Mena-Watch-Autor Raffael Singer wendet sich in einem offenen Brief an Shoura Hashemi, in dem er auf ihren kürzlichen Auftritt in einer ORF-Diskussionssendung zum Gaza-Krieg Bezug nimmt.
Sehr geehrte Frau Zehetner-Hashemi,
mit einiger Enttäuschung stelle ich fest, dass Sie sich die Zeit nehmen, in öffentlichen Sendungen die – meiner Meinung nach völlig danebengegriffenen – Befunde des Berichts von Amnesty International (AI) zum »Genozid« im Gazastreifen zu propagieren; vier Monate nach Publikation meiner Kritik zum Bericht und Ansuchen um Stellungnahme aber immer noch keine Zeit gefunden haben, mir zu antworten. Im Amnesty-Bericht wird dutzendfach angeprangert, Israel habe nicht auf Anfragen Ihrer Organisation reagiert, vielleicht wollen Sie in dieser Hinsicht ja mit gutem Beispiel vorangehen.
Im Zusammenhang mit dem ORF ZIB Talk vom 3. Juni unter dem Titel »Gaza-Krieg: Ist Kritik an Israel gerechtfertigt?« würde ich gerne zwei Punkte klarstellen, bei denen Sie zu meiner Verblüffung ein ungebührliches Maß an augenscheinlicher Verwirrung an den Tag gelegt haben.
Politisierung
Zum Thema Politisierung haben Sie gesagt: »Ich habe bei keinem einzigen Staat oder bei keiner einzigen Regierung bisher dermaßen schlimme Vorwürfe, persönliche Kränkungen, Beleidigungen, bis hin zu Klagsdrohungen erlebt als [sic] beim Staat Israel. […] In diesem politischen Umfeld wird man sofort in ein Eck gedrängt und ich erlebe das tatsächlich nur, wenn ich Israel kritisiere.«
Persönliche Kränkungen, Beleidigungen und Klagedrohungen sind sicherlich fehl am Platz. Allerdings gibt es wohl kaum einen schlimmeren Vorwurf als den des Völkermords. Wenn Sie den Ursprung der Politisierung suchen, müssten Sie daher in den Spiegel schauen. Das Ausmaß der Unehrlichkeit der Vereinten Nationen und der humanitären Organisationen (inklusive Amnesty International) bezüglich Israel ist atemberaubend. Die Lüge der 14.000 toten Babys innerhalb von 48 Stunden ist lediglich die Spitze des Eisbergs – was ich vom Wahrheitsgehalt des AI-Berichts halte, dürfte Ihnen nach meiner Kritik bekannt sein.
Ich muss zugeben, ich bin weit weniger vertraut mit der AI-Berichterstattung zu anderen Konflikten und kann daher nicht ausschließen, dass dort ähnlich viele Unwahrheiten verbreitet werden. Aber sofern meine Annahme richtig ist, dass in Ihren anderen Wirkungsbereichen wesentlich faktentreuer berichtet wird, spiegelt die außergewöhnliche Reaktion im Zusammenhang mit Israel die außergewöhnliche Verleumdung der humanitären Organisation wider, die Sie vertreten.
Doppelmoral
Und das bringt mich zum Thema Doppelmoral. Dazu haben Sie gesagt: »Es gibt sicher einen anderen Maßstab gegenüber Israel als gegenüber der Hamas.« Hier sind wir einer Meinung, was aber keine Ausrede dafür sein kann, die Verbrechen der Hamas unter den Teppich zu kehren. Der von Ihnen angekündigte Bericht zum Massaker vom 7. Oktober 2023 ist ein schwacher Trost; die Anerkennung der Gräueltaten zeugt bestenfalls von einem absoluten Minimum an Menschlichkeit.
Was Sie der Welt schuldig sind, ist ein Bericht über die Verbrechen der Hamas am palästinensischen Volk: Tunneleingänge in jedem zweiten Haus, überall Waffenlager, Datenzentren unterhalb des UNRWA-Hauptquartiers, Kommandozentralen in Krankenhäusern, Schulen und Moscheen.
Die 340.000 Tonnen an Lebensmitteln, die zwischen dem 19. Januar und dem 1. März in den Gazastreifen gebracht wurden, bedeuten einen dreißigprozentigen Anstieg an täglich verfügbarer Nahrung für den Zeitraum vom 19. Jänner bis zum 18. Mai (Ende der Blockade) im Vergleich zum Krieg bis dahin. Trotzdem sprechen humanitäre Organisationen gleichzeitig von einer Hungersnot und leugnen den systematischen Diebstahl von Hilfslieferungen seitens der Hamas. Wo finde ich Ihre Anerkennung für die Verantwortung der Hamas am Leid im Gazastreifen? Im Genozid-Bericht jedenfalls nicht …
Davon abgesehen ist die Ungleichbehandlung Israels auch gegenüber anderen Staaten, selbst demokratischen, offensichtlich. Es gibt keinen Völkermordbericht zum Krieg in Afghanistan (geschätzt 50.000 tote Zivilisten, elf Millionen Vertriebene), zum Krieg im Irak (mind. 100.000 tote Zivilisten, über vier Millionen Vertriebene), zur US-geführten Koalition gegen den Islamischen Staat (je nach Schätzung bis zu 13.000 tote Zivilisten aufgrund von US-geführten Luftschlägen, ein bis drei Millionen Vertriebene). Es gibt auch keinen Völkermordbericht über den Zivilkrieg im Sudan (150.000 Tote inklusive Massakern an den Masalit und anderen ethnischen Minderheiten, bis zu 500.000 verhungerte Kinder, bis zu zwölf Millionen Vertriebene), über die ethnische Gewalt gegen Rohingya in Myanmar, über die Entführung und Russifizierung 300.000 ukrainischer Kinder, über die Zwangssterilisierungen der Uiguren in Xinjiang.
In all diesen Fällen wird der Begriff Völkermord/Genozid von Amnesty International tunlichst vermieden. Soweit mir bekannt, ist Israel das einzige Land, bei dem AI »rechtlich den Genozid festgestellt« hat und der Gazakrieg der einzige Konflikt ist, bei dem AI vom Genozid spricht, sofern dieser nicht vorher von einem Internationalen Gericht festgestellt wurde. Das ist die Doppelmoral, die Ihnen vorgeworfen wird.
Selektive Wortwahl
Abschließend möchte ich noch anmerken, dass Sie sich in besagter ORF-Sendung auch beim Massaker vom 7. Oktober 2023 demonstrativ geweigert haben, das Wort »Genozid« zu verwenden und stattdessen von »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« sprachen.
Als der israelische Zweig von Amnesty International gegenüber Israel von Verbrechen gegen die Menschlichkeit sprach, sich aber weigerte, einen Völkermord anzuerkennen, wurde er von AI unter der Anschuldigung von »anti-palästinensischem Rassismus« suspendiert. Wie Sie wissen, gehöre ich nicht zu denjenigen, die Ihnen persönlich Antisemitismus unterstellen, aber wie können Sie sich angesichts dieser Heuchelei derart über die Behauptung echauffieren?
Hochachtungsvoll,
Raffael Singer