Egal, ob Justizreform, Massenproteste, Pilotenstreiks oder die angespannte Sicherheitslage – Israel kommt nicht aus den Schlagzeilen.
»Milizpiloten verweigern Einrücken«, titelt der ORF und fährt fort: »Die Proteste gegen den Justizumbau haben die Kerninstitution Israels erreicht: Dutzende Kampfpiloten der Miliz haben angekündigt, nicht zu bevorstehenden Übungen einzurücken. Auch in anderen Einheiten, etwa im Militärgeheimdienst, gibt es ähnlichen Protest. Sollte sich der Protest stark ausweiten, könnte das die Grundfesten des Landes erschüttern.«
Nun erschüttern die seit Wochen andauernden Proteste in Frankreich gegen die Pensionsreform des Präsidenten die Grundfesten eines Landes vermutlich mehr als die Weigerung von 37 Milizpiloten, zu einer (!) Übung nicht einzurücken. Doch was bei Frankreich als politische Folklore abgehakt wird, lässt in Israel gleich »um das Schicksal des Staates bangen«, wie einer (!) der streikenden Kampfpiloten zitiert wird. Auch wenn man allein aufgrund der Bilder von gewaltsamen Protesten seit Jahren eher die Grande Nation im Nahen Osten verorten würde: In den Redaktionsstuben des Landes ist Israel wieder zum Top-Thema aufgestiegen.
Ich mag mich täuschen, aber ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich ausgerechnet diejenigen am meisten um Israels Demokratie sorgen, die das Land schon bisher für einen Außenposten des US-Imperialismus oder einen Apartheidstaat oder beides gehalten haben. In Deutschland und Österreich mag man sich ja traditionell nur schwerlich damit abfinden, in Israel nicht wählen zu dürfen. Dasselbe gilt übrigens auch für die USA, aber da dort gerade ein demokratischer Präsident regiert, sitzt der Schmerz nicht ganz so tief.
Wie auch immer: Rechtsextreme sind in einer Regierung inakzeptabel, egal, wo. Auch in Israel dürfte es gar nicht so leicht sein, jemanden zu finden, der jemanden kennt, der jemanden kennt, der sich über einen Minister für nationale Sicherheit namens Itamar Ben-Gvir freut. In Tel Aviv wäre es wohl ein Ding der Unmöglichkeit.
Rechte Stimmen
Zur Erinnerung: Ben-Gvirs Partei Otzma Jehudit (Jüdische Stärke) scheiterte 2019 mit gerade einmal 1,88 Prozent der Stimmen krachend am Einzug in die Knesset. 2021 bildete Ben-Gvir eine gemeinsame Liste mit der religiös-konservativen HaIchud HaLeumi-Tkuma (Nationale Union-Wiedergeburt) und der religiös-zionistischen Noam (Annehmlichkeit). Das Drei-Parteien-Bündnis der Religiösen Zionisten errang bescheidene 5,12 Prozent. Von den sechs Sitzen in der Knesset gingen vier an die Tkuma unter Bezalel Smotrich und einer an Ben-Gvirs Otzma Jehudit. 2022 kandidierten die Religiösen Zionisten erneut als Wahlbündnis und erzielten 10,83 Prozent. Zu Beginn der 25. Knesset Ende November 2022 spalteten sie sich wieder in drei Parteien auf.
Knapp elf Prozent sind nicht erfreulich. Ebenso wenig wie die 10,3 Prozent für die AfD bei der deutschen Bundestagswahl 2021. Oder der Erfolg der FPÖ, die bei den Wahlen 2017 ein Viertel der Stimmen für sich gewinnen konnte und im Zuge der Ibiza-Affäre 2019 auf 16,2 Prozent fiel. Bei den nächsten Nationalratswahlen dürfte sie ein Ergebnis einfahren, das sie unter Umständen sogar wieder auf die Regierungsbank bringen könnte. In vielen Ländern werden die Ränder des politischen Spektrums stärker, nicht nur in Europa. Israel ist da keine Ausnahme.
Widerstand
Ebenfalls keine Ausnahme ist das Land bei den massiven Protesten der Zivilgesellschaft gegen eine Regierung, die zwar über eine parlamentarische Mehrheit verfügt, aber deren rechter Koalitionspartner vom Großteil der Wähler abgelehnt wird. Man erinnere sich nur an die Angelobung der österreichischen schwarz-blauen Bundesregierung am 4. Februar 2000, die es nicht wagte, vom Bundeskanzleramt über den Ballhausplatz in die Hofburg zu gehen. Das Kabinett Schüssel I ging in die Geschichte ein als erste Regierung der Zweiten Republik, die auf dem Weg zu ihrer Angelobung einen unterirdischen Gang benutzen musste.
Die österreichische Demokratie hat’s ausgehalten, sie ist an Haider und Strache ebenso wenig zugrunde gegangen wie an den sechs Nationalsozialisten in den Kabinetten Kreiskys. Genauso wenig wird die Demokratie in Israel an der aktuellen Regierung zugrunde gehen.
Gelassenheit
Eine Portion Gelassenheit kann beim Blick auf den Nahen Osten nie schaden. Nicht die israelische Demokratie ist in Gefahr, sondern die israelische Regierung. Entweder sie findet in der Justizreform einen Kompromiss, der von einem breiteren Teil der Bevölkerung getragen wird, oder sie wird zerbrechen, und zwar eher früher als später. Kommt sie der äußersten Rechten zu weit entgegen, schwächt sie nicht nur die von einer wachsenden Zahl an amerikanischen Abgeordneten ohnehin infrage gestellte Bindung zu den USA, sondern rückt auch die Ausweitung der Abraham-Abkommen auf Saudi-Arabien und weitere arabische Länder in weite Ferne.
In diesem Sinne warb Staatspräsident Isaac Herzog am Montag in seinem Haus bei rund hundert Bürgermeistern und Gemeinderäten für einen Kompromiss: »Wir sind der Möglichkeit einer Einigung näher denn je. Hinter den Kulissen gibt es zu den meisten Dingen bereits Vereinbarungen. Jetzt liegt es an unserer nationalen Führung, der Koalition und der Opposition, … das Land und die Bürger über alles andere zu stellen«, wird Herzog zitiert.
Anfang Januar schrieb ich an dieser Stelle, eine Gefahr für die Demokratie seien autoritäre Politiker nur dann, wenn sie wesentliche Teile von Armee und/oder Polizei hinter sich hätten. Eine Demokratie ist so stabil wie ihre Institutionen: Gerade die offen vorgetragenen Proteste aus Militär- und Geheimdienstkreisen bezeugen die Stärke der israelischen Demokratie.