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Proteste in Israel: Netanjahus letzte Chance?

Hat Netanjahu den Widerstand gegen die Justizreform unterschätzt?
Hat Netanjahu den Widerstand gegen die Justizreform unterschätzt? (© Imago Images / Xinhua)

Israels alter, neuer Premierminister Benjamin Netanjahu unterschätzte das Kulturkampfpotenzial und die Auswirkungen auf die Sicherheitslage im Land.

Der Gründer des modernen Zionismus, der assimilierte Theodor Herzl, wollte seinen Judenstaat nicht unbedingt im Land Israel errichten, zumindest als Provisorium war er auch mit anderen Lösungen wie Uganda einverstanden. Sein Modell sah eine strikte Trennung von »Synagoge und Staat« vor, ähnlich, wie sie in liberalen europäischen Kreisen gängig war.

Die osteuropäischen Pioniere, die ins Land Israel kamen, waren teilweise von marxistischem Gedankengut geprägt und wollten die historische Anomalität, dass die Juden kein eigenes Siedlungsgebiet und damit gemäß der marxistischen Nationalitätentheorie kein Recht auf Selbstbestimmung hatten, korrigieren.

Beide – die bürgerlichen Zionisten und die zionistische Linke – erwarteten sich einen Staat, in dem Juden, ohne weiterhin vom Antisemitismus bedroht zu sein, wie alle anderen Völker in Frieden leben konnten. Der einzige spezielle, wenn auch eher schwache jüdische Inhalt war die Etablierung des Staates im historischen Israel.

Religiöse Zionisten und Nationalisten wie die Revisionisten spielten lange Zeit eine untergeordnete Rolle. Erst die Einwanderung die Shoah überlebender, allerdings nicht-zionistischer orthodoxer Juden und jene von Flüchtlingen aus arabischen Ländern verstärkt einsetzend im Jahr 1948 brachte eine zunächst noch ohne politische Folgen bleibende demografische Änderung in der ideologisch-religiösen Ausrichtung.

Aufstieg des Likud

Während die jüdische Orthodoxie mit dem Staatsgründer David Ben Gurion einen »historischen Kompromiss« einging, der einen oft zitierten Status quo festlegte, wonach etwa die religiösen Speisegesetze in staatlichen Institutionen, der Shabbat als Ruhetag sowie das religiöse Personenrecht gelten sollte und die Studenten von Jeshivot (Talmudhochschulen) vom Wehrdienst weitgehend ausgenommen wurden, brachte erst die gesellschaftliche Erschütterung nach dem Jom-Kippur-Krieg eine politische Wende weg von der Arbeiterpartei, der Partei der weitgehend europäischen Mittelschicht, hin zum nationalliberalen Likud Menachem Begins, der sich weitgehend auf die Sefardim, die meist traditionellen jüdischen Flüchtlinge aus den arabischen Staaten, stützte, die sich von der Arbeiterpartei übergangen fühlten.

Der siegreiche Sechstagekrieg einerseits und der Schock des Jom-Kippur-Kriegs andererseits stärkten den nationalreligiösen Flügel der Orthodoxie. Im Gegensatz zu den strenggläubigen Haredim, die im Zionismus eine profane Vorwegnahme der Rückkehr ins eigene Land sahen, die der messianischen Zeit vorbehalten sei, interpretierten Nationalreligiöse die Errichtung des Staates und erst recht die nach dem Sechstagekrieg erlangte Kontrolle über das Westjordanland als »Atchalta ha Geula«, messianisch als Beginn der Erlösung. 

Gruppierungen wie Gush Emunim traten für eine weitgehende Besiedlung in den von ihnen als Juda und Shomron (Judäa und Samaria) bezeichneten Gebieten ein, während die Linke aus grundsätzlichen und demografischen Gründen zu weitgehenden territorialen Zugeständnissen bereit war.

Der umstrittene Libanonkrieg 1982 erbrachte für die Arbeiterpartei die Möglichkeit einer Rückkehr an die Regierung.Die folgenden Regierungen unter Yitzhak Rabin und Ehud Barak sowie die von Ehud Olmert scheiterten an der doppelzüngigen Haltung des Palästinenserführers Jassir Arafat und seines Nachfolgers Mahmoud Abbas, welche die Idee des Oslo-Abkommens »Land für Frieden« durch die Terrorfinanzierung und -förderung ad absurdum führten.

So kehrte der Likud mit Benjamin Netanjahu wieder an die Regierung zurück, während der Oberste Gerichtshof weitgehend in der Hand der alten europäischen Elite blieb.

Fehler Netanjahus

Israel hat bis heute keine Verfassung. Um keine Entscheidung über einen Bezug auf Gott treffen zu müssen, wurde die zweideutige Wortwahl »Fels Israels« gewählt und auf eine Verfassung verzichtet. Das Parlament beschloss stattdessen einzelne Basisgesetze. Dies hatte allerdings zur Folge, dass sich das Oberste Gericht veranlasst sah, insbesondere seit der Amtszeit des Obersten Richters Aharon Barak, zunehmend legalistische Grundsatzentscheidungen zu treffen und auch einzelne Basisgesetze umzuformen. Ideologisch gesehen blieb der Oberste Gerichtshof weitgehend ein Refugium der europäischen linksliberalen Einwanderer.

Eine Justizreform, die lediglich die Möglichkeit des Obersten Gerichtshofs eingeschränkt hätte, juristische Grundsatzentscheidungen zu treffen, die eigentlich dem Parlament zukommen, wäre wohl auf weniger Widerstandgestoßen, sondern hätte umgekehrt zu einem Gleichgewicht zwischen Legislative und Justiz geführt. Die Errichtung einer zweiten Parlamentskammer, abgesehen von der Ausarbeitung einer Verfassung, hätte geholfen.

Die vorgesehene Möglichkeit, einen Beharrungsbeschluss des Parlaments bereits mit einer einfachen Mehrheit von 61 (von 120) Abgeordneten fassen zu können, ließ das Pendel jedoch wieder in die andere Richtung ausschlagen. Dies umso mehr, als vielfach ein Zusammenhang zwischen den persönlichen Interessen Netanjahus, gegen den mehrere Ermittlungsverfahren wegen Korruptionsvorwürfen laufen, und der beabsichtigten Schwächung des Obersten Gerichtshofs gesehen wird.

Die Regierungsteilnahme radikaler Persönlichkeiten wie Itamar Ben-Gvir mit extrem rechten und homophoben und gegen LTGB-Personen gerichteten Äußerungen sowie die Subventionierung der Orthodoxie wirkten zusätzlich provokativ: die säkulare Bevölkerungshälfte wachte auf. 

Trotz dem in Meinungsumfragen ermittelten Verlust der Mehrheit für die Regierungsparteien dümpeln die Linksparteien allerdings weiterhin an der Grenze des Parlamentseinzugs herum. Andere Führungspersönlichkeiten des Oppositionslagers wie Avigdor Liebermann oder Gideon Saar sind ehemalige Mitarbeiter und Weggefährten Netanjahus, also sicherlich nicht linksgerichtet. Die Frage bleibt allerdings offen, ob nicht Likud-Politiker langsam genug von Netanjahu bekommen und sich aus seiner Umklammerung befreien wollen, wie dies Verteidigungsminister Yoav Galant unlängst anklingen ließ. 

Netanjahu ist zwar ein alter politischer Fuchs, aber dieses Mal könnte er einen gravierenden Fehler begangen haben – und zwar innenpolitisch und sicherheitspolitisch, denn eine Fortsetzung des innerisraelischen Kulturkampfs könnte im Ernstfall die Handlungsfähigkeit des Landes gegenüber dem Iran beeinträchtigen. Nahezu gleichzeitige Raketenangriffe aus Syrien, dem Libanon und Gaza waren ein Vorzeichen. Eine Einigung zumindest mit Teilen der Opposition wie der Partei von Benny Gantz mag Netanjahus letzte Chance sein.

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