Von Thomas von der Osten Sacken
Sehr geehrter Herr Bundesaußenminister Heiko Maas,
wie ich lese, wollen Sie also, nachdem die USA angekündigt haben, ihre Zahlungen an das Palästinenserhilfswerk UNRWA einzustellen, als Bundesrepublik einspringen und Ihre Gelder erhöhen?
Kürzlich meldeten palästinensische Quellen, dass im Rahmen des sogenannten „Great March of Return“ in den letzten Monaten bei Ausschreitungen und Demonstrationen am Grenzzaun zwischen Gaza und Israel mindestens 18.300 Palästinenser verletzt und 171 getötet worden seien. Sicherlich haben Sie die Entwicklungen verfolgt, deshalb brauche ich an dieser Stelle auf Hintergründe nicht näher einzugehen.
Es reicht zu wissen, dass es bei diesen äußerst gewalttätigen Protesten keineswegs nur darum geht, die israelische Politik gegenüber dem Gazastreifen zu kritisieren. Vielmehr glauben tausende junger Palästinenser, die dort an den Zaun ziehen, sie hätten ein verbrieftes „Recht auf Rückkehr“ in ein Land, aus dem vor Jahrzehnten ihre Eltern oder Großeltern flohen oder vertrieben wurden. Ja, sie glauben, sie würden eines Tages zurückkehren nach Israel, in Städte wie Haifa, Jaffa oder Lot: Orte, die sie in ihrem Leben noch nie gesehen haben. Und wie ihnen geht es Millionen anderer Palästinenser im Libanon, in Jordanien, Syrien und der Westbank. Sie sind nämlich als Flüchtlinge geboren worden und sie werden, sollte sich nichts ändern, diesen Flüchtlingsstatus auch an ihre Kinder weiter vererben. Dies ist weltweit einmalig, denn überall sonst gilt es ja, Menschen, die flüchten, möglichst schnell in das Aufnahmeland zu integrieren, indem man ihnen einen anderen rechtlichen Staus verleiht. Wenn jemand als Flüchtling etwa nach Deutschland kommt und einen Asylantrag stellt, dann ist er nicht mehr Flüchtling, sondern Asylbewerber, bis über seinen Antrag entschieden wird.
Nicht so mit den Palästinensern, sie werden als Flüchtlinge geboren, Ziel ist nicht ihre Integration in Aufnahmeländern, sondern die „Heimkehr“ in das Land, aus dem ihre Vorfahren stammten: Israel. Und deshalb wächst die Zahl sogenannter „palästinensischer Flüchtlinge“ auch mit jeder Woche, denn jedes Kind, das das Licht der Welt erblickt und „palästinensische Flüchtlinge“ als Eltern hat, ist per Geburt ein weiterer Flüchtling. Die Definition eines palästinensischen Flüchtlings durch die UNRWA nämlich lautet:
„Als palästinensischer Flüchtling gilt jeder, dessen ‚gewöhnlicher Wohnsitz sich in der Zeit zwischen dem 1. Juni 1946 und dem 15. Mai 1948 in Palästina befand und der infolge des Konflikts von 1948 sowohl seine Wohnung als auch seinen Lebensunterhalt verloren hat‘. Palästinensische Flüchtlinge sind jene, die diese Bedingung erfüllen, und die Nachfahren von Vätern, auf die dies zutrifft.“
Hätte es keine UNRWA gegeben, wären also die Palästinenser, die 1948 flohen, wie andere Flüchtlinge auch behandelt worden, so gäbe es heute keine „palästinensischen Flüchtlinge“ mehr, sondern Nachfahren von aus Mandatspalästina stammenden Menschen mit anderer Staatsangehörigkeit, so wie andernorts auch heute Millionen von Menschen, deren Eltern oder Großeltern fliehen mussten oder vertrieben wurden, als Staatsbürger anderer Ländern leben.
Weltweit gibt es von dieser Regel eine Ausnahme: Die Palästinenser. Auf der Grundlage der völkischen Flüchtlingsdefinition, die die UNRWA geschaffen hat und bis heute aufrechterhält, leiden zuallererst jene Menschen, die etwa im Libanon und in anderen arabischen Staaten als palästinensische Flüchtlinge registriert sind und dort unter einer Vielzahl legaler Diskriminierungen zu leiden haben. Sie werden von vielen Akteuren bis heute als „Flüchtlinge“ instrumentalisiert, um die Zerstörung Israels voranzutreiben.
Glauben Sie wirklich, fünf Millionen Menschen, die auf diese Weise künstlich zu „palästinensischen Flüchtlingen“ gemacht wurden und werden, seien ein Stabilitätsfaktor in der Region? Würde es die UNRWA-Definition nicht geben, alleine am Grenzzaun zu Gaza wäre es kaum zu derartigen Szenen gekommen. Denn dann hätten Bewohner von Gaza sich kaum auf ein Rückkehrrecht berufen und versucht, die Grenze zu stürmen. Und das ist nur ein weiteres Beispiel aus der jüngsten Geschichte, wie viel Elend und Unheil diese UNRWA-Definition anrichtet. Die UNRWA-Politik perpetuiert aber nicht nur die missliche Lage der Palästinenser, sie bestärkt auch gleichzeitig Palästinenser darin, Israel nicht wirklich anzuerkennen und daher auch eine Zweistaatenlösung nicht ernstlich umsetzen zu wollen.
Herr Maas, auch Sie müssten wissen, dass es keine wirkliche Lösung für dieses künstlich geschaffene Flüchtlingsproblem geben wird. Sollen fünf Millionen Menschen, wie von palästinensischen Parteien gefordert, ernsthaft nach Israel „zurückkehren“? Ich bin sicher, auch Sie würden niemals eine solche Forderung unterstützen. Was also soll mit Ihnen geschehen? Sollen diese Menschen weiter in Lagern leben müssen, größtenteils ohne staatsbürgerliche Rechte?
In Wirklichkeit dürften Sie, ebenso wie alle Ihre Vorgänger im Amt, ganz genau wissen, dass die sogenannte Flüchtlingsfrage seit Jahrzehnten eines der Haupthindernisse für eine langfristige Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts darstellt. Das alles ist seit Jahrzehnten bekannt. Trotzdem gab es, soweit ich mich erinnere, nie einen Vorstoß seitens der Bundesregierung oder der EU, der auf eine Reform der UNRWA und vor allem ihrer Definition eines Flüchtlings zielte.
Nun ist es ausgerechnet die Regierung von Donald Trump, deren Politik man aus vielerlei Gründen nicht gutheißen mag, die dieses Problem auf die internationale Tagesordnung gesetzt hat. Wie US-Botschafterin bei der UN, Nikki Haley, immer wieder betont, geht es um eine Reform von UNRWA, vor allem aber darum, das so genannte „Recht auf Rückkehr“ aus der Welt zu schaffen.
Wenn es Ihre Sorge ist, dass die massiven amerikanischen Kürzungen zu unmittelbarer Not im Libanon, den palästinensischen Selbstverwaltungsgebieten und anderen Ländern im Nahen Osten führen könnten, dann teile ich Ihre Sorge. Menschen, die auch aufgrund dieser UNRWA-Definition seit Jahren unter elendigen Lebensbedingungen zu leiden haben, sollten am Ende nicht noch den Preis zahlen müssen.
Nur: Wäre es dann nicht eine gute Gelegenheit, selbst einige Reformvorschläge zu präsentieren und zu zeigen, dass auch die Bundesregierung sich des Problems bewusst ist? Leider hört man davon nichts, stattdessen loben Sie UNRWA ausgerechnet als „Schlüsselfaktor von Stabilität“.
Dabei sorgt doch in Wirklichkeit die UNRWA, oder besser, die Art und Weise wie UNRWA zu funktionieren hat, für dauernde Instabilität in der ganzen Region, ja es wäre richtiger, man formulierte das Gegenteil Ihrer Aussage: Die UNRWA ist einer der Schlüsselfaktoren für die anhaltende Instabilität im Nahen Osten! Sicher, die Fehler, die in siebzig Jahren gemacht wurden, lassen sich nicht mit einem Handstreich beheben. Aber ein Anfang müsste endlich gemacht werden. Die Bundesrepublik könnte zusammen mit der EU, wenn sie nur wollte, eine durchaus sehr konstruktive Rolle spielen, etwa auch, indem sie weitere Zahlungen ebenfalls an Bedingungen knüpft.
Stattdessen entsteht der Eindruck, Ihr Handeln sei vor allem eine Reaktion auf die US-Nahostpolitik, die Sie ablehnen. Schon als es um einen anderen Umgang mit dem Iran ging, fiel auf, dass Ihr Ministerium handelte, als sei Ihnen das Verhältnis zum Iran und der Erhalt des Regimes der Islamischen Republik wichtiger als die Gründe, die seitens der USA für ihren Ausstieg aus dem Atomabkommen vorgebracht wurden. Könnte es nicht sein, dass mit Blick auf den Iran und die UNRWA die USA die besseren Argumente haben, auch wenn Sie ihre politischen Alleingänge ablehnen? Wäre es nicht an der Zeit, dass wenn Sie Ihre Aussagen, Sie seien wegen Auschwitz in die Politik gegangen und die Sicherheit Israels läge Ihnen besonders am Herzen, ernst meinen, Sie anders handeln müssten? Wäre es nicht auch endlich an der Zeit, dieses ganze Konzept von Stabilität, die man angeblich erhalten müsse, ganz grundlegend in Frage zu stellen, ein Konzept dem auch Sie anzuhängen scheinen?
Und dabei ginge es dann nicht nur um die Existenz und Sicherheit Israels, die Ihnen ja, wie Sie sagen, sehr am Herzen liegt. Auch Sie wissen sicher, dass in Israel nicht nur die Regierung, sondern die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung sowohl das Iran-Abkommen in seiner jetzigen Form ebenso ablehnt wie das sogenannte palästinensische Rückkehrrecht, ja in beidem jeweils eine existentielle Bedrohung für die Fortexistenz des jüdischen Staates sieht. Nein, es geht auch um die langfristige Perspektive aller Menschen im Nahen Osten, um eine Stabilität, die diesen Namen verdiente und die kaum mit Diktaturen, Theokratien und Herrschern zu haben ist, die die Rechte der Menschen mit Füßen treten.
Und nur für so eine Stabilität, die zugleich keine Bedrohung Israels wäre, lohnte es sich zu engagieren.
Mit freundlichen Grüßen,
Thomas v. der Osten-Sacken
Frankfurt/M den 3. September 2018