Speziell in Kriegszeiten halten es viele Israelis für unsolidarisch und unmoralisch, dass die streng Orthodoxen nicht zu den Israelischen Verteidigungsstreitkräften gehen.
Nahezu den ganzen vergangenen Monat verbrachte ich in Jerusalem. Die Stimmung war gedrückt. Man ist nervös, hört man wieder von einer Gefallenenmeldung und ist bei allem Mitgefühl erleichtert, wenn einem der Name nicht bekannt ist. Ein Teil Israels hat das Problem nicht, nämlich die gerne als »ultraorthodox« bezeichneten Haredim, die Gottesfürchtigen oder Strenggläubigen. Sie müssen keinen Militärdienst leisten, was gerade in Kriegszeiten, in denen besonderer Bedarf an Wehrpflichtigen besteht, nicht verständlich, wenn nicht sogar unethisch und ungerecht gegenüber den anderen ist.
Ein Riss geht oft durch die Familien. Die Zwillingsenkel der besten Freundin meiner Frau sind beide in Gaza. Eltern und Großmutter können kaum schlafen. In einer anderen Familie zeigt sich die Pluralität der israelischen Gesellschaft. Ein Sohn wurde »ultraorthodox« und gehört zur radikalen Jerusalemer Fraktion in Mea Shearim, andere leisten mit fliegenden Schläfenlocken ihren Wehrdienst ab, ein junger Mann wurde nach dem Wehrdienst profan. Doch lassen Sie mich genauer hinschauen.
Bei der Staatsgründung Israels 1948 kam es, um einen Kulturkampf zu vermeiden, zu einer Entscheidung von Ministerpräsident David Ben-Gurion, welche die damals wenigen hundert Talmudschüler vom Wehrdienst befreite. Dies entspricht Regelungen anderer Staaten wie etwa der österreichischen Wehrdienstbefreiung für Theologiestudenten. Nicht bedacht wurde dabei, dass orthodoxe Männer nach Abschluss einer Jeschiwa (Talmudschule) generell ihr Studium in einem Kollel (Talmudschule für Verheiratete) teilweise über viele Jahre hinweg fortsetzen, um dann eine Smicha (Rabbinerprädikat) zu erlangen und auszuüben. Heute gibt bereits es 66.000 Befreiungen vom Wehrdienst, 14.000 zusätzliche würden dieses Jahr hinzukommen.
Oberster Gerichtshof
Die Elite der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte bildeten lange Zeit hindurch die Mitglieder linker Kibbuzim, während Orthodoxe auch nicht wirklich willkommen waren, weil sie mit ihrer religiösen Lebensart militärische Abläufe komplizieren. Aufgrund ihres starken Wachstums machen die Haredim aktuell allerdings etwa fünfzehn Prozent der Bevölkerung aus, die gerade in Kriegszeiten als potenzielle Rekruten fehlen.
Zugleich stellen heute wiederum die Modernorthodoxen oder Haredat (ein Mischwort aus haredisch und datileumi für nationalreligiös) einen zunehmenden Teil des Offizierskorps. Für sie hat die Wiedererrichtung eines jüdischen Staates auch einen religiösen Wert, weswegen es die Institution der Jeshiwat haHesder gibt, eine Kombination aus religiösem Studium und Militärdienst. Für die Haredim wurden mit Nahal Haredi und dem Infanteriebataillon Netzach Jehudi versuchsweise Einrichtungen geschaffen, die es ihnen ermöglichen, ihren Lebensstil mit Geschlechtertrennung und strengen Speisevorschriften mit dem Militärdienst zu kombinieren.
Der Oberste Gerichtshof Israels hatte bereits vor Jahrzehnten die Wehrdienstbefreiung der Haredim mit dem Gleichheitsgrundsatz für unvereinbar erklärt und jetzt neuerlich die Regierung zur sofortigen Einberufung der Haredim aufgefordert. Die Strenggläubigen waren, um sich die finanzielle Unterstützung des Staates für ihre Institutionen zu sichern, durch die Jahrzehnte hindurch Koalitionspartner zuerst der Arbeiterpartei und später des rechtsgerichteten Likud. Daher wurde das Urteil in der Vergangenheit missachtet – und möglicherweise geschieht Ähnliches auch mit dem aktuellen Spruch.
Warum agieren die haredischen Verantwortlichen so unsolidarisch und unmoralisch sogar in Kriegszeiten? Eine der Antworten liegt in der Urangst, ihre Kinder würden einen anderen Lebensstil wählen, kämen sie mit diesem in Kontakt. Manche Haredim sind nicht so ängstlich: So meldeten sich bei Kriegsausbruch einige von ihnen freiwillig, darunter sogar der Sohn des Vorsitzenden der sephardisch-orthodoxen Shas-Partei Deri. 1.800 Haredim dienen derzeit bei der Armee, auf weitere dreitausend wäre das Militär eingestellt.
Relgiöse Gründe
Vier religiöse Gründe zur Ablehnung des Wehrdienstes werden von den verantwortlichen Rabbinern vorgebracht:
- Rabanan lo tzricha netiruta (Torahgelehrte benötigen keinen Schutz) in einer eigenwilligen Auslegung einer Talmudstelle in Baba Batra 7b.
- Der Hinweis auf die Befreiung vom Kriegsdienst des Stammes Levi, der ausschließlich zum Hilfsdienst im Tempel berufen war.
- Torah magna umatzla (Die Torah beschützt und rettet), wonach das Gebet ein wichtigerer Schutz als der Wehrdienst sei. Die Relevanz des Gebetes unbestritten, ist in Analogie hierzu auch der Arztbesuch von Haredim nicht notwendig, wäre das Gebet allein ausreichend.
- Dem Konzept von Teivat Noah (Arche Noahs) nach würden die Haredim quasi durch ihre Absonderung von der schlechten Umwelt das jüdische Gedankengut unbeschädigt den künftigen Generationen überbringen. Dies inkludiert die Ablehnung weltlicher Bildung, aber anscheinend nicht die Entgegennahme finanzieller Unterstützung seitens des Staates oder die Ausstellung von Gefälligkeitsbestätigungen, um dem Wehrdienst zu entgehen.
Hätten die Führer der Haredim mehr Selbstsicherheit gehabt, hätten sie schon längst ein eigenes System von Hesder Jeshiwot entwickelt, das auf ihre Bedürfnisse Rücksicht nimmt, gleich den Hesder Jeshiwot zionistischer Modernorthodoxer. Zu einem Zeitpunkt, an dem fast jeden Tag Juden sterben und auf den Krieg mit der Hamas einer mit der Hisbollah und dem Iran folgen könnte, ist die Haltung der haredischen Verantwortlichen weder politisch noch moralisch vermittelbar.