Der türkische Präsident musste seine erste Wahlschlappe seit langem einstecken. Er wird die Opposition aber weiter gängeln, denn Niederlagen sind für ihn nicht hinnehmbar.
Als routinierter Redner versteht Recep Tayyip Erdoğan etwas von plumper Rhetorik. Seine Sätze sind hohl und pathetisch und schließen wie im Türkischen üblich das „Wir“ stets mit ein. Das klingt im Wahlkampfvideo für die Kommunalwahl vom 31. März 2019 so:
„Freunde! Gemeinsam sind wir vor 17 Jahren für eine starke Türkei auf die Reise gegangen. Diese Reise ist die Geschichte von uns allen. Diese Reise ist der Beweis für unsere große Liebe zum Volk. Diese Reise ist die Geschichte eines Volkes, das uns vertraut und uns glaubt. Auf dieser Reise konnte uns niemand aufhalten. Alle Hindernisse haben wir gemeinsam überwunden. Wir sind nun eine große Türkei! Stadt für Stadt treten wir nun abermals eine Reise an, um dem Volk zu dienen. Für eine aufgeklärte Türkei! Für unsere Kinder! Für unsere Jugend! Für unsere Zukunft! Möge Allah uns helfen und uns segnen!“
Eingearbeitet wurden diese Sätze in das populäre Lied „Bir Aşk Hikayesi“ („Eine Liebesgeschichte“) des 2015 verstorbenen Liedermachers Kayahan. Unter dem Wahl-Slogan „Das ist eine Liebesgeschichte“ trat Erdoğan einen Wahlkampf an, in dem er immer wieder wiederholte, worum es ihm ginge: um einen Existenzkampf auf Leben und Tod. Dafür legte er alles in die Waagschale und nutzte alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel. Auf seinen Wahlkampfauftritten befeuerte er die Massen, und gab den Einpeitscher. Er benutzte hierfür insbesondere die erste Strophe des Liedes von Kayahan, um damit seine abgöttische Liebe zu Volk, Heimat und Vaterland zu unterstreichen. Aus einem politisch unverfänglichen Liebeslied, das an die Geliebte appelliert: „Sei nicht traurig, weine nicht. Lächle stets“, wurde ein Propagandalied für die Massen – derweil die zweite Strophe des Liedes vollständig unterschlagen wurde, in dem es um das Ende der Liebesbeziehung geht und Kayahan ansetzt, über seine persönliche Schuld und die eigenen Verstrickungen in das Ende der Beziehung nachzudenken, seine eigenen Fehler bei einem Glas Whiskey einzugestehen.
Gekommen, um zu bleiben
Von dieser Art Selbstreflexion ist bei Recep Tayyip Erdoğan und den Seinen bis heute nichts angekommen. Sie sind gekommen, um zu bleiben und nicht zu gehen. Sie halten an ihren Errungenschaften fest und lassen die Geliebte wie der Stalker nicht los. Das hat Erdoğan zu verschiedenen Anlässen immer wieder verkündet und ist davon auch nicht abgewichen, obwohl er immer wieder betont, dass allein nur Volkes Wille für ihn zähle und nur das Volk ihn abwählen könne. Anders als sein Ziehvater Necmettin Erbakan, der im Februar 1999 noch durch das vormals dominante Militär gestürzt wurde, hat er in den letzten 17 Jahren alle juristischen, politischen und militärischen Hindernisse, die ihm gefährlich werden können Schritt für Schritt beseitigt und ist nun in einem für ihn maßgeschneiderten Regime angekommen.
Dieser Durchmarsch ist zwar nie einem zuvor festgelegten Programm gefolgt. Und dennoch ist Erdoğan seinem ersehnten Ziel näher gekommen: „Hedef 2023“ (dt.: Ziel 2023). Auf seinem Weg bestritt er in den vergangenen fünf Jahren insgesamt sieben Wahlen – und hat mit Ausnahme der Parlamentswahlen vom Juni 2015 seit 2002 immer mit absoluter Mehrheit siegen können. Erdoğan lebt dabei wie viele Agitatoren vom Geist des Voluntarismus. Er braucht den Wahlkampf, der bestimmt ist durch Feinderklärungen, Polarisierungen und schließlich vom Versprechen eines Triumphs über den politischen Gegner. Das hält nicht nur sein ihm fügsames Wahlvolk zusammen, sondern beschäftigt auch treue Parteisoldaten, die unmissverständlich klar machen, zu wessen Diensten sie stehen.
Die Arabeske, ein türkisches Kulturgut
Der affektgeladene Stil, der dabei machtvoll demonstriert wird, erinnert unweigerlich an die Arabeske. Anathema der Arabeske ist die unglückliche Liebe. Diese Musik mauserte sich zum türkischen Kulturgut und wird in Dauerschleife, trotz allem, was gegen sie spricht, weiterhin zum Besten gegeben. Kaum eine Taxifahrt in İstanbul oder in den entfernten Provinzen kommt ohne die Titanen aus, die ihre Hörer quälen. Ihr Liedgut ist pathetisch, sentimental, regt zur Regression an und wird auch als „Damar“-Musik bezeichnet.
Wenn Orhan Gencebay den Weltuntergang besingt, nur weil „Kader“ („das Schicksal“) es nicht gut mit ihm meint („Soll diese Welt doch untergehen!“), Müslüm Gürses Besitzansprüche erhebt („Du hast dich getrennt, Geliebte. Ich hatte aber nicht genug von dir“) oder İbrahim Tatlıses an der unerwiderten Liebe festhält („Was hast du bloß vom Leben ohne meine Liebe? Ich lasse dich nicht gehen.“), sind finstere Gesellen nicht weit, die von solcher Musik ihren Selbstzerstörungsdrang beflügeln lassen und bis hin zum Mord an der Geliebten gehen. Denn diese Musik soll an die Substanz des Hörers gehen, seinen Schmerz nicht heilen, sondern erdrückender machen, gar den abgehärtetsten Hörer zum Weinen bringen, der mitunter auf Konzerten von Müslüm Gürses zur Rasierklinge greift.
Es sind in erster Linie Männer, die solche Musik hören, sich in Ekstase versetzen und in falscher Trauerarbeit der unerfüllten Liebe hinterherrennen oder sie gar idealisieren; nicht loslassen, sondern umso fester an der Unmöglichkeit klammern, dem Fatalismus das Wort reden, beharrlich der Geliebten nachstellen, sie belästigen, sie mit Liebesbekundungen erdrücken. Das ist türkischer Machismo, der in der Arabeske besungen und tradiert wird.
Ihre Neuauflage erlebt diese Art von verhängnisvoller Emotionsregulation in der türkischen Popmusik seit den 1980er Jahren. Bis dahin war der Arabeske vornehmlich in den Wohnvierteln der zugezogenen İstanbuler zu hören, die glaubten, die Großstadt mit ihrer Musik aus der Provinz bereichern zu können. In der Popmusik lebt die arabeske Tradition zwar fort, erweitert das Repertoire aber um entscheidende Variationen, übernommen von westlicher Popmusik, um wenigstens zu traurigem Inhalt mit unterlegten Beats tanzen zu können. Es geht nun nicht mehr allein um unerwiderte Liebe, sondern auch um das Unglück des Verlassenwerdens, um die verpassten Gelegenheiten, um das Ausschlagen eines Flirtversuchs, um die Nichtigkeiten des Liebeslebens in der Großstadt, um Eifersucht und Neid auf die Konkurrentin.
Damit folgt bereits diese populäre Musik einem Säkularisierungstrend, der zumindest in der türkischen Popmusik nicht mehr aufzuhalten ist. Denn keine Liebesbeziehung in der Gegenwart ist unbedingt von Dauer und mit unerwiderter Liebe muss ein sozialverträglicher Umgang gefunden werden, ohne sich selbst oder andere zu verletzen. Darum ist Popmusik, die in der Regel für das Loslassen plädiert und ohne sentimental zu werden Trauerarbeit zulässt, in der Türkei bis heute beliebt und inzwischen beliebter denn je, seitdem das persönliche Kennenlernen durch kulturelle Öffnung und soziale Medien auch in bislang traditionellen Milieus erleichtert wird. Damit steigt aber auch die Zahl an Abfuhren und Enttäuschungen. Zuflucht und Trost wird in der Popmusik und weiterhin in der Arabeske gesucht.
Historisch lässt sich diese Liebeslyrik zurückverfolgen bis in die zweite Hälfte des siebten Jahrhunderts. Der Legende nach erkrankt Mecnun an seiner unglücklichen Liebe zu Leyla und geht an der unerwiderten Liebe unter. Sein Liebesschmerz wird zum Weltschmerz. Die Pein wird nicht zum Makel, sondern zum einzig bestimmenden Lebensmoment, mit der jede Hoffnung auf Besserung zerstört wird. Auch viele türkische Serien folgen wie die Arabeske diesem Muster und sind weiterhin beliebt.
Neuer Eroberungsdrang
Im Weltbild Erdoğans sind Niederlagen nicht hinnehmbar. Sie steigern vielmehr seinen Eroberungsdrang. Das bestätigt allein sein Verhalten nach der Parlamentswahl vom Juni 2015, als er damals die absolute Mehrheit im Parlament an die zerstrittene Opposition verlor, und davon profitierte, dass sie sich nicht einig werden konnte und es zu keiner Regierungsbildung kam. Im November 2015, zwischenzeitlich brach der bewaffnete Konflikt mit der PKK erneut aus, wurden die Parlamentswahlen wiederholt und Erdoğan siegte in der aufgehetzten Stimmung wiederum mit absoluter Mehrheit. Gewohnt, die sunnitisch-türkische Identitätskarte auszuspielen und den politischen Gegner durch Niedertracht zu schmähen, sind ihm Mehrheiten sicher. Entsprechend formte sich über die Jahre ein übersteigertes türkisch-islamisches Selbstbewusstsein, dass sich seiner Grenzen nicht mehr gewahr sein konnte. Triumphe stumpfen auf Dauer jedoch ab und machen für Korrekturen unempfindlich.
Verlust der Großstädte
Eben dies zeigt sich nun im Nachgang zur Kommunalwahl vom 31. März 2019. Erstmals verliert die AKP nach 17 Jahren wichtige Großstädte und es könnte der Anfang vom Ende Erdoğans sein. Die AKP verliert die wichtigen Großstädte Antalya, Adana und Mersin, muss sogar nach 25 Jahren die Hauptstadt Ankara an die CHP abtreten. In İstanbul führt der Kandidat der CHP Ekrem İmamoğlu hauchdünn nach vorläufigem Endergebnis mit einem Abstand von nur 0,25%. Das ist ein Novum und wäre nicht möglich gewesen, wenn insbesondere die HDP auf eigene Kandidaten in İstanbul und Ankara verzichtet hätte. Trotz allen Hürden und Grabenkämpfen, die es gibt, gab es eine inoffizielle Volksfront von CHP, IYI, HDP und sogar der SP. Dabei hat die CHP im gesamten Wahlkampf der vergangenen Monate allein auf soziale Themen gesetzt und auf die Folgen der anbahnenden ökonomischen Krise hingewiesen. Deshalb bekam sie auch Tausende Stimmen von Kurden in İstanbul, Ankara und anderen Städten.
Dabei konnte die CHP anders als in früheren Wahlkämpfen mit ihrem Kandidaten İmamoğlu eine Geschichte erzählen und Hoffnung anbieten. Damit konnte er auch die von der Krise bereits jetzt gegängelten traditionellen Wählermilieus der AKP erreichen. Das ging ohne ein Abholen dieser Wähler nicht, die sichtlich irritiert gewesen sein mussten, als sie erstmals von İmamoğlu hörten, und sich wunderten, dass der „Sohn des Imams“ (İmamoğlu auf Türkisch) nicht ein Kandidat der AKP sei. Denn anders als der Kandidat der AKP, Binali Yıldırım, war İmamoğlu nach Bekanntgabe seiner Kandidatur im Dezember 2018 bei nur 18% der İstanbuler bekannt. Als Bürgermeister des Stadtteils Beylikdüzü hatte er 2014 im bis dahin als AKP-Hochburg geltenden Stadtteil siegen können. Durch nachhaltige Kommunalpolitik und Bürgernähe bewies er sich und gewann dadurch auch Rückhalt in sonst sehr reservierten, stramm laizistischen CHP-Kreisen, die beharrlich wie eh und je auf die gleichen kulturpolitischen Dauerbrenner setzten und aus den resultierenden Wahlpleiten keine wirklichen Konsequenzen zogen.
Neue Strategie der Opposition
Dieses Mal verfolgte die CHP eine andere Strategie und verlegte sich allein auf soziale Themen. Denn längst ist in den Metropolen die sich anbahnende ökonomische Krise angekommen und unter ihre Räder geraten zunehmend auch die unter Erdoğan aufgestiegenen türkisch-islamischen Wählermilieus der Mittelklasse, die sich in der konjunkturellen Hochphase der vergangenen Jahre mit billigen Konsumentenkrediten verschuldeten und eines der erschwinglichen Immobilien leisten konnten.
Damit ist es aber endgültig vorbei. Die ökonomische Krise hat die Türkei erfasst, das Land befindet sich bereits in einer Rezession, deren Ende sich nicht abzeichnet. Das trifft insbesondere die Bewohner der ökonomisch starken Metropolen. Auf den Gemüsemärkten dort ist inzwischen eine Teuerungsrate von bis zu 30% spürbar, auch für die mittleren Einkommensklassen sind die Lebenshaltungskosten mit einer durchschnittlichen Inflationsrate von ca. 20% stark gestiegen. Die Banken tolerieren Überziehungskredite und Ratenzahlungen per Kreditkarte immer seltener. Allein 2018 hat etwa eine Million Beschäftigte ihre Arbeit verloren, sodass die offizielle Arbeitslosenquote auf 13,5%, bei Jugendlichen bis 25 sogar auf 25% gestiegen ist.
Einst versprachen Erdoğan und die AKP Wohlstand für Alle. Diese Erwartungen sind in den vergangenen Jahren des Erdoğan-Regimes die ökonomische Stütze gewesen, ohne die die Popularität des Führers unvorstellbar gewesen wäre. Die türkische Wählerschaft setzt bei aller Borniertheit auf Prosperität, womit nicht unbedingt persönliche Freiheit gemeint ist, sondern in erster Linie: Immobilie, Massenkonsum auf Kredit und zunehmend auch Respekt für den Islam als Alltagsreligion. Erdoğan erfüllte diese Wünsche als Diener des Volkes und mauserte sich so zum Führer des Volkes. Entsprechend kamen Wachstum auf Pump und kreditfinanzierter Konsum bei den Wählern an. Es war bloß eine Frage der Zeit, bis die überreizte Konjunktur abbricht und statt Hoffnung auf Wohlstand Panik sich breit macht. Diese Panik spiegelt sich nun im Wahlergebnis der Kommunalwahlen wider.
Wie auf die Wahlpleite reagieren?
Anders als aber der erste Blick suggeriert, ist die arabeske Platte, die Erdoğan inzwischen auflegt keinesfalls nur allein der Unfähigkeit zum Loslassen geschuldet. Seine Liebe zum Volk mag unendlich sein; die Realität zeigt aber das wahre Ausmaß seiner Panik. Ob er die Wahlpleite einfach hinnimmt, ist fragwürdig und alles scheint offen. Die Liebesgeschichte, die er im Wahlkampf jedoch verkündet hat, überdeckt die symbolische wie ökonomische Bedeutung İstanbuls für ihn und seine Partei.
İstanbul gewährt zwar einen ersten Ausblick auf kommende Wahlen. In erster Linie ist İstanbul aber die türkische Finanz- und Wirtschaftsmetropole schlechthin und hat am türkischen Bruttoinlandsprodukt einen Anteil von etwa 50%. Hier funktioniert das AKP-System mit Schmiergeldern und Korruption wie geschmiert, AKP-nahe Unternehmer ergattern wichtige Milliardenprojekte und das auf Dienst am Volk setzende System läuft hier zusammen. Dahingehend bedeutet ein Verlust İstanbuls auch den Kontrollverlust über dieses Patronagesystem.
Darüber hinaus steht İstanbul als einziger Großstadt der Türkei ein Jahresbudget von etwa 10 Milliarden Dollar zur Verfügung; und es kann, sofern keine Eingriffe aus Ankara erfolgen sollten, sich prinzipiell unabhängig verwalten. Die Stadt beschäftigt 500.000 Mitarbeiter und bietet für viele Gefolgsleute ein Unterkommen. Schon allein deshalb ist der Verlust İstanbuls für Erdoğan nicht lediglich eine Lappalie, über die er hinwegsehen könnte. Entsprechend spielt sich seit dem 31. März ein Drama ab, dessen Ausgang noch ungewiss ist.
Istanbul nicht aus der Hand geben
Darum wird Erdoğan nichts unversucht lassen, um İstanbul in seiner Hand zu halten. Je mehr die AKP die neue Staatspartei wurde, desto korrupter wurde sie auch. Ein wichtiger Kitt dabei ist der Verbund von Unternehmern um Erdoğan, die nahezu alle großen und lukrativen Staatsaufträge erhalten und diese mit günstigen Krediten der Staatsbanken finanzieren. Sie werden Yandaş genannt, Gesinnungsgenossen. Diese Yandaş-Unternehmen um Erdoğan, denen viele Medienhäuser gehören, halten zusammen. Jeder weiß: Fällt der eine, fällt auch der andere. Erdoğan hat dieses System nicht erfunden, er hat es nur über die Jahre vervollkommnet. Die ideale Branche, um eine Yandaş-Wirtschaft einzurichten, ist der Bausektor.
Denn der Verkauf von Grundstücken, die Erteilung einer Baugenehmigung und die Ausschreibung eines Projekts – das sind Entscheidungen der Verwaltung. Erdoğan nutzte diese Möglichkeiten bereits als Oberbürgermeister İstanbuls in den 1990ern, und er nutzt sie auch heute. Ein Wendepunkt war darum das Jahr 2008.
Die türkische Regierung setzte auf die Baubranche, um nach der Weltwirtschaftskrise auf die Beine zu kommen. Erst erlebte der Wohnungsbau einen Boom, getragen von den Aufträgen der staatlichen Wohnungsbaugesellschaft TOKI. Dann folgten von 2011 an die milliardenschweren Großprojekte mit dem Etikett der „Public Private Partnership“ in İstanbul. Damit der Staat sich nicht allzu verschuldet, bauen private Unternehmen Flughäfen, Autobahnen oder Brücken. Und betreiben sie dann auch, bis sie der Staat nach frühestens zwanzig Jahren aufkauft. Plötzlich waren Bauunternehmer wie Orhan Cemal Kalyoncu oder Ali Ağaoğlu die wichtigen Namen der türkischen Wirtschaft – nicht mehr Industrielle aus dem Westen, sondern aus Anatolien. İstanbul ist somit eine sehr wichtige Geldquelle, nicht zu vergessen auch für die zahlreichen Bruderschaften, Orden und Stiftungen. Nun droht dieses gesamte System einzustürzen.
Nichts Gutes für die nächsten Jahre
Folglich verheißen die kommenden vier Jahre, die nächsten regulären Wahlen stehen erst im Herbst 2023 an, nichts Gutes. Erdoğan, der zum hundertjährigen Jubiläum der Republik 2023 an seinem Endziel ankommen will, lässt sich von der derzeitigen Euphorie der Opposition nicht beirren. Längst hat er den Staat und seine Institutionen in seinem Sinne geformt und weiß auch entsprechende Manöver einzulenken.
Entsprechend sollte sich niemand falsche Hoffnungen machen. sondern sich darauf einstellen, dass Erdoğan die Möglichkeiten, die er hat nutzen wird. Gegen ihn spielt die ökonomische Krise und die internationale Isolierung. Vom Krisenverlauf und dem Krisenmanagement der kommenden Monate wird es abhängen, wie Erdoğan reagiert, um nicht soziale Unruhen auszulösen. Die Opposition hat erstmals einen zumindest symbolischen Sieg erringen können und konnte zeigen, dass nicht alles hoffnungslos verloren ist. Die Mär vom unbesiegbaren Erdoğan ist hinüber.
Gelegen kommt ihm aber der massive Umbau der Republik, den er energisch in den vergangenen Jahren vorangetrieben hat. Als ob er geahnt hätte, dass auch sein Ende kommen könnte, und er im Endkampf um seine Existenz alle Karten in der Hand haben will, gehört – seit der Transformation der Republik in ein autoritäres Präsidialsystem – zu seinen Befugnissen auch die Entlassung von Bürgermeistern per Dekret; die Delegation kommunaler Aufgaben wie z.B. die Budgetverwaltung an seine Minister; Eingriffe in die kommunale Selbstverwaltung, z.B. die Schwächung des Bürgermeisters und die Stärkung des Stadtparlaments; die Ernennung von Gouverneuren, die ihre Zustimmung für wichtige Postenvergaben in den Städten geben müssen. So wäre es für ihn ein Leichtes, kurzerhand die Baugenehmigungen im ihm unterstellten Städtebauministerium zu bündeln. Nichts für ungut also.
Erdoğan hat zwar einen heftigen Schlag abbekommen. Er bleibt jedoch der Meister des arabesken Stils und wird es einer nunmehr gestärkten Opposition nicht einfach machen.
Artikel zuerst erschienen auf Jungleblog.