Rafsanjani: Das unrühmliche Ende der Atombomben-Fatwa

Von Detlef zum Winkel.

In vielen Nachrufen wird die wechselvolle Karriere des verstorbenen iranischen Spitzenpolitikers Rafsanjani beschrieben. Dass er als einziger Repräsentant der Islamischen Republik die militärischen Absichten des iranischen Atomprogramms zugab, bleibt dabei unerwähnt.

Im Herbst 2015 war das Wiener Atomabkommen, der sogenannte Joint Comprehensive Plan of Action (JCPOA), bereits unter Dach und Fach. Irans Außenminister Zarif begab sich auf eine Welttournee, um die Politik der Öffnung seines Landes zu erklären, die Regierungen der P5 + 1 Länder feierten den historischen Erfolg der Diplomatie, die deutsche Wirtschaft war schon nach Teheran geeilt, um Geschäfte nach der Aufhebung der Sanktionen anzubahnen, und die Stadt Rom bestellte in weiser Voraussicht graue Pappkartons, um die unzüchtige Nacktheit ihrer antiken Statuen vor den Augen des iranischen Präsidenten Rouhani zu verhüllen, wenn er zum Staatsbesuch eintreffen würde.

Doch bis zum Inkrafttreten der Vereinbarung waren noch einige Aufgaben zu erledigen, darunter das leidige Thema der „Past and Present Issues of Concern“: Hat der Iran ein Atomwaffenprogramm verfolgt oder wurde er zu Unrecht dessen verdächtigt? Damit hatte sich die Internationale Atomenergiebehörde IAEA jahrelang beschäftigt. Bis zum 15. Dezember 2015, so sah es die Roadmap des JCPOA vor, sollte sie die Untersuchung offiziell schließen, damit das umstrittene Thema endlich in der Versenkung verschwindet.

Ob der bestens vernetzte Rafsanjani ahnte, was kommen würde? Jedenfalls trat er die Flucht nach vorne an. Ende Oktober gab er der staatlichen Nachrichtenagentur IRNA ein ausführliches Interview über die Ursprünge des iranischen Atomprogramms. Darin räumte er die militärischen Motive ein, mit denen das Programm in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts gestartet worden war:

„Als wir angefangen haben, waren wir im Krieg (mit dem Irak) und wir wollten diese Fähigkeit besitzen, falls unser Feind eines Tages auf die Atombombe zurückgreifen möchte. Unser Grundsatz war die friedliche Nutzung der Nukleartechnologie, obwohl wir nie die Vorstellung aufgegeben haben, dass wir, wenn wir eines Tages bedroht werden und es zwingend erforderlich ist, ebenso gut die Fähigkeit haben, den anderen Weg zu gehen. (…)

Es gab Gespräche mit den Pakistanern. Dort war ein Atomwissenschaftler namens Abdul Qadir Khan [der sog. Vater der pakistanischen Atombombe, Anm. Mena Watch] (…) Bei einer Reise nach Pakistan bat ich darum, ihn zu treffen. Sie haben mich nicht zu ihm gelassen (…) Ich bin zweimal nach Pakistan gefahren. Jedes Mal habe ich ihn nicht gesehen. Ayatollah Khamenei traf ihn auch nicht. Doch während des Krieges drängten wir beide, die Arbeit zu beginnen (…) Auf jeden Fall waren sie einverstanden, uns ein wenig zu helfen. (…)

Der Irak stand kurz vor der Anreicherung, als Israel [am 7. Juni 1981, Anm. Mena Watch] alles zerstörte. Natürlich war es zuerst unsere Luftwaffe, die mit vier Kampfflugzeugen am 20. September 1980 die Atomanlage in Osirak bombardierte, die fast fertiggestellt war und vor der Befüllung mit Brennstoff stand (…) In diesen Jahren dachten wir alle, wir sollten uns mit Abschreckungswaffen rüsten. Denn ein Ende des Krieges war nicht abzusehen. (…)

Gegen Ende meiner Präsidentschaft war ich (immer noch) so interessiert, dass ich in meiner eigenen Handschrift und nicht einmal maschinengeschrieben 25 Millionen Dollar für das Schwerwasserprojekt angewiesen habe, das damals nicht in Arak, sondern in Alamut in [der Provinz, Anm. Mena Watch] Qazvin geplant war.“

Es war das erste Mal, dass ein iranischer Offizieller die verdeckten Ziele des Atomprogramms zugab. Die Webseite Nuclear Hope, auf der das Interview erschienen war, erklärte nun, es sei „von zionistischen Medien verdreht“ worden. Doch am 1. Dezember 2015 folgte der nächste Paukenschlag. Iran habe ein geheimes Programm zur Erforschung von Atomwaffentechnik unterhalten, erklärte IAEA-Generaldirektor Yukiya Amano:amano

„Die Agentur stellt fest, dass eine Reihe von Aktivitäten, die für die Entwicklung eines nuklearen Sprengkörpers einschlägig sind, in Iran bis Ende 2003 in einem koordinierten Ansatz verfolgt wurden, und dass manche Aktivitäten auch nach 2003 stattfanden.“

2009 sei aber Schluss damit gewesen. Das Statement bedeutete, dass Teheran jahrelang gelogen hatte, dass sich die Balken bogen. Trotzdem begnügte sich der Iran mit einer bescheidenen Gegendarstellung von untergeordneter Stelle. Am 15. Dezember nahm der Gouverneursrat der IAEA den Bericht Amanos entgegen und schloss die Akte, wie es im JCPOA vorgesehen war – obwohl die Agentur gerade die triftigsten Argumente vorgebracht hatte, die für eine Fortsetzung der Untersuchung sprachen. Über eine eventuelle Kontroverse in dem Gremium wurde nichts bekannt. Die Umsetzung der im Wiener Abkommen vereinbarten Maßnahmen konnte fortgesetzt werden.


Gibt es eine Atombomben-Fatwa?

Die Stellungnahme der IAEA geht weit über die Bekenntnisse von Rafsanjani hinaus. Dieser hat eigentlich nur eine Militärstrategie der atomaren Abschreckung und die von Pakistan gewährte Starthilfe zugegeben. Trotzdem hat er den Zorn der iranischen Hardliner weit mehr auf sich gezogen als die Wiener Atombehörde. Die IAEA hätten sie ja als Büttel der arroganten Mächte qualifizieren und ihr Statement als weiteren Beweis für westliche „Iranophobie“ werten können. Das war nach den Äußerungen eines angesehenen ehemaligen Präsidenten nicht mehr möglich. Folglich richtete sich die Wut gegen den Kronzeugen. Ihn konnte man aber nicht frontal angreifen; das hätte seine Enthüllungen erst richtig in die internationalen Schlagzeilen gebracht.

Vor allen anderen befand und befindet sich der Supreme Leader in einer peinlichen Lage. Denn er ist es ja, der die vermeintliche nukleare Friedfertigkeit des Iran in den Rang eines theologischen Dogmas erhoben hatte. Volle zehn Jahre lang hatte sich die iranische Politik auf eine angebliche Fatwa Khameneis gegen Atomwaffen berufen. Daher entbehre der Atomstreit mit dem Westen jeder Grundlage. Immer wieder hatten Sprecher des Regimes erklärt, der sicherste Beweis für die ausschließlich zivilen Zwecke des Atomprogramms sei die Unterwerfung der Republik unter den islamischen Glauben. Der verbiete den Einsatz von Massenvernichtungswaffen, wie der geehrte Führer höchstpersönlich verfügt habe.

Ein Erlass solchen Inhalts wäre an sich hochwillkommen, allerdings erwartet man von Fatwas seit dem Fall Rushdie eher nichts Gutes. Eindringlich wurden die Iraner also gefragt, wo man das Dokument finden könne und wie sein Wortlaut sei. Die Antworten waren stets ausweichend; Khamenei habe seine Fatwa bei dieser und jener Gelegenheit erwähnt, Ex-Präsident Ahmadinedschad habe darauf verwiesen, ebenso Rouhani, Zarif und viele andere Offizielle. Die Fatwa sei so bekannt, dass sich ihre Existenz von selbst verstehe und ihr Inhalt sei ohnehin klar: Atombomben sind unislamisch. Wozu dann noch nach den Details fragen? Auch die westliche Iran-Lobby war nicht in der Lage, den Text aufzustöbern, aber eifrig bemüht, ihn zu interpretieren. Es kommt eben nicht auf Fakten an, sondern auf das Gefühl, was wahr sein könnte oder sollte. Schließlich nahmen auch Obama und Kerry positiv auf die Fatwa Bezug.

rafsanjani_rohani_khameneiNach Rafsanjanis Enthüllungen ist davon nicht mehr die Rede. Khamenei schweigt. Die Fatwa scheint vergessen, ihre Gültigkeitsdauer überschritten. Hat es sie überhaupt gegeben? Die Frage ist an dieser Stelle nicht, ob der Erwerb, Besitz und Einsatz von Atomwaffen für Muslime, Christen oder Juden durch ihren Glauben verboten ist. Das mögen die jeweiligen Theologen klären und werden es hoffentlich bejahen.

Worum es hier geht, ist die Tatsache, dass ein oberster Führer sich die Freiheit nimmt, religiöse Glaubensgrundsätze für rein weltliche, machtpolitische Zwecke zu missbrauchen. Khamenei pflegt offensichtlich einen äußerst souveränen Umgang mit dem Islam. Mal sind Massenvernichtungswaffen Sünde, mal bemüht er sich persönlich um ihren Erwerb. Mal kennzeichnen Atombomben die arroganten Mächte – siehe Hiroshima und Nagasaki –, mal werden sie aber auch von den islamischen Ländern benötigt. Dann wiederum dient eine angebliche Fatwa einem jahrelangen Versteckspiel, in dessen Verlauf das Regime seine atomaren Fähigkeiten unablässig ausbaute. Der Zweck heiligt die Mittel.

Rafsanjanis Erinnerungen haben die Glaubwürdigkeit des Supreme Leader schwer erschüttert. Gehörte er deswegen am Ende seines Lebens zu den Guten? Beileibe nicht! Zuletzt drängte er deutschen Besuchern Verschwörungstheorien über eine Schuld der Juden am Ausbruch des zweiten Weltkriegs auf. Vor diesem Hintergrund muss man den berüchtigten Satz sehen, den Rafsanjani anlässlich des al-Quds-Tages am 14. Dezember 2001 in Teheran äußerte:

„Sollte eines Tages auch die islamische Welt Waffen besitzen, die Israel bereits besitzt, dann würde die Strategie der Imperialisten zum Stillstand kommen, weil eine einzige Atombombe in Israel alles zerstören würde. Jedoch würde dies der islamischen Welt nur schaden. Es ist nicht irrational, solch eine Möglichkeit in Erwägung zu ziehen.“

Dieser Satz ist von Rafsanjani nie zurückgenommen worden. Er wurde auch von Khamenei nie als unislamisch kritisiert.

(Eine andere Version dieses Beitrags ist auf haGalil erschienen.)

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