Oppositionelle in Gaza fürchten sich vor einer Repressions- und Säuberungswelle, sollte ein Waffenstillstand in Kraft treten, ohne dass die Hamas vollständig entmachtet wäre.
In einem Text für den Jewish Chronicle schrieb der Mitbegründer der oppositionellen Bewegung We Want to Live und Präsident der Organisation Palestinian Youth for Development Moumen al-Natour über seine Hoffnungen und Ängste in Bezug auf einen möglichen Waffenstillstand im Gazastreifen: »Für Zehntausende Gazaner wie mich, die seit Langem gegen die Hamas protestieren und ihre Entmachtung fordern, ist die Chance auf einen fragilen Frieden mit einem Gefühl der drohenden Gefahr verbunden.«
Der Aktivist war elf Jahre alt, als die Hamas im Jahr 2007 die Kontrolle übernahm. Zwölf Jahre später organisierte er seine erste Protestaktion unter dem Motto »Wir wollen leben«, ein »Verbrechen« in den Augen der Hamas, für das er von der Terrorgruppe mehrfach inhaftiert und gefoltert wurde. »Heute, mit 29 Jahren, weiß ich, dass es, nachdem ich mich während des Kriegs der Hamas gegen Israel erneut zu Wort gemeldet habe, keine Gnade geben wird, wenn der Waffenstillstand in Kraft tritt.«
Die Hamas gehe immer härter gegen Andersdenkende vor, beobachtet al-Natour. So seien in den letzten Wochen nicht nur viele Kritiker im Rahmen brutaler Einschüchterungsaktionen verprügelt, gefoltert und mit gebrochenen Gliedmaßen zurückgelassen, sondern auch mehr als ein Dutzend Menschen getötet worden, darunter ein guter Freund des Aktivisten. »Sobald der Waffenstillstand verkündet ist, werden die Hamas-Kämpfer aus ihren Tunneln auftauchen, hungrig nach Rache. Auf Telegram kursieren bereits Todeslisten«, machte al-Natour die Lage klar, in der er und andere Hamas-Kritiker sich befinden.
Seinen Text will er nicht als »Schrei nach Mitleid« verstanden wissen, sondern als Warnung: Könne die Hamas auch weiterhin ihre Kämpfer und Funktionäre im Gazastreifen aus dem komfortablen Doha bezahlen, »hat der Countdown für einen weiteren 7. Oktober bereits begonnen«. Der einzige Weg, die Hamas wirklich zu besiegen, bestehe im Aufbau einer zivilen Alternative, nämlich »einer Regierung für und von der Bevölkerung, die sich entschieden gegen die Herrschaft der Hamas stellt. Im Schatten des selbstmörderischen Kriegs von [dem für die Planung des 7. Oktobers 2023 verantwortlichen Ex-Hamas-Chefs] Yahya Sinwar glauben immer mehr von uns, dass dieser tragische Kreislauf endlich durchbrochen werden kann.«
Gefahr für die Hamas
Seine Basisbewegung strebe einen echten und dauerhaften Frieden mit Israel an, nicht nur einen Waffenstillstand. Es gehe darum, dass die verbliebenen israelischen Geiseln endlich zu ihren Familien zurückkehren können; um ein Ende der Korruption und Unterdrückung durch die Hamas und um eine Befreiung von der israelischen Kontrolle. »Wir wollen Arbeitsplätze. Wir wollen Bildung. Wir wollen leben.«
Die Entstehung und Verbreiterung einer solchen Bewegung sei laut al-Natour die größte Bedrohung, der die Hamas heute gegenübersteht. »Deshalb muss die Idee einer von der Hamas befreiten Enklave im Mittelpunkt jedes glaubwürdigen Friedensabkommens stehen. Eine solche Enklave könnte von lokalen Zivilisten verwaltet werden, intern von Kräften aus dem Gazastreifen und extern von neutralen Parteien geschützt werden. Warum nicht eine Pilotzone innerhalb des Gazastreifens einrichten und diese schrittweise ausweiten? Wenn sie Legitimität und Glaubwürdigkeit erlangt, kann sie zu einer funktionsfähigen Verwaltung aus Technokraten und Experten heranwachsen, die bereit ist, das zivile Leben wieder aufzubauen und den einfachen Menschen zu dienen.«
Die Bildung solcher Enklaven würde nicht nur den Menschen im Gazastreifen die Möglichkeit bieten, neue Formen der Selbstverwaltung zu erproben, sondern es könnte auch die Herausforderung bewältig werden, die »humanitäre Hilfe ohne Kontrolle und Diebstahl durch die Hamas zu verteilen – eine Herausforderung, der die neu gegründete Gaza Humanitarian Foundation (GHF) noch nicht vollständig gerecht wird«. Die derzeitige Methode der Hilfsgüterverteilung müsse erheblich verbessert werden, um die Sicherheit der zivilen Empfänger und der humanitären Helfer zu gewährleisten und eine gerechte Verteilung der Hilfsgüter an alle Bewohner des Gazastreifens zu garantieren. »Die neu ermächtigten Bewohner Gazas können dabei im Rahmen einer zivilen Verwaltung nach der Hamas eine entscheidende Rolle spielen.«
Die Dringlichkeit, das Hilfsproblem im Gazastreifen anzugehen, hänge wiederum eng mit dem Grund zusammen, aus dem die GHF überhaupt gegründet wurde: dem Diebstahl und der Ausbeutung humanitärer Hilfe durch die Hamas. Seit Kriegsbeginn ist al-Natour gezwungen, auf dem Schwarzmarkt zu überhöhten Preisen Lebensmittel aus Geberländern zu kaufen, die in Kartons mit der Aufschrift »Nicht zum Verkauf« verpackt sind.
Es sei die Hamas, welche »die Verantwortung für diese Tragödie trägt: Sie hat Hilfsgüter abgezweigt, um ihre Kriegsmaschinerie anzutreiben und ihre Anhänger zu ernähren, sodass sie nicht bei den Menschen ankamen, die sie am dringendsten benötigten.« Deswegen auch sei die Terrorgruppe so verzweifelt bemüht, die Kontrolle über die Hilfsgüterverteilung zurückzugewinnen und das für sie so vorteilhafte System aufrechtzuerhalten, welches das Leiden der Bevölkerung perpetuiert.
Entschlossene Position
Al-Natour fordert eine engere Abstimmung zwischen Europa und den Vereinigten Staaten, um eine einheitliche und entschlossene internationale Position zu vertreten – eine Position, die den Rückzug der Hamas aus dem Gazastreifen und die bedingungslose Freilassung der israelischen Geiseln fordert. »Wenn die Hamas sich weigert, müssen die USA, die EU, Großbritannien und die internationale Gemeinschaft entschlossen handeln, um Enklaven für eine Selbstverwaltung nach der Hamas zu schaffen – wo Hilfsgüter sicher geliefert werden können und Zivilisten ohne Angst leben können.« Das Schicksal der Hamas müsse endlich vom Schicksal der Bevölkerung getrennt werden.
So wichtig eine Zwei-Staaten-Lösung auch sei, »noch dringender ist ein Prozess der Deradikalisierung. Nach dem Krieg müssen wir in einer Sicherheitszone damit beginnen, eine Gesellschaft wiederaufzubauen, die an den Frieden glaubt.« Dazu bräuchte es nicht zuletzt einen neuen Schullehrplan, der die extremistische Ideologie beseitigt, denn »wir brauchen eine neue intellektuelle Revolution, bevor wir überhaupt über langfristige politische Lösungen sprechen können«.
Abschließend betonte al-Natour, dass die Hamas nicht der Gazastreifen sei und der Gazastreifen nicht die Hamas. Der Krieg dürfe für Israelis und Palästinenser zu keiner sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden – und dafür müsse die Hamas endlich entmachtet werden. »Seit mehr als achtzehn Jahren hängt im Gazastreifen eine Atmosphäre der Angst in der Luft. Aber diese Angst beginnt sich zu verflüchtigen. Jetzt ist unsere Chance, einzugreifen und eine Zukunft aufzubauen – bevor die Angst mit aller Macht zurückkehrt.«






