Die Tötung zahlreicher Anführer hat ein Vakuum an der Spitze der Hisbollah verursacht. Naim Qassem soll die entstandene Lücke füllen.
Vor einigen Tagen gab die libanesische Hisbollah die Wahl von Naim Qassem zu ihrem Generalsekretär bekannt. Er tritt damit die Nachfolge von Hassan Nasrallah an, der am 27. September bei einem israelischen Angriff auf einen Hisbollah-Bunker in einem südlichen Vorort von Beirut getötet wurde. Qassems Wahl erfolgte, nachdem auch der Vorsitzende des Hisbollah-Exekutivrats Hashem Safieddine, der als prominentester Kandidat für die Nachfolge Nasrallahs galt, bei einem israelischen Angriff ums Leben gekommen war.
Wer ist Naim Qassem?
Naim Qassem wurde im Februar 1953 in Kafr Fila im Südlibanon geboren und begann seine Karriere in den Reihen der schiitischen Amal-Bewegung während deren Gründungsphase im Jahr 1974. 1979 trat er aus der Bewegung aus, zeitgleich mit der iranischen Revolution, von der er fasziniert war und die er aktiv unterstützte. Im Jahr 1982 wurde Qassem schließlich zu einer der Gründungsfiguren der libanesischen Hisbollah. Er war drei Amtszeiten lang Mitglied des Schura-Rats, bevor er zunächst stellvertretender Vorsitzender und anschließend Vorsitzender des Exekutivrats wurde.
Seit der Wahl Abbas al-Musawis zum Generalsekretär im Jahr 1991 war Qassem zusätzlich stellvertretender Generalsekretär, eine Position, die er auch nach al-Musawis Tod beibehielt, als Hassan Nasrallah 1992 die Führung der schiitischen Terrororganisation übernahm.
In den vergangenen Monaten vollzog sich ein grundlegender Wandel im Stil von Naim Qassem. Anderes als Nasrallah, der sich seit dem Libanonkrieg 2006 versteckt hielt, legte Qassem sehr viel Wert darauf, soziales Engagement zu zeigen, Journalisten für Interviews zur Verfügung zu stehen und öffentliche Veranstaltungen abzuhalten. Jetz ist er ebenfalls zu jemanden geworden, der sich versteckt hält, nachdem Israel viele seiner wichtigsten Mitstreiter getötet hatte. Jüngst soll er aus Furcht vor israelischen Luftschlägen sogar in den Iran geflüchtet sein, von wo aus er Durchhalteparolen in die Welt schickt.
Naim Qassem sei, so Mohammad Kawa, Forscher am Londoner Progress Center for Policy, für seine Loyalität gegenüber dem Iran bekannt und besuchte die Islamische Republik schon in der Vergangenheit häufig. Der nunmehrige Hisbollah-Chef »ist der Theoretiker der Hisbollah und vertritt die Theorie der Vormundschaft der Rechtsgelehrten«, womit er ganz auf der Linie von Teheran liegt.
Obwohl die Hisbollah bei der Bekanntgabe von Qassems Ernennung den Begriff »Wahl« verwendete, sei es unwahrscheinlich, dass der Schura-Rat der Partei unter den aktuellen Kriegsbedingungen, welche die Sicherheit führender Persönlichkeiten gefährden, zusammentreten konnte, meinte Kawa, der hinzufügte: »Quellen deuten darauf hin, dass Qassems Ernennung aus Teheran kam, insbesondere nachdem der Iran durch die Besuche seines Außenministers Abbas Araqghchi und des Vorsitzenden der Islamischen Beratenden Versammlung Mohammad Bagher Ghalibaf im Libanon die internen Angelegenheiten der Hisbollah neu organisiert hat.«
Wie wird Qassem die Hisbollah leiten?
Während viele der Ansicht sind, dass Hassan Nasrallah die Hisbollah allein kontrollierte und Qassem daher dieselbe Position mit denselben Befugnissen einnehmen wird, treffe diese Annahme nicht zu, meint Bashir Saadeh, Professor an der Universität Stirling und Autor des Buches Hisbollah und die Politik der Erinnerung. Vielmehr leite er sie unter Beratung des Schura-Rats der Partei. Es sei die Persönlichkeit von Hassan Nasrallah gewesen, die »den Eindruck erweckte, dass er alleine die Organisation leitet, aber das ist nicht ganz richtig. Die Entscheidungsfindung der Hisbollah liegt beim Schura-Rat und der Führung«, sagte Saadeh. Die Hisbollah sei eine Organisation sei, die nicht an eine einzelne Person gebunden sei. Daher werde Naim Qassem die Organisation weiterhin auf ähnliche Weise leiten wie sein Vorgänger.
Laut dem Politikanalysten und Chefredakteur der libanesischen Plattform Janoubiyya Ali Al-Amin scheint die Ernennung von Qassem zum Generalsekretär der Hisbollah jedoch bloß eine vorübergehende und keine dauerhafte Lösung zu sein. Er solle die Lücke in der Übergangsphase für die Hisbollah füllen, »die unter den Wirren und der Unfähigkeit zu Konsultationen leidet«, welche durch die zahlreichen Liquidierungen von Spitzenfunktionären seitens der Israelis entstanden ist.
Für den Journalisten ist die Wahl von Qassem »eher der Ausdruck einer Übergangs- als der Beginn einer neuen Phase, welche die zukünftigen Optionen der Hisbollah widerspiegelt, die noch unklar sind, solange der Krieg nicht beendet ist«. Der Libanese ist der Meinung, Qassem sei für die Hisbollah in dieser Phase die günstigste Lösung, denn »sicherlich wäre Qassem nicht gewählt worden, wären die Umstände normal und gäbe es keinen Krieg«.