Der Großteil der israelischen Bevölkerung wünscht sich einen Konsens, damit in Israel wieder politische Ruhe einkehren kann, doch die Proteste finden kein Ende. Zwei der prominentesten Kritiker der israelischen Justizreform seien hier vorgestellt.
Die gegenwärtig-turbulenten Zeiten in Israel haben eine Frau und einen Mann in die Schlagzeilen gebracht, die unterschiedlicher nicht hätten sein können: Sie ist linksliberal, er rechtskonservativ; sie durch und durch Physikerin, die mit Politik eigentlich nichts zu tun haben will; er ganz Journalist und TV-Kommentator, der die Staatskunst liebt und lebt. Sie war bislang unbekannt, er galt schon lange als prominent.
Trotzdem: So verschieden die beiden auch sind, Shikma Bressler und Amit Segal sind sich in einem Punkt einig: Die weiteren Schritte der geplanten Justizreform sind bestürzend und katastrophal.
Physikprofessorin ohne politische Ambitionen
Bis vor Kurzem hat in der israelischen Öffentlichkeit kaum jemand von Shikma Bressler etwas gehört. Die Professorin für Physik am renommierten Weizmann Institut widmete sich der Teilchenphysik. Als aktives Mitglied eines internationalen Teams experimentierte die Mutter fünf heranwachsender Töchter mit Teilchendetektoren am Large Hadron Collider bei CERN, um, wie sie sagt, »die anderen 95 Prozent des Universums zu verstehen, über die wir bislang nichts wissen«.
Politische Ambitionen hegte Bressler keine, obschon sie bereits im Jahr 2020 die massive Protestaktion »Schwarze Flaggen« gegen Benjamin Netanjahu mitbegründet hatte. Damals hatte der Premier wegen des im Land wütenden Coronavirus den Ausnahmezustand verhängt und den Obersten Gerichtshof gesperrt. Zwar begründete er den Schritt seinerzeit mit Gesundheitsüberlegungen, allerdings wähnten viele Israelis dahinter Netanjahus eigennützigen Versuch, die laufenden Verfahren gegen ihn zu verzögern. Schon damals skandierte die Professorin bei Demonstrationen lautstark »Demokratie!«.
Den Grundsatz hat sie mittlerweile in zahllosen Ansprachen und Auftritten als flächendeckendes Schlagwort der aktuellen Protestaktion eingeführt. Immer beliebter und bewunderter wurde die selbstbewusste Professorin in den vergangenen Monaten. Als sie vor einigen Wochen den tagelangen Fußmarsch nach Jerusalem anführte, um gegen die Einschränkung beziehungsweise die Abschaffung der »Vernunftklausel« zu protestieren, etablierte sie sich endgültig als das Gesicht der massiven Proteste gegen die Justizreform.
Heute sieht Shikma Bressler, die sich selbst »politische Zentralistin« nennt, keinen anderen Ausweg mehr, als der bestehenden Regierung den Garaus zu machen, um das »Land zu retten«. Es gäbe nur zwei Möglichkeiten, erklärte sie kürzlich in einem Interview für die New York Times: »Entweder wir gehen an einen sehr dunklen, extremen, rassistischen Ort, an dem das Land Israel, das wir kennen, zerstört wird, oder wir bauen eine neue, stärkere, bessere Demokratie zum Wohle aller Menschen auf.« Die Regierung könnte die Öffentlichkeit nicht länger erdrücken, sie hätte ihre Legitimation verloren und würde letztendlich kollabieren.
Konservativer Kommentator übt Kritik
Auch Amit Segal übt erhebliche Kritik an der Regierung. Allerdings kommt der konservative Journalist, der durch seine täglichen Fernsehauftritte und ausgewogenen Analysen in weiten Kreisen Gehör findet, aus einer ganz anderen Ecke. Er ist der Ansicht, dass dem Hohen Gericht in den vergangenen dreißig Jahren zu viel Macht zuteilwurde und hält eine Reform des Justizsystems für notwendig. Allerdings sieht er, wie er in einer Kolumne in der Tageszeitung Yediot Achronot erklärte, die Lösung in einem langsamen, vorsichtigen, kompromissträchtigen Prozess.
Justizminister Yariv Levin und der Vorsitzende des Knesset-Verfassungsausschusses, Simcha Rothman, hätten dem Land hingegen »einen Horrortrip« verpasst, der die nationale Wirtschaft maßgeblich geschröpft und der Koalition einen mächtigen Mandatsverlust eingebracht hat. Besonders »töricht, halbherzig und geradezu verdorben« findet Segal die neue Initiative zur Richterauswahl. Dabei ist vorgesehen, dass die Sitze im Justizausschuss zu gleichen Teilen zwischen Koalition und Opposition aufgesplittet werden. Dies würde nur zu einer Pattsituation führen, argumentiert Segal, bei der entweder die extremsten Kandidaten beider Seiten oder lauter schwache Richter gewählt werden würden, auf die sich alle einigen können.
Über sein früheres Idol Benjamin Netanjahu schüttelt Segal mittlerweile lediglich den Kopf. Wohin, so fragt er, sei der »Rainmaker« verschwunden, der seine Fraktion mit Gespür und Charisma im Griff hatte und es verstand, geschickt zwischen den Gemäßigten und den Extremisten in seinem Lager zu manövrieren? Heute würde sich der Premier, wohl aus Angst ob seiner persönlichen, verzwickten Lage, einfach von diversen Ministern führen lassen. Netanjahu, so Segal, solle endlich eingreifen, bevor es zu spät sei, denn eine solche grundlegende Änderung wie die Reform des Justizsystems sei schließlich Chefsache. (Allerdings ist es noch gar nicht sicher, ob Netanjahu überhaupt eingreifen darf.)
Aber nicht nur Netanjahu ruft Segal zur Räson. Auch an die Oppositionsführer und die Präsidentin des Obersten Gerichtshofs, Esther Hayut, appelliert der bekannte Journalist. Sie alle sollten das Gebot der Stunde erkennen und »subtilen, aber wichtigen Justizänderungen« zustimmen.
Verhärtete Fronten
Der Großteil der israelischen Bevölkerung wünscht sich tatsächlich einen Konsens. Allein die betroffenen Entscheidungsträger bleiben ungerührt. Die Oppositionsführer sehen keinen Sinn mehr in direkten Verhandlungen mit der Koalition. Netanjahu spricht in diversen Interviews mit der ausländischen Presse davon, das Kernstück der Reform, nämlich die Neukonfigurierung des Jusitzausschusses, ungeachtet der Proteste voranzutreiben, und das Oberste Gericht hat soeben eine einstweilige Verfügung gegen das von der Regierung verabschiedete Entmündigungsgesetz erlassen.
Den Israelis bleibt, wie immer, die Hoffnung auf ein Wunder.