Wladimir Putin hat anlässlich des G20-Treffens der Financial Times ein langes Interview gegeben. Darin erfahren wir unter anderem, dass nach Meinung des russischen Staatsführers die liberale Idee und der „Multikulturalismus” an ihr Ende gekommen und Angela Merkel mit ihrer Flüchtlingspolitik ein grundlegender Fehler unterlaufen sei; Migranten könnten nach liberalen Grundsätzen schließlich straflos plündern, töten und vergewaltigen, weil ihre Rechte als Migranten zuvorderst zu schützen seien. Putin zieht in diesem Interview auch eine kurze Bilanz der russischen Intervention in Syrien. Eine gewisse innere Verbindung zwischen Flüchtlingsströmen und seinem militärischem Eingreifen in Syrien kommentiert er leider nicht.
In Bezug auf Syrien ist Putin jedenfalls zufrieden. Das risikoreiche Engagement habe mehr als erhofft eingebracht. Und man wird Putin zugestehen können, dass er mitunter auch deutliche Argumente nicht scheut. So habe man in Syrien viele Militante, die bereit waren nach Russland oder in benachbarte Länder zurückzukehren, „eliminiert“ – um hinzuzufügen, dass es sich dabei um viele Tausend gehandelt habe.
Neben der Beseitigung von Islamisten führt er die Stabilisierung der Region an, die auch zur Sicherheit Russlands beigetragen habe. Man habe zudem nun gute Geschäftsbeziehungen zu den Ländern im Nahen Osten und dort eine gewichtigere Position als vorher. Mit der Bewahrung des syrischen Staates habe man ein Chaos wie in Libyen vermieden. Und zudem hätten die russischen Streitkräfte in Syrien praktische Erfahrungen gesammelt, die sie bei bloßen Manövern so nicht bekommen hätten. Letzteren Punkt betont er tatsächlich, und die Ahnung taucht auf: Womöglich ist der Mann bloß ehrlich und gibt seinen Horizont wieder.
Die Intervention in Syrien hat Wladimir Putins Rußland fraglos in eine Position gebracht, die man sich noch vor wenigen Jahren kaum hätte vorzustellen vermögen. Das wirtschaftlich eher abgehalfterte Land hat wieder den Rang einer Art regionalen Supermacht inne. Der Rückzug der USA aus dem Nahen Osten hat Russland ins Zentrum des Geschehens gerückt, keiner der regionalen Akteure kann es nun ignorieren.
Das Eingreifen in Syrien war ein Ticket für die große Bühne und in der Sphäre purer Machtpolitik reüssiert Putin. Hier überspielt er seine Gegner, und ob er dabei Passagierflugzeuge abschießen lässt, oder fremde Territorien annektiert, Wladimir Putin macht ungestraft Weltpolitik. Und er hat dafür seine Claqueure, abgehalfterte deutsche Politiker, Antiimperialisten, Linke, Rechte und zumal Menschen, die eben glauben, dass Flüchtlinge vor allem plündern, töten und vergewaltigen. Das Ganze hat System. Nur muss jemand für die immensen Kosten aufkommen: Die tragen zum Beispiel die Menschen in Idlib, im Nordwesten von Syrien. Dort werden gerade wieder Flüchtlinge en masse produziert, weil die russische Luftwaffe „praktische Erfahrungen“ sammelt.
Und das geht so: Die UN übermittelt in Syrien an die Konfliktparteien die Koordinaten von Krankenhäusern und anderen zivilen Einrichtungen, um sie vor Angriffen zu schützen. Perfiderweise ist offensichtlich das Gegenteil der Fall. Gezielte Luftangriffe lassen eigentlich nur den Schluss zu, dass die russische Luftwaffe die UN-Koordinaten nutzt, um die Situation in den mit Flüchtlingen überfüllten Gebieten weiter auf eine Katastrophe zusteuern zu lassen.
Das strategische Kalkül dabei ist im Syrienkonflikt seit Beginn der Luftangriffe auf die Zivilbevölkerung 2012 unverändert: Der Bevölkerung in den Landesteilen, die nicht unter Kontrolle des Assad-Regimes stehen, wird so klargemacht, dass es kein Hinterland jenseits der Front gibt, in dem ein ziviles Weiterleben ohne ständige Bedrohung möglich wäre. In jedem Augenblick können Kinder in ihren Schulen, Patienten in Krankenhäusern oder Familien in ihrem Heim in wahrsten Sinn des Wortes aus heiterem Himmel getötet werden. Der Sinn dieser Art von Terrorbombardement, dessen Symbol die von der syrischen Luftwaffe genutzten, mit Schrott und Sprengstoff gefüllten „Barrel Bombs“ wurden, liegt auf der Hand – damit werden Menschen vertrieben, mit denen das Assad-Regime nichts anfangen kann.
Mark Lowcock, der für Nothilfe und humanitäre Angelegenheiten zuständige Untergeneralsekretär der UNO hat seit Beginn dieser jüngsten russisch-syrischen Offensive in seinen Berichten an den Sicherheitsrat immer wieder und immer drängender auf die gezielten Angriffe gegen Krankenhäuser und die zivile Infrastruktur hingewiesen. Dabei waren seine Äußerungen zuletzt selbst für den zurückhaltenden und verklausulierten Sprachgebrauch der UNO sehr deutlich. In seinem Bericht von Ende Juni gab Lowckock bekannt, dass das „deconfliction system“ – also die Weitergabe der Koordinaten an die Konfliktparteien – weiterlaufen wird, er fügte jedoch hinzu: „Ich möchte klarstellen, dass dies nach unserer Beurteilung nicht bedeutet, dass das deconfliction system in Idlib tatsächlich medizinische Einrichtungen schützt. Ich bin mir nicht sicher, dass es das tut.“
Die Organisation Physicians for human rights hat die von Lowcocks Äußerungen fein säuberlich umrundeten Leerstellen ausgefüllt. Nach ihrer Auswertung sind von den 566 dokumentierten Angriffen auf Gesundheitseinrichtungen seit Beginn des Konfliktes 90% vom Regime Assads und seinen Verbündeten ausgegangen. Und so bleibt einmal wieder der Appell an ein notorisch desinteressiertes Weltgewissen. Unter den Hashtags #NotATarget und #TheWorldIsWatching twittert Mark Lowcock einen kurzen, emotional anrührenden Film, in dem der zivilen Bevölkerung und den Flüchtlinge in Idlib von Seiten der UN versichert wird, dass sie keine Bombenziele seien. Der Film ist wirklich sehr anrührend. Vermutlich hat ihn Putin nicht angeschaut.
To the civilians of Idlib, Syria:
We see you
We stand with you
You are not forgotten
You are #NotATarget#TheWorldIsWatching— Mark Lowcock (@UNReliefChief) 27. Juni 2019