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Pogrom von Amsterdam: Verdienen die Täter nicht unser Verständnis?

Nach dem Spiel Ajax Amsterdam gegen Maccabi Tel Aviv kam es zu einem Pogrom gegen die israelischen Fans
Nach dem Spiel Ajax Amsterdam gegen Maccabi Tel Aviv kam es zu einem Pogrom gegen die israelischen Fans (© Imago Images / ANP)

Jedes Pogrom und jede antjüdischen Hetzjagd haben eine »Vorgeschichte«, einen »Anlass«, der die Täter in Wut versetzt. Das macht deren Taten aber nicht weniger zu antisemitischer Gewalt.

Die Jüdin Klara DeHond, geboren 1931 in Amsterdam, ist eine Überlebende des Holocaust. Sie erinnert sich:

»Bevor die SS uns holte, ersann meine Mutter einen Plan, damit die Nazis weder mich noch meinen kleinen Bruder Simon mitnehmen würden. Meine Eltern taten so, als sei mein Bruder sehr krank. Meine Mutter wies mich an, wenn die SS an die Tür klopfte, sollte ich ihnen sagen, dass er Masern hätte und ansteckend sei. Ich wurde ermahnt, nie zu viel zu sagen und für mich zu bleiben. Uns allen wurde eingebläut: ›Sag nicht, wer du bist und gib nicht zu, dass du Jude bist.‹«

Ein anderer Plan der Mutter sah vor, dass Klara in den dritten Stock des Hauses ging und sich dann wie durch einen Unfall die Treppe in den zweiten Stock hinunterfallen ließ. Egal, ob sie verletzt sei oder nicht, solle sie laut schreien, damit die Nazis sie in Ruhe ließen.

»Also ging ich nach oben und ließ mich vom dritten Stock fallen. Ich hatte so starke Schmerzen, dass ich nicht stehen konnte; die SS nahm weder mich noch meinen kleinen Bruder oder meine Mutter mit. Aber sie nahmen meinen Vater, meinen älteren Bruder und meine Schwester mit. Sie brachten sie und die anderen Juden zum Theater Hollandsche Schouwburg an der Plantage Middenlaan, das heute eine Gedenkstätte für die niederländischen Opfer des Holocaust ist.«

Später wurde auch Klaras Mutter abgeholt. Die Nationalsozialisten nannte das ehemalige Theater »Umschlagplatz Plantage Middenlaan«. Zehntausende Juden wurden ab 1942 von hier in die Konzentrations- und Vernichtungslager gebracht. Ende 1943 wurde die Hollandsche Schouwburg geschlossen. Amsterdam galt nunmehr als »judenfrei«.

Derselbe Ort, April 2024

Ein Holocaust-Museum wird feierlich eröffnet. Judenhasser, die in der Presse als »pro-palästinensische Demonstranten« bezeichnet wurden, beschimpfen die Besucher. Die niederländische Tageszeitung De Telegraaf berichtete:

»Die Eröffnung des einzigen Shoah-Museums der Welt, das an einem Ort der Judenverfolgung steht, wurde maßgeblich von aggressiven Demonstranten überschattet, die die Situation in Israel ausnutzten, um genau an diesem Ort ihren Protest zu veranstalten. Sogar die Flagge von Samidoun war zu sehen. Diese Gruppe wurde in Deutschland wegen Judenhasses und wegen ihrer Verstrickung mit der Hamas verboten, hat aber in den Niederlanden freie Hand. ›Es ist eine große Schande‹, sagten einige Teilnehmer.«

Der Ort, an dem Demonstrationen erlaubt waren, lag nur wenige Meter vom Holocaust-Museum in der Plantage Middenlaan entfernt, wo damals rund sechshundert jüdische Kinder aus einer Kindertagesstätte geschmuggelt worden waren, wo sie auf ihre Deportation warteten.

Der Bericht des Telegraaf fährt fort, die Polizei sei vor Ort gewesen, habe aber erst eingegriffen, als einige Demonstranten auf einen Polizeiwagen kletterten. Ein Fahrzeug wurde mit roter Farbe beschmiert. Unter anderem wurde darauf das Wort »Völkermord« aufgesprüht. Außerdem wurden die Reifen angestochen.

Besetzung der Universität

6. November 2024. Die Universität Amsterdam hat die Kosten für die Besetzung der Universität durch »pro-palästinensische Demonstranten« bekannt gegeben. Die direkten und indirekten Schäden belaufen sich auf rund 4,1 Mio. Euro und sind folgendermaßen aufgeschlüsselt:

  • Kosten für Reparaturen und Schäden an der Außenseite von Gebäuden: 600.000 Euro,
  • Kosten für Reparaturen und Schäden innerhalb von Gebäuden: 300.000 Euro,
  • Kosten für Schäden am Gastronomieeigentum und Umsatzeinbußen für den Caterer: 400.000 Euro,
  • Kosten für Schäden an Sicherheitseinrichtungen: 30.000 Euro,
  • Verzögerung bei der Arbeit an der neuen Universitätsbibliothek: 2,8 Mio. Euro.

Die hinzukommende Kosten für die Sicherheit von bislang 140.657 Euro werden von der Universitätsleitung so erklärt: »Die Universität von Amsterdam musste das ganze Jahr über während der Proteste zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen ergreifen, Gebäude mussten manchmal geschlossen werden oder einen Pförtner an der Tür haben, und auch nachts war Sicherheit erforderlich. Die geschätzten Kosten hierfür belaufen sich bisher auf 140.657 Euro. Dieser Betrag ist in den oben genannten Schadensbeträgen nicht enthalten.«

November 2024

Hunderte Täter verabredeten sich über Messaging-Apps zur »Judenjagd«. FAZ-Redakteur Thomas Gutschker will uns glauben machen, dass es da nichts zu sehen gebe. Seine Enthüllungen über eine angebliche »Vorgeschichte« leitete er dramatisch ein:

»Groß war das Entsetzen, als sich am Freitag die Bilder und Nachrichten aus Amsterdam verbreiteten: Vermummte junge Männer, die Jagd auf israelische Fußballfans machten, sie niederschlugen und auf sie eintraten. Von einer ›pechschwarzen Nacht‹ sprach die Bürgermeisterin der Stadt, die Grünenpolitikerin Femke Halsema.«

Doch »der Gewaltausbruch in der Nacht von Donnerstag auf Freitag« sei »nicht aus heiterem Himmel« gekommen, weiß Gutschker. »Anhänger von Maccabi Tel Aviv« hätten »Araber mit Gesängen provoziert und ein Taxi angegriffen«. Das ist die »Vorgeschichte«, die man unbedingt kennen müsse. Der Begriff wird in dem Artikel und der Überschrift insgesamt dreimal benutzt. War die »Vorgeschichte« nicht vielleicht auch, dass die Besucher des Holocaustmuseums als »Krebszionisten« beschimpft wurden? Dass ein antisemitischer Mob auf dem Universitätsgelände Schäden in Millionenhöhe verursachte und die Hochschule nun Tag und Nacht von Sicherheitsdiensten bewacht werden muss? Nein. »Vorgeschichte« im engeren Sinne heißt: Die Juden sind schuld.

Gutschker hat ein Video gesehen, das zeigt, »wie ein Mann mit einer Eisenkette auf ein Auto zugeht und darauf einschlägt«. Auf dem Video von dem Vorfall selbst sieht es nach einem Gürtel aus, das bestätigen auch die Behörden. Da versteht man, warum Taxifahrer und Männer auf Motorrollern kreuz und quer durch die Stadt fahren, um Ausschau nach Israelis zu halten. Es war ein »Zuschlagen und abhauen« – sie könne verstehen, dass das »Erinnerungen an Pogrome« weckt, sagte Bürgermeisterin Femke Halsema hingegen.

Gutschker legt nahe, dass die Opfer zumindest mitschuldig seien. Das bisherige Bild sei gewesen: »Arabischstämmige Männer fielen über wehrlose und friedliche israelische Fußballfans her.« Das muss revidiert werden, meint der Journalist. »Das alles«, schreibt er, »gab es natürlich auch, aber es war nicht das vollständige Bild«. Was war das vollständige Bild? Gutschker zählt auf: Irgendjemand habe eine nicht näher bezeichnete Flagge »von einem Haus abgerissen«, eine andere – eine »palästinensische« – sei »angezündet« worden. Auf dem Dam-Platz habe jemand »Fuck you, Palestine« gerufen, »Transparente mit israelischen Kriegshelden« seien gezeigt und ein Feuerwerk gezündet worden. Jemand habe »Tod den Arabern« gerufen. Außerdem hätten Anhänger von Maccabi Tel Aviv »Araber mit Gesängen provoziert«, zählt Gutschker auf.

Anschuldigungen ohne Beweise

Nachdem »ein Mann« mit einer Kette auf ein Taxi geschlagen habe, sei dieses »zerstört« gewesen, schreibt Gutschker. Laut Polizeiangeben gibt es Kratzer an der Karosserie und eine Scheibe ist kapput. Verbrannte Erde. Wir haben uns den Ketten- bzw. Gürtelangriff wie Shermans Marsch zum Meer vorzustellen. Der Täter? Unbekannt. Gutschker behauptet nicht einmal, irgendetwas über ihn zu wissen, sondern schreibt nur von einem »Mann«. Dass der Mann Israeli gewesen sein muss, scheint für ihn klar, rechnet er den Vorfall doch zu der »Vorgeschichte«, die man unbedingt kennen müsse, wolle man sich ein fundiertes Urteil bilden.

Auch weiß der Autor von einem »Video, in dem mehrere Unbekannte eine Person zu Boden stoßen und treten«. Wer sind diese Leute? Gutschker hat da so einen Verdacht, was ihm fehlt, sind jedoch Beweise: »Ob das Maccabi-Anhänger waren, ist nicht zu erkennen; der Polizeichef erwähnte diesen Vorfall nicht.« Man kann nichts erkennen und es gibt auch keine Informationen der Polizei. Und doch suggeriert der Autor, dass die Maccabi-Anhänger in diesem Fall doch wohl die Täter gewesen sein könnten, ja: müssten. Anders kann es ja nicht sein, oder?

Man stelle sich vor, das wäre Thomas Gutschker passiert. Er sitzt friedlich in seinem Auto, auf dem Weg von der FAZ nach Hause. Da kommen Hooligans von den Kickers Offenbach. Einer schlägt mit einer Kette auf sein Auto, andere provozieren ihn mit Gesängen. Jemand ruft: »Fuck Eintracht Frankfurt!« Würde er da nicht auch ausrasten? Würde er nicht über WhatsApp andere Frankfurter Journalisten informieren, um dann gemeinsam Jagd auf alle Menschen zu machen, die im Verdacht stehen, Offenbacher zu sein? Wohl kaum. Doch das Verständnis mit denen, die so etwas tun, ist beim FAZ-Redakteur scheinbar grenzenlos. Sie konnten doch nicht anders. Sie wurden provoziert.

Das reicht Gutschker aus, um Zweifel daran zu wecken, dass es eine »Judenjagd« gab. Mit der vermeintlichen Vorgeschichte ist sie relativiert, so wie Hitlers Angriff auf Polen in den Augen mancher Leute verzeihlich wird, wenn man die Vorgeschichte von Versailles kennt.

Kein Pogrom ohne »Vorgeschichte«

Jedes Pogrom hat seine »Vorgeschichte«, einen »Grund«, einen Anlass, der die Täter in Wut bringt. Der Anlass für die Pogrome gegen die Sikhs in Indien 1984, bei denen Tausende Menschen getötet wurden, war die Ermordung von Indira Ghandi durch ihren Leibwächter, der Sikh war. Lässt das die Pogrome in einem anderen, besseren Licht erscheinen?

Dieser Tage jährte sich die Reichspogromnacht vom 9. November 1938, deren »Vorgeschichte« laut NS-Führung die Ermordung des NS-Diplomaten Ernst Eduard vom Rath durch den jüdischen Attentäter Herschel Grynszpan war. Auch die Judenpogrome des Mittelalters waren stets gründlich motiviert. Meist war es der Ritualmordvorwurf – Juden hätten ein Kind entführt, um es zu töten und mit seinem Blut Matzen zu backen. Oder es war der Vorwurf der Brunnenvergiftung. Oder jener der Hostienschändung: Juden hätten Hostien aus der Kirche gestohlen, um den Leib Jesu Christi ein zweites Mal zu foltern.

Rückkehr der Lynchjustiz

Der Vorwurf, Israelis sollen eine palästinensische Flagge heruntergerissen haben, ist unschwer zu erkennen als der Vorwurf der Hostienschändung in neuem Gewand. Gibt die heruntergerissene und die verbrannte palästinensische Flagge nun im Gegenzug allen Israelis das Recht, Jagd auf willkürlich ausgewählte Personen zu machen, wann immer irgendwo auf der Welt eine israelische Flagge verbrannt wird? Gutschkers Beitrag zeigt Denk- und Argumentationsweisen, die, würde man sie zu juristischen Prinzipien erklären, weit von einem neuzeitlichen Rechtsverständnis entfernt wären:

  • Urteile aufgrund von Gerüchten: Jemand hat ein Taxi »zerstört«? Muss wohl ein Israeli gewesen sein.
  • Kollektive Bestrafung und Lynchjustiz: Wenn ein Israeli ein Taxi angegriffen hat, warum sollen dann nicht (andere) Taxifahrer Jagd auf (andere) Israelis machen?

Das Recht kann offenbar in die eigene Hand genommen werden. Ob vom Autor so beabsichtigt oder nicht, wird Gutschkers Text von vielen als Verständnis für die Täter gelesen werden, die auf ein empfundenes Unrecht mit Gewalt gegen Juden reagieren: Die Täter wurden doch »provoziert«. Dass in einem Rechtsstaat Polizei und Strafverfolgung für das Ahnden von Straftaten wie Sachbeschädigung und Beleidigung zuständig sind, wird vom Autor nicht erwähnt. Willkürlich Gewalt gegen unschuldige Personen zu verüben, die Juden sind oder auch nicht, wird aus der Sphäre des irrationalen Hasses geholt und als irgendwie verständlich präsentiert. Das Reiz-Reaktionsschema »(mutmaßlicher) Jude beleidigt Araber – Araber gehen auf Juden los« erscheint plötzlich allzu logisch.

Ähnlich wie Gutschker argumentieren auch andere. Wenn israelische Fans Fahnen herunterreißen und schänden, dann ist eine darauffolgende Hetzjagd gegen Israelis nicht mehr wirklich eine Hetzjagd, weil die Hooligans es ja provoziert hätten, sagen diejenigen, die seit Monaten das Herunterreißen und Schänden israelischer Fahnen als verständlichen Protest der Palästinenser verteidigen. Ob sie ähnlich kulant wären, käme es deswegen zu Hetzjagden auf Palästinenser? Wohl kaum.

Verständnis für die Täter

Es gibt noch einen Unterschied. Wenn israelische Hooligans Gewalttaten verüben, wird kein proisraelischer Journalist dafür Verständnis zeigen. Die antiisraelischen Journalisten sind mit verständnisinnigen Erklärungen für Judenhasser hingegen oft schnell bei der Hand. Tausend Israelis wurden bei der zweiten Intifada ermordet, bei Bombenanschlägen auf eine von Teenagern besuchte Diskothek oder das Seder-Abendessen von 250 Menschen, zum größten Teil Senioren.

Manche Journalisten erklären das so, dass die Palästinenser halt wütend gewesen seien, weil ein israelischer Politiker einen Spaziergang auf den Tempelberg gemacht hatte. Dies sei »nicht die Ursache, aber der Auslöser für die zweite Intifada mit Tausenden Toten in den folgenden fünf Jahren« gewesen, behauptete etwa Christoph Gunkel im Spiegel. Gunkel, Gutschker & Co. tun so, als fiele ihnen das bizarre Missverhältnis zwischen dem trivialen angeblichen Anlass und den Gewaltausbrüchen nicht auf. Wenn jemand Araber und Muslime ärgert, ist Gewalt die logische Folge, so die Denkungsart.

Man denke an den Terroranschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo. Dass elf Menschen ermordet wurden, fanden einige Anrufer einer Hörfunksendung verständlich, schließlich hatten sie doch radikale Muslime mit Humor provoziert. Verständnis verdienen nun offenbar auch diejenigen, die Menschen verprügeln oder in die Grachten treiben, mögen diese auch mit den Worten »Ich bin kein Jude« um Gnade flehen.

Die Gewalt in Amsterdam ging übrigens auch dann noch weiter, als die Israelis längst abgereist waren. Die tagesschau.de meldete: »Eine Straßenbahn fing Feuer.« Einfach so. Die Berliner Morgenpost weiß etwas mehr:

»Im Westen der Stadt randalierten nach Angaben der Polizei Dutzende vorwiegend junge Männer, sie zündeten Feuerwerkskörper und warfen diese auf Autos. Eine Straßenbahn ging in Flammen auf, berichtete die Polizei auf X. Dabei sollen die Brandstifter ›Krebs Juden‹ gerufen haben, wie ein Video bei X zeigt.«

Und das alles hat laut dem FAZ-Journalisten Gutschker die »Vorgeschichte«, dass ein Mann mit einer Kette auf ein Taxi geschlagen hat. Da konnte ja anschließend gar nichts anderes passieren, der Weg zur Jagd auf Juden und zur brennenden Straßenbahn war vorgegeben. Der erste Bericht von tagesschau.de lautete übrigens so:

»Im Anschluss an das Fußballspiel des niederländischen Erstligisten Ajax Amsterdam in der Europa League gegen Maccabi Tel Aviv ist es in Amsterdam zu gewaltsamen Zusammenstößen von propalästinensischen Demonstranten und israelischen Fans gekommen.«

Da sind Menschen also wie beim Autoscooter zusammengestoßen. Wie würden manche heutige Journalisten über ein mittelalterliches Pogrom berichten, wären sie dabei? Vielleicht so: »In Mainz kam es am Mittwoch zu Zusammenstößen zwischen prochristlichen Demonstranten und verstockten Juden. Dabei kam es zu Toten und Verletzten, Gebäude fingen Feuer. Der Anlass war Berichten zufolge Hostienfrevel durch die Juden.«

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