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»Nur die Sterne waren nah.« Teil 3: Sehnsucht nach Eretz Israel

»Wahrscheinlich mit Milchwirtschaft«: Chana Szénes in einem Moschaw in Eretz Israel
»Wahrscheinlich mit Milchwirtschaft«: Chana Szénes in einem Moschaw in Eretz Israel (WikiCommons / Public Domain)

Im Februar 1939 – am Vorabend des Holocaust – hält die siebzehnjährige spätere Widerstandskämpferin Chana Szénes an ihrer Schule eine flammende Rede für den Zionismus.

Das Erstaunliche an Chana Szénes’ Hinwendung zum Zionismus ist, dass diese Entscheidung in ihren Tagebüchern kaum vorbereitet wird. Man könnte annehmen, solch ein tiefgreifender Entschluss müsse durch Phasen der Reflexion gegangen sein, doch davon lesen wir nichts. 

Wenn sie im Oktober 1938 lapidar schreibt: »Ich weiß nicht, ob ich schon erwähnt habe, dass ich Zionistin geworden bin«, dann ist das wohl nicht wörtlich zu nehmen. Denn sie wird sicherlich genau gewusst haben, was sie in ihrem Tagebuch geschrieben hat und was nicht. Der Entschluss fiel aber offenbar ziemlich schnell, was nicht bedeutet, dass er nicht gründlich motiviert gewesen wäre. 

Ohne je vom Zionismus zu sprechen, hatte sie ja in den Monaten zuvor gute Gründe für diesen genannt: die bedrohliche politische Lage in Europa; die Judengesetze in Ungarn; der Anschluss Österreichs, durch den Hitler quasi an die Türschwelle der Budapester Juden kam (und der verhinderte, dass Chanas Bruder György wie geplant in Wien Textilwirtschaft studieren konnte und ihn stattdessen zum Ausweichen nach Frankreich zwang). Und nicht zuletzt der Antisemitismus im eigenen Alltag, der Chana Szénes in der Schule begegnete, wo sie das Amt in der Literarischen Gesellschaft, in das sie von den Schülern gewählt wurde, nicht antreten durfte, weil sie Jüdin war.

Chana Szénes konnte zwar lange zweifeln, welcher der richtige Weg wäre – etwa bei der Frage der Berufswahl und ob sie Dichterin werden solle –, aber hatte sie einmal einen Entschluss gefasst, setzte sie ihn ohne zu zaudern in die Tat um. Von der ersten Erwähnung des Zionismus in ihren Tagebüchern bis zu ihrer Ankunft in Eretz Israel vergeht weniger als ein Jahr. In dieser Zeit lernt sie Hebräisch und verfasst – als Teenager – eine programmatische Schrift für den Zionismus.

Der »Straße der zionistischen Bewegung« zu folgen, bedeute ihr mehr als die Anteilnahme an den politischen Geschehnissen in Ungarn, schreibt sie am 12. November 1938, »sowohl emotional als auch spirituell«. Sie lerne Hebräisch und lese über Palästina. 

»Ich bereite mich entschlossen und zielstrebig auf das Leben in Palästina vor. Und obwohl ich gestehe, dass es in vieler Hinsicht schmerzhaft ist, mich von meinen ungarischen Gefühlen loszureißen, muss ich dies in meinem eigenen Interesse und im Interesse des Judentums tun. 

Unsere zweitausendjährige Geschichte rechtfertigt uns, die Gegenwart zwingt uns, die Zukunft gibt uns Zuversicht. Wer sich seines Judentums bewusst ist, kann nicht mit geschlossenen Augen weitermachen wie bisher. Unsere Ziele sind noch nicht ganz klar, und ich bin mir auch nicht sicher, welchen Beruf ich wählen werde. Aber ich möchte nicht nur für mich selbst arbeiten, sondern zum gemeinsamen Wohl der jüdischen Ziele. Vielleicht sind dies nur die vagen und verwirrten Gedanken und Fantasien der Jugend; aber ich denke, ich werde die Kraft, Stärke und Fähigkeit haben, diese Träume zu verwirklichen.«

Acht Tage später schreibt sie:

»Der Gedanke, der mich nun in jedem wachen Augenblick beschäftigt, ist Palästina. Alles, was damit zusammenhängt, interessiert mich; alles andere ist völlig nebensächlich. Selbst die Schule hat etwas von ihrer Bedeutung eingebüßt und das Einzige, was ich hart lerne, ist Hebräisch. Ich kann schon ein wenig … ein paar Worte.«

Sie ist sich »fast sicher«, dass sie etwas in der Landwirtschaft machen möchte, »wahrscheinlich mit Milchwirtschaft«.

Chanukka 1938

An einem Freitagabend, dem letzten Tag von Chanukka, veranstaltet Chana eine Party. Erst um halb sieben am Morgen ist sie im Bett. Als sie zwei Stunden später wieder aufsteht und durch die unordentliche Wohnung geht, die mit Luftschlangen übersät ist, denkt sie, was für eine Enttäuschung die Party war. Die meisten der fast dreißig Gäste sind ihr fremd geworden. Die Zeiten seien auch gar nicht zum Feiern, schreibt sie. Viele ihrer alten Freunde interessierten sie nicht mehr, und auf das Abitur und vieles andere, das ihr einst wichtig war, würde sie verzichten.

»Und vor allem hat sich mein ideologischer Standpunkt seit letztem Jahr so sehr verändert, dass ich die Angelegenheit in einer Zeit, wie wir sie gerade durchleben, als frivol, inhaltslos und in gewissem Maße völlig unnötig betrachten muss. … Ich denke immer wieder, wie schön es gewesen wäre, das gesamte Geld, das die Party gekostet hat, in die Spendenbüchse des Keren Kayemet [der Jüdische Nationalfonds JNF-KKL; Anm. d. Verf.] zu werfen. Oh je, am liebsten würde ich sofort nach Palästina gehen.«

Am 21. Dezember 1938 schreibt sie:

»Dies ist der erste Tag der Ferien, also habe ich wieder Zeit zu schreiben. Heute Morgen habe ich Hebräisch gelernt und einige Zeit damit verbracht, ›Bambi‹ zu lesen, das einmal eines meiner Lieblingsbücher war. Es war nett, es mal wieder zu lesen. Eigentlich kann ich es mir gar nicht erlauben, Zeit darauf zu verwenden, solche Sachen zu lesen, da ich so viele neue Bücher habe, die ich lesen sollte und jetzt ständig alle Arten von Reiseliteratur über Palästina lese.«

Sie erwähnt, wie sie mit einer Freundin über ihre Auswanderungspläne sprach: »Gestern Nachmittag war ich bei Judit Kiss, und es war offensichtlich ihre entschiedene Absicht, es mir auszureden, nach Palästina zu gehen. Natürlich hatte sie keinen Erfolg. Im Gegenteil sagte sie am Ende, vielleicht hätte ich Recht. Sie war unendlich freundlich, und ich versprach, dass ich ihr aus Palästina schreiben würde, und dann würden wir sehen, wer von uns Recht gehabt hätte.«

»… da ich so tief in das Jüdische versunken bin«

Der Tagebucheintrag vom 6. Februar 1939 enthält eine umwerfende Fülle von Informationen über Chanas Reflexionen über den Zionismus. Er beginnt mit dem Erlebnis der Lektüre eines Romans des zionistischen amerikanischen Schriftstellers Ludwig Lewisohn, The Island Within, in der er die Geschichte von vier Generationen von Juden beschreibt, beginnend mit Wilna 1840 bis zur Auswanderung nach Amerika und dem Leben in New York, »von Glauben und Einheit hin zu völliger geistlicher und emotionaler Unsicherheit und Zwietracht in der Familie«, wie Chana kommentiert. Sie fügt hinzu: »Es hat mir sehr gut gefallen. Vielleicht verstehe und genieße ich das Buch jetzt doppelt, da ich so tief in das Jüdische versunken bin. Sicherlich mehr, als wenn ich es vor vielleicht einem Jahr gelesen hätte.«

Das Buch möchte sie jedem zu lesen geben, »der sich fragt, warum er Jude ist (und das sind unglaublich viele)«. Daran anschließend erwähnt Chana die jüngsten antijüdischen Gesetze in Ungarn und einen ehemaligen Verehrer namens Béla, dessen »sehr warme Briefe«, die dieser früher schickte, sie »mit beträchtlich weniger Wärme« beantwortet habe, wie sie schreibt. Nun hatte sie einen Brief von ihm erhalten, in dem er ihr unterstellte, sie habe sich davor gefürchtet, dass er, ein Nichtjude, erfahre, dass sie Jüdin sei. Offenbar – wir erfahren nur andeutungsweise von dem Inhalt des Briefs – meinte Béla zudem, ihr ein Kompliment zu machen, indem er ihr versicherte, dass sie nicht so wie die anderen Juden sei, die er kenne.

»Als ich das las, setzte ich mich sofort hin und antwortete, dass er offensichtlich nicht glauben könne, dass ein jüdisches Mädchen noch Stolz und Selbstachtung besitze. Ich sagte ihm, dass ich, wenn er mich für eine ›Ausnahme von der Regel‹ (dass Juden minderwertig sind) halte, ich nicht als solche (außergewöhnlich) betrachtet werden wolle und dass er bitte daran denken solle, dass er Juden ohne Bedenken zu denen zählen könne, über die er getrost etwas Gutes sagen könne.«

»Was ist das Ziel des Zionismus?«

Es folgt – immer noch im selben Tagebucheintrag – eine Rede, die Chana Szénes, wie sie schreibt, bei einem Treffen der Bibel-Gesellschaft ihrer Schule gehalten hat: »Wurzeln des Zionismus oder Grundlagen des Zionismus.«

Noch vor einigen Jahren, beginnt sie, sei in Ungarn jeder, der vom Zionismus sprach, entweder »ausgelacht« oder als »Verräter Ungarns« beschimpft worden. Heute fingen die Juden Ungarns an, sich mit konkreten Fragen zu beschäftigen: »Wie groß ist Palästina? Wie viele Menschen kann es beherbergen?« Die Frage, die am wenigsten diskutiert werde, laute aber: »Was ist das Ziel des Zionismus?«

Dies sei die wichtigste. Verstehe man diese, werde man zum Zionisten, »egal, wie viele Juden heute oder morgen nach Palästina auswandern können, ob die Bedingungen sich hier verbessern oder verschlechtern, ob es Möglichkeiten der Auswanderung in andere Länder gibt oder nicht«.

Ohne auf die konkreten zeitgenössischen Umstände einzugehen, wolle sie den »absoluten Zionismus« zusammenfassen. Wolle man den Zionismus kurz definieren, gehe das »vielleicht am besten« mit den Worten des Dichters und Journalisten Nachum Sokolov: »Zionismus ist die Bewegung des jüdischen Volkes für seine Wiedergeburt.« Viele würden nun vielleicht widersprechen und sagen, die Juden seien kein Volk. »Aber wie entsteht aus einer Gemeinschaft ein Volk? Aus einem gemeinsamen Ursprung; einer gemeinsamen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; gemeinsamen Gesetzen; gemeinsamer Sprache und einem Vaterland.« Im antiken Palästina habe es all das gegeben. 

»Dann hörte das Vaterland auf zu bestehen, und die Verbindung zum Land über die Sprache wurde allmählich schwächer. Doch das Bewusstsein des Volkes wurde erhalten durch die Torah, diesen unsichtbaren, aber allmächtigen mobilen Staat.«

Chana Szénes spannt einen historischen Bogen von der prekären Situation der Juden im »staatenlosen Mittelalter« über die Judenemanzipation der Moderne – als es vielen Juden ausreichte, gleiche Rechte zu bekommen – hin zur zionistischen Bewegung:

»Tausende und Abertausende nahmen das Konzept und die Ideale des Zionismus an, und plötzlich gab es eine jüdische Nation. Wer meint, es gebe sie nicht, lasst ihn für sich selber reden. Aber lasst ihn nicht jene vergessen, für die Judentum mehr ist als die Angaben auf einer Geburtsurkunde.«

Eine der Grundlagen des Zionismus sei die Einsicht, »dass Antisemitismus eine Krankheit ist, die man weder mit Worten bekämpfen noch mit oberflächlichen Behandlungen heilen kann«. Für eine »Wurzel« des Antisemitismus hält sie die »unnatürlichen Bedingungen«, unter denen Juden in der Diaspora lebten. Dort seien sie nicht in der Lage, ihre »edlen Wesenszüge«, Talente und Fähigkeiten zu entwickeln. Es sei »nicht wahr, dass die Juden in der Diaspora zu Lehrern geworden« seien.

»Im Gegenteil, wir haben uns zu Nachahmern, Dienern und Sündenböcken derer verwandelt, in deren Mitte wir leben. Wir haben unsere Individualität eingebüßt und auf die grundlegendsten Bedingungen des Lebens verzichtet. Wie viele große jüdischen Ideen und Ideale starben während des Mittelalters hinter den Mauern von Ghettos, noch bevor sie das Licht der Welt hätten erblicken können, oder hinter den unsichtbaren Ghettomauern des modernen Judentums?«

Chana Szénes stellt die ungarischen Juden jenen in Eretz Israel gegenüber: Wenn man die Leistungen dieser jeweils etwa 500.000 Juden vergleiche, werde man vielleicht »nicht mehr länger sagen, dass wir unsere Ziele nur in der Diaspora erreichen können.«

»Wir wollen keine Almosen. Wir wollen unser gesetzliches Eigentum, Rechte und unsere Freiheit, für die wir mit unserer Arbeit gekämpft haben. Es ist unsere menschliche und nationale Pflicht, diese Rechte einzufordern. Wir wollen ein Heimatland schaffen für den jüdischen Geist und das jüdische Volk. Die Lösung scheint so völlig klar: Wir brauchen einen jüdischen Staat.«

Auf keines ihrer Rechte dürften die Juden verzichten, »selbst, wenn die lächerliche Anschuldigung wahr wäre: dass der Zionismus den Antisemitismus hervorbringt«. Antisemitismus sei »nicht das Ergebnis des Zionismus, sondern der Zerstreuung [Galut, Diaspora; Anm. d. Verf.]«.

Die »Ideale des Zionismus« zu verwirklichen sei die »einzige Hoffnung«, gehe es darum, den Antisemitismus abzuschwächen oder auszuschalten. Dieses »winzige Stück Land an der Küste des Mittelmeers«, als dessen Eigentümer die Juden sich »nach zweitausend Jahren« wieder fühlen dürften, sei »groß genug«, damit »neues jüdisches Leben und moderne jüdische Kultur« gedeihen könne: »Selbst heute, in seiner verstümmelten Form, ist Palästina groß genug, um eine Insel im Meer des scheinbar hoffnungslosen jüdischen Schicksals zu sein, eine Insel, auf der wir friedlich einen Leuchtturm errichten können, der Licht in die Finsternis ausstrahlt, ein Licht der immer währenden menschlichen Werte, das Licht des einen Gottes.«

In der Serie »Nur die Sterne waren nah« ist bisher erschienen:

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