In dieser Reihe stellen wir die jüdische Dichterin und Widerstandskämpferin Chana Szénes vor. Sie emigrierte 1939 als 18-Jährige von Ungarn nach Palästina, wo sie sich 1943 einer Freiwilligeneinheit des britischen Geheimdienstes anschloss, deren Ziel es war, als Fallschirmspringer über feindlichem Gebiet abzuspringen, um abgeschossene britische Piloten und Juden zu retten.
Während Chana Szénes 1943 an ihre bevorstehende Militärmission denkt, ist ihr Bruder Gyuri in Spanien gefangen, wohin er vor den deutschen Besatzern in Frankreich geflohen war.
Während Chana im Kibbuz Sdot Jam darüber nachdachte, nach Ungarn zurückzugehen, um den bedrängten Juden bei der Ausreise nach Palästina zu helfen, befand sich ihr Bruder Gyuri in Lyon, wohin er zum Studium der Textilwirtschaft gegangen war, in großer Gefahr.
Beginn der Deportationen
Am 27. März 1942 fuhr der erste Deportationszug mit 1.112 Juden von Frankreich nach Auschwitz. Im Morgengrauen des 16. Juli 1942 begannen auf Befehl der deutschen Besatzungsbehörden etwa 4.500 französische Polizisten mit einer Massenverhaftung ausländischer Juden, die in Paris lebten. Über 11.000 Juden wurden verhaftet und im Pariser Winterstadion oder Vélodrome d’Hiver, bekannt als Vel d’Hiv, eingesperrt, fast ohne Wasser, Nahrung und sanitäre Einrichtungen. Innerhalb einer Woche stieg die Zahl der hier festgehaltenen Juden auf 13.000, darunter mehr als 4.000 Kinder.
Mit der »Vel-d’Hiv-Razzia« begannen die systematischen Massendeportationen aus Frankreich, die im Sommer und Herbst 1942 drei Transporte pro Woche umfassten. Im November 1942, nachdem die Alliierten in Nordafrika gelandet waren, besetzten die Deutschen auch den südlichen Teil Frankreichs (»Freies Frankreich«) und setzten dort ihre Aktionen zur Verhaftung und Deportation in die Vernichtungslager fort.
Gyuri Szénes war im Dezember 1942 noch auf freiem Fuß. Er hatte eine Leica-Kamera, die Chana ihm bei ihrem Besuch in Lyon geschenkt hatte, zu Geld gemacht und sich mit dem Erlös gefälschte Papiere zugelegt. Auf seinem Ausweis war er nun ein in Lille geborener Franzose namens Georges Charbonnel. Mit Zionisten in Lyon und einem Freund namens René hatte er über seine Pläne gesprochen, über Spanien nach Palästina auszureisen. René wollte mitkommen, doch seine Eltern untersagten es, weil es ihnen zu gefährlich schien.
Kurz vor Weihnachten 1942 bezahlte Gyuri bei seiner Wirtin die Zimmermiete für einen Monat im Voraus und erzählte ihr etwas von einem Urlaub. Einen Freund bat er um einen Gefallen: Sollte er nicht innerhalb von zwei oder drei Wochen zurück sein, möge er einige Briefe, die er an seine Mutter Katharina in Budapest geschrieben und vordatiert hatte, abschicken, damit sie sich keine Sorgen machte.
Dann fuhr er mit der Eisenbahn nach Perpignan in den Pyrenäen nahe der spanischen Grenze. Ebenfalls mit dem Geld aus dem Verkauf der Kamera hatte er in Lyon die Information bekommen, es gebe einen Schmuggler, der ihn über die Grenze bringen könne. Nach zwei Tagen gelang es Gyuri, diesen in einem Café zu treffen. Viele Schleichhändler, die außer Waren auch Menschen über die Grenze brachten, gab es damals nicht mehr, denn darauf stand die Todesstrafe.
Der angeheuerte Schmuggler sagte Gyuri, sich am nächsten Abend an einer bestimmten Stelle einzufinden und gab ausführliche Anweisungen, was er zu tun hatte, sollte etwas schiefgehen. An besagtem Abend fuhr ein Bus an die Grenze. Im Bus saßen vor allem Bauern, unter ihnen versteckt vier oder fünf Personen, die das Land Richtung Spanien verlassen wollten. An der Grenzstation simulierte der Fahrer einen Motorschaden. Die Bauern stiegen aus, redeten mit den Grenzbeamten, und der Fahrer bat diese um Hilfe. Schließlich war das Problem behoben und die Bauern stiegen wieder ein, bis auf eine kleine Gruppe von Menschen, die währenddessen unbemerkt über die Grenze gerannt war, unter ihnen Gyuri.
Verhaftung in Spanien
Die Reise zu Fuß währte nicht lang. In einem Dorf angekommen, wurde die Gruppe von der Guardia Civil umstellt und verhaftet und in das Konzentrationslager Figueres gebracht, das 1939 für die Gefangenen des Bürgerkriegs eingerichtet worden war. Dort verbrachte Gyuri zwei Wochen. Seine französischen Papiere hatte er in den Pyrenäen weggeworfen, wie der Schmuggler es ihm gesagt hatte.
Um nicht nach Frankreich zurückgebracht zu werden, behaupteten die nach Spanien Geflohenen, andere Staatsangehörigkeiten zu besitzen. Wer Englisch konnte, gab sich als Engländer aus. Gyuri machte sich zum »Franco-Kanadier«, von denen es im Lager viele gab. Das britische Konsulat betreute die angeblichen Briten und Kanadier im Lager und ließ ihnen sogar ein Taschengeld zukommen.
Im März wurden die »Briten« und »Kanadier« auf freien Fuß gesetzt, in den mondänen Urlaubsort Caldas de Malavella gebracht, auch Vichy Catalan genannt, und in Hotels untergebracht. Das schöne Leben währte bis zum 13. Juli, als die Hotels von Bewaffneten umstellt wurden.
Die Ausländer hatten ein paar Minuten Zeit zum Packen, ehe sie zum Bahnhof geleitet und in Viehwaggons in das berüchtigte Konzentrationslager Miranda de Ebro gebracht wurden. Dort gab es 5.000 Häftlinge. Das Lager war ebenfalls zur Inhaftierung von Francos Feinden errichtet worden, dazu kamen gefangene alliierte Piloten und Menschen, die wie Gyuri die Grenze ohne gültige Papiere überquert hatten. Der Transport dauerte zwei Tage. Oft stand der Zug stundenlang an einem Bahnhof, doch die Insassen durften nicht aussteigen.
Miranda de Ebro war ein Lager mit strenger Häftlingshierarchie, wo gewöhnliche Kriminelle, die schon lange einsaßen, die Kontrolle über die anderen Sträflinge ausübten. Glücklicherweise entdeckte Gyuri nach zehn Tagen, dass es unter den Gefangenen auch Ungarn gab, die während des Bürgerkriegs aufseiten der Republikaner gekämpft hatten. Sie integrierten ihn und sorgten dafür, dass er eine relativ angenehme Arbeit als Koch in der Krankenhausküche bekam.
Ende August kamen Gerüchte über Freilassungen auf. Tatsächlich kam Gyuri auf freien Fuß und wurde nach Madrid gebracht, wo er sich beim Roten Kreuz unter seinem echten Namen registrierte. Sein Problem war nun, dass er kein Geld hatte.
Eines Tages, als er ziellos eine Straße entlangging, bemerkte er einen Tischtennistisch, auf dem gespielt wurde, wozu er seit Caldas de Malavella keine Gelegenheit mehr gehabt hatte. Er forderte den Gewinner des Matches heraus, nicht wissend, dass es der Meisterspieler von Madrid war. Nachdem er diesen bezwungen hatte, lud man ihn ein, dem Castille Club beizutreten. Dort lernt er einige Leute kennen, die ihn dafür bezahlten, dass er ihnen Französisch beibrachte, und spielte Tischtennis mit dem Botschafter der Republik China.
Ein Schiff nach Eretz Israel
Im Januar 1944, mehr als ein Jahr nachdem Gyuri Lyon verlassen hatte, organisierte das Palästinensische Auswanderungsbüro in Spanien eine Alija für fünfhundert Juden. Auch auf dem Höhepunkt des Zweiten Weltkriegs kam eine begrenzte Zahl jüdischer Einwanderer legal in das Mandatsgebiet Palästina, denen die Briten gemäß dem »Weißbuch« die Einreise gestatteten. Das dritte Weißbuch, das im Mai 1939 veröffentlicht wurde, legte unter anderem die britische Politik hinsichtlich der jüdischen Einwanderung nach Eretz Israel fest. Das Dokument bestimmte, dass in den folgenden fünf Jahren 50.000 Juden die Einreise gestattet werden würde. Gyuri Szénes war unter ihnen.
Am 24. Januar 1944 legte die Nyassa, aus Portugal kommend, in Cadiz an. 170 aus Lissabon kommende Juden, denen ebenfalls die Einreise ins Mandatsgebiet Palästina erlaubt worden war, waren bereits an Bord. Nach rund einer Woche Fahrt kam die Nyassa Anfang Februar in Haifa an. Dort wurde Gyuri bereits von seiner Schwester Chana erwartet.
In der Serie »Nur die Sterne waren nah« ist bisher erschienen:
- Teil 1: Die jüdische Widerstandskämpferin Chana Szénes
- Teil 2: Hinwendung zum Zionismus
- Teil 3: Sehnsucht nach Eretz Israel
- Teil 4: Das Zertifikat
- Teil 5: Ankunft und Eretz Israel
- Teil 6: Bomben auf Haifa und Tel Aviv
- Teil 7: Im Kibbuz Sdot Jam
- Teil 8: Palmach
- Teil 9: Gyuris Flucht