Kurz nachdem Chana Szénes die Idee hatte, in ihr Heimatland zurück zu gehen, um den bedrängten Juden bei der Ausreise nach Palästina zu helfen, besucht ein ebenfalls aus Ungarn stammendes Mitglied der jüdischen Elite-Untergrundeinheit Palmach ihren Kibbuz – und hat denselben Plan.
»Ich habe eine erschütternde Woche hinter mir«, schreibt Chana Szénes am 8. Januar 1943 in ihr Tagebuch. »Plötzlich kam mir der Gedanke, nach Ungarn zu gehen.« Sie habe das Gefühl, sie müsse »in diesen Tagen dort sein, um die Auswanderung der Jugendlichen zu organisieren und auch, um meine Mutter herauszuholen.« Obwohl sie sich durchaus bewusst sei, »wie absurd die Idee ist«, scheine sie ihr dennoch »machbar und notwendig, also werde ich mich an die Arbeit machen und sie durchziehen«.
Zu dieser Zeit war Ungarn noch nicht von Deutschland besetzt, aber mit Hitler verbündet. Infolge der ungarischen Annexion von Gebieten der Slowakei, Rumäniens und Jugoslawiens lebten in Ungarn rund 800.000 Juden. Nach dem Vorbild der Nürnberger Rassegesetze hatte das Regime unter Reichsverweser Miklós Horthy, dem Staatsoberhaupt Ungarns, seit 1938 offiziell vier »Judengesetze« erlassen. Sie definierten Juden rassisch, beschränkten ihre Zahl im Wirtschaftsleben und verboten Mischehen und sexuelle Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden. Mit dem »vierten Judengesetz« vom 6. September 1942 wurde Juden auch der Besitz oder Kauf von Land untersagt. Privatunternehmen war es verboten, mehr als zwölf Prozent Juden zu beschäftigen. 250.000 ungarische Juden verloren ihr Einkommen. Rund 100.000 jüdische Männer wurden für Arbeitsbrigaden zwangsrekrutiert.
Ende Juni 1941 erklärte Ungarn nach Deutschland der Sowjetunion den Krieg. Bald darauf beschlossen die ungarischen Behörden, die in Ungarn lebenden polnischen und russischen Juden zu deportieren. Zusätzlich wurde auch eine große Zahl ungarischer Juden verhaftet, etwa, weil sie ihre Staatsbürgerschaft nicht nachweisen konnten.
Ganze jüdische Gemeinden in der von Ungarn kontrollierten Transkarpatien-Ukraine wurden unter dem Vorwand, »jüdische Ausländer« zu sein, ausgewiesen, in Güterzüge gepfercht und über die ukrainische Grenze transportiert. Bis Ende August 1941 wurden etwa 18.000 Juden an die SS übergeben und in das Gebiet von Kamenets-Podolski im Reichskommissariat Ukraine deportiert, wo am 27. und 28. August bei einem von Friedrich Jeckeln geleiteten »Einsatz« 23.600 Menschen ermordet wurden. »Zwischen 14.000 und 16.000 der Opfer stammten aus Ungarn, der Rest waren einheimische Juden«, heißt es auf der Website von Yad Vashem. Das war vier Wochen vor dem Massaker von Babi Yar.
Im Januar 1942 massakrierten ungarische Soldaten und Gendarmen dreitausend Serben und Juden in der Nähe von Novi Sad in Jugoslawien und warfen die Leichen in die Donau (einer der Täter, Sándor Képíró, wurde auf Betreiben des Simon Wiesenthal Center 2011 im Alter von 97 Jahren in Budapest vor Gericht gestellt und freigesprochen). Allerdings widersetzte sich Horthy dem Druck Hitlers, alle Juden auszuliefern.
Bei der Niederlage der Wehrmacht in der Schlacht von Stalingrad 1942/43 kamen Zehntausende Ungarn ums Leben, darunter auch viele Juden, die als Zwangsarbeiter oder zum Minenräumen eingesetzt wurden.
Hand des Schicksals
Zu dieser Zeit lebt Chana Szénes im Kibbuz Sdot Jam in Caesarea. Am 22. Februar 1943 notiert sie in ihrem Tagebuch, in dem sie sonst die Mühen in der Wäscherei und die Probleme des Kibbuzlebens beschreibt, ein außerordentliches Ereignis. »Wie seltsam sich die Dinge entwickeln. Am 8. Januar schrieb ich ein paar Worte über die plötzliche Idee, die mir kam.« Die Idee nämlich, nach Ungarn zu gehen, um junge Juden aus Ungarn herauszuholen. Nun war der Palmach, die 1941 von der jüdischen Untergrundorganisation Haganah gegründete Eliteeinheit, in ihr Leben getreten. Sie schreibt:
»Vor ein paar Tagen besuchte ein Mann aus dem Kibbuz Ma’agan, ein Mitglied des Palmach, den Kibbuz, und wir plauderten eine Weile. Im Laufe des Gesprächs erzählte er mir, dass eine Palmach-Einheit organisiert werde, um genau das zu tun, was ich damals tun wollte. Ich war wirklich erstaunt. Die gleiche Idee! Meine Antwort war natürlich, dass ich absolut bereit bin. Es ist noch immer nur in der Planungsphase, aber er versprach, die Angelegenheit vor dem Rekrutierungskomitee zur Sprache zu bringen, da er mich für die Mission als hervorragend geeignet ansieht. Ich sehe darin die Hand des Schicksals, genau wie damals bei meiner Alija.«
Tatsächlich klingen die Tagebucheinträge, in denen Chana Szénes beschreibt, wie sie sich auf den Einsatz vorbereitet, ganz so wie die überschwängliche Vorfreude, die sie 1938/39 angesichts der Aussicht auf die Auswanderung nach Palästina empfand. Wieder verschwindet alles andere aus ihrem Blickfeld, gibt es nichts anderes mehr, das wichtig scheint. Am 27. Mai 1943 schreibt sie:
»Mein ganzes Wesen ist mit einer Sache beschäftigt: der Abreise. Sie steht unmittelbar bevor, sie ist real. Es ist möglich, dass sie mich jeden Tag anrufen. Ich stelle mir verschiedene Situationen vor und denke manchmal daran, Eretz zu verlassen … die Freiheit zu verlassen … Ich möchte genug frische Luft einatmen, um sie sogar in der stickigen Atmosphäre der Diaspora atmen zu können, und sie überall um mich herum verbreiten für diejenigen, die nicht wissen, was wahre Freiheit ist. Aber das sind alles positive Gedanken zu dieser Angelegenheit, keine Zweifel. Es besteht absolut keine Frage, dass ich gehen muss.«
Zwei Tage später:
»Ich warte darauf, gerufen zu werden. Ich kann an nichts anderes denken. Ich glaube nicht, dass es irgendeine äußerliche, spürbare Veränderung in mir gibt. Ich gehe meiner täglichen Arbeit wie immer nach, aber manchmal habe ich das Gefühl, als würde ich die Dinge aus der Ferne betrachten. Ich betrachte alles nur aus einem Blickwinkel: Ist es für meine Mission notwendig oder nicht? Ich möchte keine Leute treffen. Es wäre einfacher, wegzugehen, wenn ich das nicht tue. Nein. Das ist eine Lüge. Jetzt möchte ich mehr denn je jemanden, der mir nahesteht.«
Am 12. Juni 1943 notiert sie, der Kibbuz habe ihr erlaubt, sich zum britischen Militär zu melden. Schon bald soll sie aufbrechen, um weitere Instruktionen zu erhalten.
Vier Jahre in Palästina
Im September 1943 ist es vier Jahre her, dass Anikó nach Eretz Israel kam und sich nun Chana nennt. Für sie ein Anlass, in einem der längsten Tagebucheinträge überhaupt über die Zeit seit ihrer Ankunft zu reflektieren.
»Vor vier Jahren bin ich in Eretz angekommen. Einwandererhaus, Haifa. Alles war neu, alles schön, alles eine Welt der Zukunft. Nur eine Figur führt mich in die Vergangenheit zurück: meine Mutter an der Bahnhofsstation. Vier Jahre. Ich hätte nie gedacht, dass die Entfernung zwischen uns je so groß sein könnte, so tief. Hätte ich gewusst … Oder vielleicht wusste ich es, aber traute mich nicht, es mir einzugestehen.«
Die Zeit in Nahalal und in Sdot Jam sieht sie von vielen Konflikten, aber auch »beträchtlicher Zufriedenheit« geprägt, »aber immer Einsamkeit. Keine Freunde, keine Freundinnen, außer Miryam.« Und nun steht sie »erneut vor einer Mission«, einer, die schwierig werde und große Vorbereitung erfordere.
»Wieder ein Gefühl des Übergangs, gepaart mit starken Emotionen, Sehnsüchten, Spannungen. Und die ewige Einsamkeit. Jetzt ist mir klarer denn je, dass dies nichts mit äußeren Faktoren zu tun hat. Es gibt eine gewisse Eigenart in mir und einen Mangel an Geselligkeit, der mich von Menschen fernhält. Das ist besonders schwierig, wenn es um Männer geht. Manchmal denke ich, ich liebe oder könnte jemanden lieben. Aber … es gibt viele objektive ›Aber‹ im Weg, und mir fehlt der Mut, sie zu überwinden.
Inzwischen gibt es ein paar Männer, die in mich verliebt sind, und ich denke dabei insbesondere an Moshe … über den ich nur Gutes sagen kann. Und doch kann ich ihn nicht lieben. Na gut, zumindest ist mein Herz noch lange nicht gebrochen. Aber trotzdem gibt es etwas, das mir Angst macht: Ich bin 22 Jahre alt und weiß nicht, wie man glücklich ist. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wann ich mich jemals wirklich über etwas gefreut habe, wann ich mich wirklich glücklich gefühlt habe, auch nur für ein paar Momente. Mir ist alles gleichgültig.«
Das habe nichts mit den objektiven, äußeren Verhältnissen zu tun. Sie könne sich über ihr Leben nicht beschweren. Ihr Leid komme aus dem Innern: Sie habe »vergessen, wie man lacht«, »richtig lacht, herzlich, wie ich einst mit Gyuri lachte, als wir auf dem Sofa rangen, bis wir auf den Boden rollten, lachten über nichts anderes, als über die Freude zu leben, jung und lebendig zu sein«. Sie fragt sich, ob die Einsamkeit ihr den Weg zur Freude verbaut habe oder vielleicht der frühe Tod ihres Vaters, der sie dazu brachte, »Gedichte über die Härten des Lebens« zu schreiben.
Gleichwohl ist sich Chana sicher, dass sie alles in ihrem Leben genau so wieder getan hätte; nichts sei zufällig gewesen, alles habe einer inneren Logik gehorcht. Bald darauf ist sie Soldatin der britischen Armee und an einer jüdischen Spezialoperation beteiligt.
In der Serie »Nur die Sterne waren nah« ist bisher erschienen:
- Teil 1: Die jüdische Widerstandskämpferin Chana Szénes
- Teil 2: Hinwendung zum Zionismus
- Teil 3: Sehnsucht nach Eretz Israel
- Teil 4: Das Zertifikat
- Teil 5: Ankunft und Eretz Israel
- Teil 6: Bomben auf Haifa und Tel Aviv
- Teil 7: Im Kibbuz Sdot Jam
- Teil 8: Palmach