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»Nur die Sterne waren nah.« Teil 7: Im Kibbuz Sdot Jam

Chana Szénes am Strand des Kibbuz Sdot Jam
Chana Szénes am Strand des Kibbuz Sdot Jam (Quelle: Israel free image collection project / PikiWiki)

Die harte Arbeit im Kibbuz macht Chana Szénes sehr zu schaffen. Ihren Ängsten und Zweifeln verleiht die spätere Widerstandskämpferin in ihren Gedichten Ausdruck.

Sdot Jam liegt am Rand der römischen Ruinenstätte Caesarea. Gegründet wurde der Kibbuz 1938 von deutschen und ungarischen Mitgliedern der sozialdemokratischen Arbeiterjugend HaNoar HaOved VeHaLomed in der Nähe von Haifa. 1940 wurde er an seine heutige Stelle nahe Caesarea verlegt.

Der Kibbuz sollte sich anfänglich vor allem der Fischerei widmen, betreibt aber heute auch Landwirtschaft und spielte in der Zeit vor der Staatsgründung eine Rolle beim Schmuggel von illegalen jüdischen Einwanderern, welche die Briten nicht einreisen lassen wollten. Der Kapitän des Flüchtlingsschiffs Exodus 1947, Yossi Harel, liegt hier begraben.

War der gerade an einen neuen Platz verlegte Kibbuz das »Anstrengende, Fordernde«, das Chana Szénes sich in ihrem Tagebuch wünschte? Das etablierte Ginossar am See Genezareth schien ihr zu bequem. Ende Dezember 1941 wird sie in Sdot Jam offiziell Kandidatin.

Als sie ankommt, ist die Landwirtschaft dort noch nicht entwickelt. Chana Szénes arbeitet deshalb zunächst ausschließlich im Innenbereich, etwa in der Küche, der Wäscherei oder der Lagerhalle. Sie hat sich Anstrengungen gewünscht, hadert aber mit den intellektuell anspruchslosen Tätigkeiten, mit denen man sie betraut. Am 2. Januar 1942 schreibt sie:

»Mich quälen große Zweifel an meiner Arbeit. Ich stehe neun Stunden am Tag auf meinen Beinen und wasche Kleidung. Und ich frage mich: Ist das mein Zweck des Lebens? Ich bin willens, diese Art von Arbeit zu machen, doch fühle ich, dass mein Potenzial verschwendet ist, und das ist extrem deprimierend.«

Am 7. Januar setzt sie den Gedanken fort, aber mit anderem Schwerpunkt. Nicht die Arbeit selbst scheint sie nun zu stören, sondern lediglich, dass ihr keine Zeit für geistige Tätigkeiten bleibt:

»Es fällt mir schwer, zu schreiben. Nach einem Tag des Wäschewaschens sind meine Hände fast gefroren. Ich arbeite regelmäßig in der Wäscherei, und selbst an dieser Arbeit kann man Interesse gewinnen und daraus Befriedigung ziehen. Doch die Tage sind viel zu kurz. Nach einem Arbeitstag habe ich weder die Zeit noch die Kraft, um zu schreiben, zu studieren oder sozialen Kontakten nachzugehen. Es ist Zeit für ein wenig von allem, aber nicht genug, um irgendetwas gründlich zu machen.«

Das Thema der anstrengenden Arbeit, die keine Erfüllung bringt und ihre Talente verschwendet, setzt sich fort. Am 9. Februar notiert sie:

»Heute habe ich 150 Paar Socken gewaschen. Ich dachte, ich drehe durch. Nein, das stimmt nicht wirklich. Ich habe an gar nichts gedacht. Ich habe automatisch gearbeitet, ohne an die Zeit zu denken, ohne Gedanken in meinem Kopf. Tausendmal sagte ich zu mir: ›Chana, du musst denken, Chana, du musst planen, was zu tun ist, was du studieren, was du lesen willst.‹ Ich begann zu denken, konnte mich aber nicht konzentrieren, und nach einigen Augenblicken war mein Verstand wieder leer.«

Fremd im Kibbuz

Auch in Sdot Jam bleibt Chana Szénes eine Fremde, wie schon in Nahalal. Am 15. Januar 1942 schreibt sie:

»Das schwierigste Thema ist die Gruppe. Ich mag es nicht sagen, aber ich denke, es gibt einen Mangel an Kameradschaft hier, vor allem für mich. Ich hoffe, bald eine kompatible Gruppe zu finden, doch derzeit sind die Mitglieder keine vereinte Gruppe. Sie sind einander Fremde, und da, wo sie Kontakt haben, ist es nicht positiv. Es gibt beträchtliche Apathie, einen Mangel an Verantwortung, wenig oder kein individuelles Taschengeld undein gewisses Maß an Ungleichheit. Es gibt auch keine hinlängliche ökonomische Organisation.«

Die »Vision« sei das Einzige, das die Gruppe zusammenhalte, glaubt sie, und hält das für zu wenig. Vielleicht sei ihre ursprüngliche Vorstellung »zu idealistisch« gewesen, räumt sie ein. Das sei eben das Problem mit dem Leben im Kibbuz: Man habe eine Idee davon und diese werde täglich mit der Wirklichkeit konfrontiert. Noch im selben Eintrag nimmt sie vieles zurück oder mildert es ab: Eigentlich habe sie keine Beschwerden. Sie sei nicht enttäuscht oder desillusioniert, behauptet sie nun. »Man muss das Leben nehmen, wie es ist.« Es klingt wie jene Sentenz von Scarlett O’Hara, der Protagonistin aus Vom Winde verweht, die Chana an anderer Stelle in ihrem Tagebuch zustimmend zitiert: »Morgen ist auch noch ein Tag.«

Die Schwierigkeiten mit der Gruppe setzen sich fort. Am 9. Februar 1942 bedauert sie:

»Ich habe einen Fehler gemacht. Ich habe mich bei mehreren Mitgliederversammlungen und Diskussionen zu Wort gemeldet. Jetzt tut es mir sehr leid. Ich bin sicher, die meisten Mitglieder sehen darin den Wunsch aufzufallen, was meine Aufnahme in die Gruppe nicht gerade erleichtert. Es ist immer schwieriger, Zäune zu reparieren, als sie niederzureißen.«

Die Einschätzung ihres Charakters durch andere durchlaufe scheinbar »drei Phasen«, glaubt sie erkannt zu haben: »Der erste Eindruck ist sehr gut, aber völlig falsch. In diesen schließe ich alle oberflächlichen Bekanntschaften und ungebetenen Besucher ein. In der zweiten Phase verschlechtert sich der Eindruck und in der dritten Phase lernen sie mich kennen, wie ich wirklich bin. Aber so weit kommen nicht viele.«

Zu ihrer Überraschung wird sie, der Neuankömmling, gleich in das neu gegründete Komitee für kulturelle Angelegenheiten gewählt. Statt darin aber Wertschätzung zu sehen, hält Chana dies eher für ein Zeichen der »Schwäche« des Kibbuz, der offenbar niemanden mit mehr Erfahrung habe, den man mit dieser Aufgabe betrauen könnte.

Die Entfremdung von ihrer Umwelt und der Frust über das eintönige Arbeitsleben nehmen zu und spiegeln sich nirgendwo so sehr wie in dem Eintrag vom 1. Februar 1943: »Wie lange kann man ohne Luft leben? Wie lange ohne Essen? Und wie lange ohne soziale Kontakte und ohne Bücher?« Normalerweise vermisse sie diese Dinge nicht – nur dann, wenn sie einmal einen Augenblick für sich habe.

Die Dichtung

Oft hadert Chana Szénes mit ihrem Hebräisch, das sie für unzulänglich hält. Sie fragt sich, ob sie diese Sprache jemals so beherrschen werde wie das Ungarische. Die Messlatte hat sie sich also sehr hoch gelegt; sie will die Fremdsprache so sprechen wie ihre Muttersprache und verzweifelt schier, weil dieses Ziel nach drei Jahren Hebräisch – mit dem Erlernen hatte sie 1938 begonnen – immer noch in weiter Ferne ist. Das hindert sie aber nicht daran, auf Hebräisch Gedichte zu schreiben. Im ersten halben Jahr nach ihrer Ankunft in Palästina hatte sie nicht gedichtet. Dann hatte sie 1940 in Nahalal wieder begonnen.

Die Gedichte aus der Zeit von Sdot Jam unterscheiden sich deutlich von denen aus Nahalal. In jenen aus Nahalal finden sich noch lebendige Menschen, die etwas tun, wie in dem Gedicht Ernte von 1940:

»Unsere Leute bearbeiten den schwarzen Boden
Ihre Arme ernten die goldenen Garben
Und jetzt, wenn die letzte Ähre ihren Stängel verlässt,
Glänzen unsere Gesichter wie von vergoldetem Öl.

Woher kommt das neue Licht und die neue Stimme
Woher kommt das schallende Lied?
Woher der Kampfgeist und der neue Glaube?
Von dir, fruchtbarer Emek, von dir, meinem Land.«

Emek heißt Tal oder Ebene. Gemeint ist die Jesreel-Ebene in Galiläa, ein Zentrum der israelischen Landwirtschaft, wo sich auch Nahalal befindet. Der Ort des Gedichts lässt sich also bestimmen; es wird beschrieben, was die Menschen tun, und das ganze Gedicht gibt keine offensichtlichen Rätsel auf, die vom Leser gelöst werden müssten. Das gilt auch für andere Gedichte aus dieser Zeit, die »an die Mutter«, »an einen guten Freund« oder an die »Brüder« gerichtet sind.

Ganz anders das Gedicht Kibbuz Ginossar, das 1941 in Sdot Jam entsteht:

»In den schwarzen Feldern in einer dunklen Nacht
wurden Kerzen angezündet und streuten Licht
in die festliche Freude der Furchen

In der dunklen Nacht auf weißen Feldern
loderten Freudenfeuer, Flammen breiteten sich aus
Welten wurden zerstört

In den schwarzen Feldern
sang der Traktor das funkelnde Lied der Zukunft.

In den weißen Feldern
stöhnte ein sterbender Mann.«

Der schwarze Boden in dem Gedicht Ernte ist keine Metapher; in Galiläa gibt es wirklich schwarze Böden. Aber dass es in dem Gedicht Kibbuz Ginossar nicht mehr um eine wirklichkeitsnahe Beschreibung geht, wird spätestens klar, wenn kurz darauf plötzlich von den »weißen Feldern« die Rede ist. Ist Schnee gefallen? Möglich, aber unwahrscheinlich, dass das gemeint ist.

Das Gedicht changiert zwischen Sinneseindrücken und Symbolen. Der Optimismus aus dem Gedicht Ernte wird nur aufgegriffen, um ins Gegenteil gewendet zu werden. Die eingangs benutzte Metapher der Kerze kann sowohl für ein fröhliches Fest als auch für den Tod stehen. Das »Freudenfeuer« legt einen frohen Anlass nahe, doch die Illusion wird sofort zerstört: das Feuer ist zerstörerisch, apokalyptisch. Der Traktor und das »funkelnde Lied der Zukunft« lassen an Pioniergeist denken und an romantisch verklärte Arbeit. Doch auch dieser Zukunftsoptimismus wird, anders als in Ernte, gleich wieder zurückgenommen; das Gedicht endet mit dem – offenbar einsamen – Tod eines namenlosen Mannes.

Die apokryphe, symbolhafte Beschreibung einer (alb-)traumartigen Szenerie, die Betonung von Farben als Sinnträger, die durch den Leser entschlüsselt werden müssen, die weitgehende Abwesenheit äußerer Handlung und die Gegenwart des Todes erinnern an die Dichtung Georg Trakls.

Motive von Chana Szénes’ Dichtung in Sdot Jam 1941/42 sind: das Warten (das vergeblich ist), Einsamkeit, Opfer, Tod, Verlust, Melancholie beim Gedanken an vergangene Tage. Ein Gedicht, das heraussticht, weil es ganz anders ist, ist Spaziergang nach Caesarea, auch bekannt als Eli, Eli:

»Mein Gott, mein Gott, möge es kein Ende geben
Für das Meer, für den Sand,
Für das Rauschen des Wassers,
Für das Blitzen der Himmel,
Das Gebet des Menschen.«

Es lohnt sich, das Gedicht in transkribiertem Hebräisch zu lesen:

»Eli, Eli,
Sche-lo jigamer le-olam,
Ha-chol ve ha-jam
Rischrusch schel ha-majim,
Berak ha-schamajim
Tefillat ha-adam.«

Chana Szénes Gedicht Spaziergang nach Caesarea ist, auch dank der frühen Vertonung (1945) durch den israelischen Komponisten David Zehavi (1910­–1975), eines der populärsten Gedichte der hebräischen Sprache. Es wird in Wohnzimmern, in Chören, in Schulen, an Lagerfeuern und in Synagogen weltweit gesungen. (siehe die YouTube-Videos hier, hier, hier und hier)

Das Gedicht strahlt, im Unterschied zu anderen ihrer Gedichte aus dieser Zeit, Ruhe und Frieden aus, ja, sogar Trost. Aber der kommt eben nicht von Menschen her, sondern aus der Natur und letztlich von Gott. Zu Caesarea, dem alten Ort am Meer, fühlt sich Chana Szénes »extrem hingezogen«, wie sie schreibt, und die Liebe zum Land Israel und dem Meer bleiben während ihres ganzen Aufenthalts gleich. Die Menschen hingegen bleiben ihr fremd und die Arbeit ödet sie an. Am 8. Januar 1943 hat sie in Caesarea eine Eingebung: »Plötzlich kam mir der Gedanke, nach Ungarn zu gehen.«

In der Serie »Nur die Sterne waren nah« ist bisher erschienen:

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