palästina – all das kommt so gut wie nicht vor, so als würde es für den Konflikt keine Rolle spielen und als erschöpfe dieser sich in einem Für und Wider mehr oder minder gefinkelter rechtlicher Argumente.
Dem liegt ein weit grundsätzlicheres Missverständnis bezüglich des Konflikts zugrunde, der bereits im ersten Absatz des ersten Kapitels als „Kampf über drei Teilstücke von Palästina“ charakterisiert wird: „den Gazastreifen, Ost-Jerusalem und das Westjordanland“.
Dass der Konflikt vor allem deshalb noch nicht beendet ist, weil es nicht etwa um diese Gebiete, sondern um das Land Israel selbst geht, dass sich die palästinensische Seite also nach wie vor mit der Existenz eines jüdischen Staates – in welchen Grenzen auch immer – nicht abgefunden hat, bleibt in Margolis‘ Darstellung außen vor.
Urteilen Sie selbst … wenn Sie können
Ein weiteres Problem besteht darin, dass die angestrebte Ermächtigung der Leserschaft, sich selbst ein Urteil über die widerstreitenden rechtlichen Ansprüche machen zu können, zum Teil Schein bleibt. Denn ohne weit über die rechtlichen Fragen hinausgehendes Hintergrundwissen ist eine Beurteilung der Positionen schlicht nicht möglich.
Die Überprüfung der Stichhaltigkeit der rechtlichen Argumente muss daran gebunden sein, ob diese sich auf die Realität beziehen, oder aber, wie viele der von der palästinensischen Seite vorgebrachten Anklagen Israels, schlicht Propagandalügen sind.
Diese reichen von der Behauptung, Israel habe sich der planvollen Vertreibung der Palästinenser schuldig gemacht, über die Anklage, im jüdischen Staat würde systematisch rassistischer Hass auf Palästinenser geschürt, bis hin zu den Lügen, die sich um angebliche finstere israelische Absichten rund um den Tempelberg drehen. All das mag in für Laien seriös wirkenden juristischen Jargon verpackt sein, mit der Realität hat es trotzdem wenig bis nichts zu tun.
Margolis scheint diesem Problem durch die vom ihm gewählte Darstellung unausgesprochen Rechnung zu tragen. Indem er zuerst die jeweiligen palästinensischen Positionen vorbringt, um ihnen sodann die israelischen Argumente folgen zu lassen, gehen letztere zumindest implizit auf einige der falschen Anklagen ein.
Manche der abenteuerlichsten historischen und juristischen Erfindungen bleiben aber unwidersprochen, da sie einer ernsthaften juristischen Gegenargumentation gar nicht wert sind. Bildlich gesprochen: Die Schuld an einem Mord abzustreiten, den es nie gegeben hat, verliehe nur der haltlosen Anschuldigung den Anschein der Diskussionswürdigkeit.
Als Überblick über die aufeinanderprallenden rechtlichen Standpunkte ist „The Israeli-Palestinian Legal War“ trotz dieser Schwächen ein gelungenes Buch, das nicht zuletzt mit seinen zahlreichen Quellenverweisen viele Anregungen zur vertiefenden Lektüre bietet – was allerdings wesentlich einfacher wäre, wenn das Buch eine leserfreundlichere Zitierweise und vor allem auch ein Literaturverzeichnis enthalten würde.
Palästina vor Gericht
Einen ganz anderen Zugang zum Thema bietet die Studie „Law and the Arab-Israeli Conflict. The Trials of Palestine“. Steven E. Zipperstein, ein ehemaliger US-Staatsanwalt und heute Senior Fellow am Center for Middle East Development an der University of California widerspricht darin einer heute gängigen Vorstellung:
„Viele Beobachter verwenden den Begriff ‚Lawfare‘, um die angeblich erst vor relativ kurzer Zeit entstandene Praxis zu bezeichnen, das Recht als Waffe gegen den Gegner einzusetzen. Diese Studie zeigt im Gegensatz dazu, dass die Konfliktparteien das Recht und juristische Vorgehensweisen schon vor mehr als hundert Jahren benutzt haben, um ihre Standpunkte zu untermauern und die internationale öffentliche Meinung zu beeinflussen.
Darüber hinaus zeigt sie, wie die rechtlichen Argumente und Verfahrenstaktiken, die Araber und Juden in den 1920er und 1930er Jahren verfeinert haben, bis heute nachwirken.“
Gegenstand des enorm detailreichen Buches, aus dem ich nur einige wenige spannende Punkte herausgreifen möchte, sind drei von den Briten eingesetzte Untersuchungskommissionen, vor denen die widersprechenden Ansprüche der Araber, der Juden und der britischen Mandatsbehörden aufeinanderprallten und wie in Gerichtsprozessen verhandelt wurden:
- die Shaw-Kommission, eingesetzt nach der Welle blutiger arabischer Attacken vom August 1929, bei der 133 Juden getötet worden waren, und die ihren Untersuchungsbericht über die Ursachen der Gewalt im März 1930 vorlegte;
- die Lofgren-Kommission, die unmittelbar nach der Shaw-Kommission ins Leben gerufen wurde und im Sommer 1930 die Rechtmäßigkeit arabischer bzw. jüdischer Ansprüche auf die Klagemauer des Tempels und den Bereich davor am Fuße des Tempelberges untersuchte; und
- die Peel-Kommission, die 1936 eingesetzt wurde, um die Ursachen der als „arabischer Aufstand“ bezeichneten neuerlichen arabischen Gewaltwelle zu untersuchen. Die Kommission sollte auch feststellen, ob und inwiefern die Briten die ihnen vom Völkerbund erteilten Aufgaben als Mandatsmacht erfüllten. In ihrem Bericht vom Sommer 1937 wurde erstmals die Teilung des Landes in einen jüdischen und einen arabischen Staat vorgeschlagen.
In diesen drei Untersuchungskommission wurden die zentralen Fragen des arabisch-jüdischen Konflikts behandelt:
- die angeblichen Versprechen auf nationale Unabhängigkeit der Araber, die die Briten im Ersten Weltkrieg brieflich gegenüber Hussein ibn Ali, dem Scherifen von Mekka, gemacht haben sollen;
- die Rechtmäßigkeit des Völkerbundmandats über Palästina, das den expliziten Auftrag enthielt, überall im Land die jüdische Ansiedlung zu fördern und eine „jüdische nationale Heimstätte in Palästina“ zu schaffen;
- die religiösen Ansprüche von Juden und Arabern auf Jerusalem und andere Orte im Land; und die Optionen zur Lösung des immer wieder in arabischen Gewaltwellen aufbrandenden Konflikts.
Zipperstein zeichnet die Geschichte der verschiedenen Kommission nach, zeigt detailliert auf, wie die Konfliktparteien auf ihr Mandat und ihre Abläufe Einfluss zu nehmen versuchten, und analysiert anhand der Sitzungsprotokolle sowie einer Vielzahl darüber hinaus gehender Quellen die rechtlichen Argumentationen der Juden und Araber, aber auch der britischen Mandatsbehörden, die sich als unabhängiger Streitschlichter in Szene zu setzen versuchten, auch wenn sie in Wahrheit alles andere als unabhängige Schiedsrichter waren.
Deutlich wird dabei, dass internationale Gremien von der Art der erörterten Kommissionen allen beteiligten Parteien die Möglichkeiten und Grenzen der rechtlich geführten Auseinandersetzung vor Augen führten.
Mal fühlte sich die eine Seite übergangen und unfair behandelt, Mal war die andere Seite über die Untersuchungsergebnisse erzürnt und empört. Und letzten Endes mussten die Versuche, mithilfe solcher Kommissionen Einigungen und Kompromissen den Weg zu ebnen, an der Nullsummenmentalität und Kompromissverweigerung scheitern, mit der die arabische Seite agierte – eine Haltung, die bis heute im Grunde unverändert geblieben ist, obwohl sie sich von Anfang an als höchst schädlich erwiesen hat.
Die Shaw-Kommission
Wie sehr das Bemühen darum nach hinten losegehen kann, eine Untersuchungskommission von der eigenen Sache zu überzeugen, musste die jüdische Seite anhand der Shaw-Kommission schmerzlich erfahren. Deren Aufgabe war es, die Ursachen für die blutige arabische Gewalt des Augusts 1929 zu ergründen, in dem arabische Mobs nach Aufhetzung durch den Mufti von Jerusalem und späteren Nazi-Kollaborateur Amin el-Husseini über Juden und jüdische Einrichtungen herfielen und 133 Juden ermordeten.
Die von den Briten eingesetzte Kommission unter der Leitung des Richters Sir Walter Shaw hatte die Aufgabe, die „unmittelbaren Ursachen“ für den Gewaltausbrauch zu untersuchen und daraus folgende Empfehlungen abzugeben.
Die arabische Seite hatte darauf gedrängt, das Mandat der Kommission möglichst weit zu halten und somit gewissermaßen die gesamte Palästina-Politik der Briten, von der Balfour-Deklaration über das Mandat des Völkerbunds bis zur Einwanderung und den Landerwerb von Juden, vor Gericht zu stellen.
Die Briten definierten dagegen den Arbeitsauftrag viel enger und kamen damit auf dem Papier den arabischen Forderungen nicht nach, doch spielte das für den Verlauf der Untersuchung kaum eine Rolle: In ihren Aussagen vor der Kommission behaupteten die Araber einfach, dass die von ihnen gerne diskutierten Punkte allesamt den Boden für die Gewalt vom August 1929 bereitet hätten und deshalb erörtert werden müssten.
Die Kommission unter Richter Shaw akzeptierte diese Interpretation – und machte damit ihren eng gefassten Arbeitsauftrag zur Makulatur. So wurde, von der Balfour-Deklaration angefangen, all das ausführlich behandelt, was eigentlich gar nicht Thema hätte sein sollen.
Die jüdische Seite versuchte einerseits die Verantwortung des Muftis für die Gewalt zu belegen und beklagte andererseits, dass die britischen Mandatsbehörden der arabischen Gewalt nicht nur viel zu wenig entgegengetreten seien, sondern im entscheidenden Moment durch die Entwaffnung jüdischer Polizisten den Juden auch noch eine der wenigen Möglichkeiten zur Selbstverteidigung gegen die arabischen Angriffe genommen hätten.
Rückschlag für die Juden
Diese Klagen mögen aus jüdischer Sicht berechtigt gewesen sein, doch vor der Shaw-Kommission erwiesen sie sich als taktische Fehlleistungen ersten Grades. Einerseits war von Anfang an so gut wie ausgeschlossen, dass eine britische Untersuchungskommission die britischen Mandatsbehörden verurteilen würde, andererseits fanden sich die Mandatsbehörden durch die vehementen jüdischen Anklagen plötzlich in einem Boot mit der arabischen Seite wieder.
Dazu kam noch, dass der zur anwaltlichen Vertretung der Juden auserkorene britische Spitzenjurist sich als völlige Fehlbesetzung herausstellte, dessen arrogantes und konfrontatives Auftreten nur dazu führte, die Araber und die Mandatsbehörden zu inoffiziellen Verbündeten zu machen und die Kommissionsmitglieder gegen sich aufzubringen.
Der Abschlussbericht der Shaw-Kommission, der Ende März 1930 veröffentlicht wurde, war denn auch eine herbe Enttäuschung für die jüdische Seite: Die Mandatsbehörden wurden von allen Vorwürfen freigesprochen, der arabischen Seite und dem Mufti wurde attestiert, die gewalttätigen Unruhen weder heraufbeschworen noch geplant zu haben.
Stattdessen erklärte die Kommission die Gewalt der Araber zum Ergebnis der „Enttäuschung ihrer politischen und nationalen Bestrebungen“ sowie der „Angst um ihre wirtschaftliche Zukunft“. Und als unmittelbaren Auslöser der mörderischen arabischen Attacken identifizierte der Bericht eine jüdische Demonstration vor der Klagemauer eine Woche vor dem Ausbruch der Gewalt.
Zwar empfahl die Kommission keine grundlegende Abkehr von dem im Völkerbundmandat festgeschriebenen Ziel der Schaffung einer „nationalen Heimstätte für die Juden“, aber sie forderte ein klareres Bekenntnis der Mandatsregierung zu den Rechten der nichtjüdischen Bevölkerung und mahnte ein, dass die „exzessive Einwanderung“ von Juden der vergangenen Jahre sich nicht wiederholen dürfe.
Die arabische Seite hatte allen Grund, den Bericht als Erfolg zu feiern, und zog daraus eine Lehre: Gewalt zahlt sich aus und hat Zugeständnisse zur Folge.
Kritik von überraschender Seite
Lautstarke Kritik am Bericht der Shaw-Kommission wurde dagegen nicht nur von der jüdischen Seite geäußert, sondern auch von einer Stelle, von der man das nicht unbedingt erwartet hätte: von der Permanenten Mandatskommission des Völkerbundes.
Angesichts der chronischen Israelfeindlichkeit von dessen Nachfolgeorganisation, den Vereinten Nationen, seit Ende der 1960er Jahre ist wohl nicht nur Zipperstein überrascht über „das Ausmaß der Sympathie für den Zionismus“ und von der Schärfe, mit der die Mandatskommission wesentliche Punkte des Berichts der Shaw-Kommission kritisierte.
So mussten sich die Vertreter Großbritannien anhören, dass der Shaw-Bericht „unberechtigterweise pro-arabisch“ ausgefallen sei, die arabische Führung „unnachvollziehbar freundlich“ behandelt und die rechtlichen Verpflichtungen der britischen Mandatsbehörden durch das Völkerbundmandat nicht gewürdigt habe.
Der glatte Freispruch der arabischen Seite durch die Shaw-Kommission vom Vorwurf, die Angriffe auf Juden gefördert oder geplant zu haben, wäre durch die Fakten nicht gedeckt gewesen. Über arabische Handlungen, deren einziger Zweck die Provokation der Juden gewesen wären, sei die Kommission einfach hinweggegangen.
Ungeachtet dieser vehementen Kritik durch den Völkerbund war der Bericht der Shaw-Kommission für Zipperstein nicht weniger als eine „verheerende Niederlage der jüdischen Seite“. Er markierte den Beginn einer im Laufe der Jahre immer deutlicher werdenden Abkehr der britischen Politik von ihrer Unterstützung der zionistischen Sache. Ihren unrühmlichen Abschluss fand diese Kehrtwende in der Schließung Palästinas für jüdische Einwanderer just am Vorabend des Holocaust.
Die Lofgren-Kommission
Der zweite von Zipperstein untersuchte „Gerichtsprozess“, in dem sich Araber und Juden gegenüberstanden, war die Lofgren-Kommission, die im Januar 1930 eingesetzt wurde um zu untersuchen, wer welche Rechte auf die Klagemauer und den Raum davor am Fuße des Tempelberges geltend machen könne.
Die Politik der britischen Mandatsbehörden bestand darin, in Hinblick auf den Tempelberg und die Klagemauer am „Status Quo“ festzuhalten, also die Regelungen beizubehalten, die im Osmanischen Reich gegolten hatten.
Doch wie diese Regelungen ausgesehen hatten, war Gegenstand heftiger Auseinandersetzung, wobei die arabische Seite eine gleichermaßen einfache wie klare Position einnahm: Das gesamte Areal sei in muslimischem Besitz, weshalb niemand außer den Muslimen irgendwelche Rechte habe, und schon gar nicht die Juden.
Denen würde man als Ausweis der „Toleranz“ erlauben, unauffällig die Tempelmauer zu besuchen, aber Rechte, wie z.B. das Recht, dort zu beten, hätten sie nicht und könne es auch gar nicht geben. Obwohl es für den Mufti von Jerusalem also gar nichts gab, worüber verhandelt hätte werden müssen, entschied sich die arabische Seite schließlich doch, vor der Lofgren-Kommission aufzutreten.
Als die Kommission Ende 1930 ihren Bericht vorlegte, war keine der beiden Konfliktparteien mit dem Ergebnis zufrieden. Den Juden wurde zwar zugestanden, dass die Klagemauer nur für sie ein religiöser, heiliger Ort sei, an dem sie gemäß der langjährigen Praxis unter dem Osmanischen Reich beten dürfen müssten, darüberhinausgehende Forderungen (wie nach dem Aufstellen von Sitzgelegenheiten oder von Sichtschutz zur Trennung von Männern und Frauen) seien aber verboten.
Die Mauer und der Raum davor seien klar muslimisches Eigentum, allerdings müssten die Muslime provokatives Verhalten, wie die Störung jüdischer Gebete, unterlassen und das Areal nicht verdrecken lassen.
Abgesehen von der muslimischen Führung, die den Bericht schlicht für mit der einzig maßgeblichen Scharia für unvereinbar erklärte, wurde der Report weithin als ausgewogen betrachtet und erfüllte insofern seinen Zweck, als sich die Lage rund um die Klagemauer in den Jahren danach merklich beruhigte.
Arabische Unbeweglichkeit
Das Bemerkenswerteste an der Lofgren-Kommission war, wie völlig kompromisslos sich die muslimische Seite positionierte und auch dieser Kommission, wie zuvor schon der Shaw-Kommission, wilde Verschwörungstheorien darüber auftischte, was die Juden nicht alles mit dem Haram asch-Sharif (so die arabische Bezeichnung des Tempelbergs) vorhätten.
Mehrere Wochen wurde abseits der Kommissionssitzungen über mögliche Kompromisse verhandelt, doch scheiterten alle derartigen Versuche an der muslimischen Seite. Einen guten Eindruck über das Gesprächsklima bot der damalige britische Hochkommissar für Palästina, John Chancellor, der wahrlich nicht im Verdacht stand, den Juden besonders freundlich gesonnen zu sein. Er beschrieb eine Verhandlungsrunde folgendermaßen:
„Wir sprachen zwei Stunden miteinander, in denen es mir gelang, von allen eine Zustimmung [zu einem Kompromissvorschlag für die Regeln an der Klagemauer] zu erlangen – außer vom Mufti, der offensichtlich nicht das geringste Interesse an einer Einigung hatte und den Streit um die Klagemauer am Kochen halten will, um ein Mittel zu haben, mit dem er Probleme bereiten kann, wann immer er es will.“
Wie Zipperstein festhält, benutzte der Mufti die Lofgren-Kommission als Plattform, um den „palästinensisch-arabischen Antizionismus und antisemitische Gefühle zu mobilisieren“. Seine Haltung lief auf das „absolute Leugnen jeglicher jüdischen Rechte an der Klagemauer und damit an Palästina hinaus“.
Die muslimische Seite „weigerte sich zu verhandeln, verweigerte jedes Zugeständnis, und weigerte sich, etwas anderes als ihren totalen Sieg in jedem einzelnen strittigen Punkt auch nur in Erwägung zu ziehen“. Hier wird eine Konstante ersichtlich, die sich bis heute durchzieht:
„In vielerlei Hinsicht erinnert die rechtlich-politische Dynamik der Lofgren-Kommission an die Dynamik des Konflikts heute, in der die Palästinensische Autonomiebehörde ständig einen vollen israelischen Rückzug zu den Grenzlinien von 1967, das uneingeschränkte Recht auf Rückkehr für alle palästinensischen Flüchtlinge und deren Nachkommen und das gesamte Jerusalem als Hauptstadt eines palästinensischen Staates fordert.
Jassir Arafats Ablehnung der Vorschläge im Zuge der Verhandlungen in Camp David 2000 und Mahmud Abbas‘ Ablehnung der Angebote von Olmert 2008 entsprangen derselben Alles-oder-Nichts-Haltung, die der Mufti in den 1920er und 1930er Jahren an den Tag legte.
Letztlich ist die Strategie des Muftis darin gescheitert, die Gründung des jüdischen Staates zu verhindern. Und bis heute hat die zeitgenössische palästinensische Strategie einzig und allein die Schaffung eines palästinensischen Staates verhindert.“
Die Peel-Kommission
Die dritte von Zipperstein analysierte Gelegenheit, bei der die rechtlichen Ansprüche von Juden und Arabern gewissermaßen vor Gericht standen, war die Palestine Royal Commission, besser bekannt als Peel-Kommission, die nach dem Beginn des sogenannten Arabischen Aufstands 1936 eingesetzt wurde, in zahlreichen öffentlichen wie nicht-öffentlichen Sitzungen in Jerusalem und London tagte und so gut wie alle strittigen Punkte erörterte, die dem Konflikt zugrunde lagen.
Die Liste derjenigen, die vor der Peel-Kommission aussagten, liest sich wie ein Who‘s Who aller für die Sache relevanten Persönlichkeiten, von Winston Churchill über den britischen Ex-Kanzler David Lloyd George, die ehemaligen Hochkommissare für Palästina Herbert Samuel und John Chancellor, die prominenten Zionisten Chaim Weizmann, David Ben-Gurion und Vladimir Jabotinsky, bis zum Mufti von Jerusalem, der u.a. glaubte, die Kommission zu deren Verblüffung über die angeblich unheimlich große Macht der Juden in Großbritannien aufklären zu müssen.
Hervorstechend waren vor allem die Aussagen Winston Churchills, der als ehemaliger britischer Kriegs- und Kolonialminister ein flammendes Bekenntnis zur Balfour-Deklaration und zum Ziel der Schaffung eines jüdischen Staates ablegte.
Bemerkenswert war auch die Stellungnahme von Ex-Hochkommissar Chancellor, der zu diesem Zeitpunkt gänzlich desillusioniert über die Rolle des Muftis von Jerusalem war, was zu folgendem Dialog mit dem Kommissionsmitglied Sir Laurie Hammond darüber führte, ob man den Mufti ins Exil schicken müsse:
Sir Hammond: Was ist mit dem Mufti?
Chancellor: Der Mufti ist nicht vertrauenswürdig. Ich habe ihm einmal mit einer Reise zu den Seychellen gedroht. (…)
Sir Hammond: Sehen Sie irgendeine Aussicht auf Frieden, solange er in seiner Position [als Chef des Obersten Islamischen Rates in Palästina] bleibt?
Chancellor: Nein, ich denke, eine Luftveränderung auf die Seychellen wäre keine schlechte Sache.
Sir Hammond: Dr. Weizmann [der Chef der Zionistischen Weltvereinigung] hat einen Urlaub auf Zypern für ihn vorgeschlagen.
Kommissionsmitglied Sir Horace Rumbold: Ist das viel zu nahe?
Chancellor: Ja, die Seychellen sind der richtige Platz für ihn.
Ein letzter Showdown vor dem „klaren Schnitt“
Geschichte machte die Peel-Kommission dadurch, dass sie in ihrem ausführlichen, im Juli 1937 vorgelegten Endbericht als erstes offizielles Gremium einen „klaren Schnitt“ zur Beilegung des Konflikts vorschlug: die Schaffung eines jüdischen und eines arabischen Staates. Gegen Ende des Berichts hieß es:
„Offensichtlich kann das Problem nicht dadurch gelöst werden, dass man entweder den Arabern oder den Juden alles gibt, was sie verlangen. (…) Die Teilung scheint wenigstens eine Chance für endgültigen Frieden zu bieten. Wir können dergleichen in keinem anderen Plan sehen.“
In den Anhörungen der Peel-Kommission und in dem von ihr vorgelegten Bericht prallten zum vorläufig letzten Mal alle relevanten rechtlichen Positionen der Konfliktparteien aufeinander, von denen viele bis heute die rechtliche Debatte bestimmen. Interessant ist dabei, mit dem Wissen von heute über Positionen zu lesen, die damals offenbar selbstverständlich waren, seitdem aber in Vergessenheit geraten sind.
Da war beispielsweise Chaim Weizmann, der sich, in markantem Gegensatz etwa zu Winston Churchill, nicht für die Schaffung eines jüdischen Staates aussprach, sondern sich auf die stetige Entwicklung einer „jüdischen Heimstätte“ beschränken wollte, deren Aufbau, am liebsten unter der Schirmherrschaft der britischen Mandatsmacht, mehrere Generationen in Anspruch nehmen würde. Tatsächlich wurde nur zwölf Jahre danach der jüdische Staat Israel gegründet, und dessen erster Präsident wurde – Chaim Weizmann.
Bemerkenswert ist auf der anderen Seite die Selbstverständlichkeit, mit der Vertreter der arabischen Seite sich gegen einen arabischen Staat Palästina aussprachen: Das Land war aus ihrer Sicht natürlicher Bestandteil von Syrien, ein davon abgetrennter palästinensischer Staat habe nie existiert und wurde auch nicht als erstrebenswert erachtet.
Daran sollte man sich erinnern, wenn heutige palästinensische Propagandisten über die Hunderte oder gar Tausende Jahre alte Geschichte Palästinas fantasieren und dabei komplett ausblenden, dass noch vor nicht einmal 100 Jahren niemand von einem Palästina in diesem Sinne wusste.
Eine Konstante
Welche Territorien hatte der britische Hochkommissar in Ägypten Henry McMahon im Sinn, als er im Briefwechsel mit Hussein, dem Scherifen von Mekka, die Unterstützung des Vereinigten Königreichs für einen arabischen Staat zusagte?
Beinhalteten seine etwas vagen geographischen Angaben Palästina, oder schlossen sie dieses Gebiet aus? Waren seine Zusagen ein rechtlich bindender „Vertrag“, wie die Araber dies bis heute behaupten? Hatte der Völkerbund das Recht, ein Mandatsgebiet Palästina zu erschaffen? Was genau war unter der „jüdischen Heimstätte“ zu verstehen, deren Aufbau vom Völkerbund als Pflicht der Mandatsmacht festgeschrieben wurde? Widersprach diese Verpflichtung nicht fundamental der Satzung des Völkerbunds und dem Selbstbestimmungsrecht der Araber? Hatten die Juden das Recht, an der Klagemauer zu beten? Durften die Araber über und vor der Klagemauer bauliche Veränderungen unternehmen?
Diese und ähnliche Fragen waren es, die vor den britischen Kommissionen im Palästina der Zwischenkriegszeit im Detail erörtert wurden.
Auf der einen Seite standen die Araber, die die Balfour-Deklaration und das Völkerbundmandat für Palästina für unrechtmäßig erklärten, sich betrogen fühlten und von Rechten für die Juden nichts wissen wollten; auf der anderen Seite waren die Juden, die auf die lange jüdische Geschichte in Palästina hinwiesen und dieselbe Balfour-Deklaration und dasselbe Völkerbundmandat als rechtlich bindende Dokumente betrachteten, die die Legitimität der „jüdischen Heimstätte“ bezeugten.
Bei allen Veränderungen der Rahmenbedingungen, die seither selbstverständlich stattgefunden haben, enthalten die rechtlichen Argumente, die von den Konfliktparteien vor rund 90 Jahren entwickelt und vorgebracht wurden, für Zipperstein bereits alle wesentlichen Argumente, die auch heute noch vertreten werden – auch und vor allem von den Palästinensern, die „das alte Muster fortführen, das Recht als Werkzeug, Ressource und Waffe einzusetzen, um ihre Positionen zu vertreten und die öffentliche Meinung weltweit zu beeinflussen.“
Keine Änderung gab es bisher in einem, wenn nicht gar dem entscheidenden Punkt: Damals wie heute stellt der Rückgriff auf das Recht für die palästinensisch-arabische Seite nicht etwa ein Mittel dar, um den Konflikt zu lösen, sondern um ihn zu prolongieren. So resümiert Zipperstein am Ende seines sehr detaillierten, aber zumindest für den historisch wie juristisch interessierten Leser lesenswerten Buches:
„Obwohl die arabische Seite zumindest kurzfristig gestärkt aus Untersuchungen der Shaw- und der Lofgren-Kommission hervorgegangen ist, hat ihre maximalistische, zu keinem Kompromiss bereite Haltung den palästinensischen Bestrebungen auf lange Sicht eine Niederlage nach der anderen beschert.
Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass die heutige Version dieser Haltung, die palästinensisches ‚Lawfare‘ und die Boykottbewegung BDS beinhaltet, mehr Erfolg beim Erreichen der palästinensischen Ziele haben könnte, selbst wenn man in Betracht zieht, dass die internationale Öffentlichkeit weitaus empfänglicher für ihre Sache ist, als das in den 1920er und 1930er Jahren der Fall war.“
Besprochene Bücher:
Margolis, Joel M.: The Israeli-Palestinian Legal War. This Land is Ours, Eigenverlag o. O 2021.