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»Nur die Sterne waren nah«. Teil 5: Ankunft in Eretz Israel

Chana Szénes bei der landwirtschaftlichen Arbeit im Moschaw Nahalal in Eretz Israel
Chana Szénes bei der landwirtschaftlichen Arbeit im Moschaw Nahalal in Eretz Israel (Quelle: Jewish Women‘s Archive / Courtesy of the WIZO Archives, Tel Aviv)

Tage nach Beginn des Zweiten Weltkriegs gelingt Chana Szénes die Reise nach Palästina. In Nahalal angekommen, mischen sich Gefühle von Traurigkeit und Selbstzweifeln in die Freude über das Leben in Eretz Israel.

Der September 1939 war jener Monat, der für die Aliyah von Anikó, die sich ab dem Moment der Abreise aus Budapest Chana (hebräische Übersetzung für Anikó) nannte, vorgesehen war. Ihre Mutter Katharina erinnerte sich später:

»Anfang September, zur Zeit ihrer geplanten Abreise, brach der Zweite Weltkrieg aus, und für den Moment waren alle Wege nach Palästina offenbar versperrt. Ich fand mich mit dieser neuen Situation ab, sie jedoch nicht. Sie rannte zu verschiedenen Reisebüros, zum offiziellen Vertreter Palästinas, zum Büro der jüdischen Sozialhilfe – überall, wo sie einen Hoffnungsschimmer vermutete. …

Schließlich gelang es ihr, sich einer Gruppe von Slowaken anzuschließen, die nach Palästina wollten, und wir eilten zum jüdischen Sozialhilfebüro, um ihre Papiere zu besorgen. Gegen Abend standen wir in einem der Außenräume, als uns ein Mitarbeiter winkte, ihm in sein Büro zu folgen. ›Für wen sollte ich das sonst tun, wenn nicht für die Tochter von Bela Szenes?‹, sagte er. ›Er war einer der Schüler meines Vaters. Ich bin der Sohn von Oberrabbiner Miksa Weiss.‹«

Die Abreise würde am nächsten Tag vom Ostbahnhof erfolgen. Katharina Szénes schreibt: »Ich hatte das Gefühl, als würde Eis durch meine Adern fließen. ›Morgen? Aber sie muss sich fertig machen, packen.‹ –  ›Gnädige Frau, ich habe meinen Teil getan‹, antwortete er, ›der Rest liegt bei Ihnen‹.«

Die ganze Nacht wurde gepackt. Fragen tauchten auf: Welche Kleidung sollte sie mitnehmen? Was, würde sie in Palästina heiraten? Ihre Mutter gab ihr auch noch die Adresse einer Freundin mit, Frau Krausz in Haifa. Zum Bahnhof begleiteten Chana neben ihrer Mutter die Großmutter väterlicherseits, eine Schwester der Mutter und Rosika, das Dienstmädchen. Chana stand am Zugfenster und musste »ihre ganze Kraft aufbringen, um das Schluchzen zu unterdrücken«, erinnerte sich die Mutter. 

»Die Spannung der letzten Wochen, Monate, die Aufregung wurden noch übertroffen von der Trennung, dem endgültigen Bruch und der völligen Ungewissheit der Zukunft. Als der Zug langsam abfuhr, schien es, als ob ein großer Schatten über den ganzen Bahnhof fiele. Als ich in der frühen Dämmerung jenes Septembernachmittags nach Hause kam, hatte sich die melancholische Stimmung von Rosch Haschana bereits über das leere Haus gelegt, und die flackernden Kerzen schienen mein Gefühl der völligen Erschöpfung zu verstärken. Das Schicksal hatte sich unerbittlich in unser Leben eingemischt, unsere kleine Familie auseinandergerissen und uns in drei Richtungen zerstreut.«

Auf dem Schiff

Die Reise führte zunächst nach Rumänien, wo Chana im Schwarzmeerhafen Constanța das Schiff Bessarabia bestieg, das mit einem Zwischenstopp in Istanbul – wo den Passagieren der Ausstieg verboten war – nach Haifa fuhr. Auf dem Schiff schrieb Chana mit ihrer neuen Reiseschreibmaschine Briefe an die Mutter und lernte ein jüdisches Leben kennen, das ganz anders war als jenes in Budapest:

»Meine Kabinenkameradinnen sind sympathische Menschen … polnisch und palästinensisch, wir sprechen also Hebräisch, und mein Französisch war auch von Nutzen. … Die Mehrheit der jüdischen Passagiere ist aus Palästina und kommt von Verwandtenbesuchen zurück. Aber es gibt auch sehr viele Polen und Tschechen und viele Kinder aus Palästina, die bezaubernd sind und nur Hebräisch sprechen. Es gibt Gelegenheiten, mein Hebräisch mit ihnen zu üben, und da es sehr viele Menschen gibt, die im Allgemeinen Hebräisch sprechen, nutze ich jede Gelegenheit, mich an das Sprechen der Sprache zu gewöhnen.«

Nach zwei Tagen Aufenthalt in Tel Aviv reiste Chana mit dem Bus nach Nahalal in der Jesreelebene im Norden, wo sie an der Landwirtschaftsschule für Mädchen aufgenommen worden war. Nahalal ist der älteste israelische Moschaw: eine landwirtschaftliche Genossenschaft, in der jede Familie eigenes Land besitzt und man sich, anders als in einem Kibbuz, nur zwecks Verkauf und Marketing zusammentut. 

Shmuel Dayan, der Vater des späteren Generals und Ministers Moshe Dayan, der auch hier aufwuchs, war einer der dreißig Gründer gewesen, in einem Gebiet, wo vorherige Pioniere an Malaria und »faulem Wasser« gestorben waren. 

1926 wurde in Nahalal die Mädchenschule für Landwirtschaft gegründet, unterstützt von der Zionistischen Weltfrauenorganisation (WIZO) und der kanadischen zionistischen Frauenorganisation Hadassah. Als Chana nach Nahalal kam, gab es dort bereits elektrisches Licht, fließendes Trinkwasser, ein Geschäft für den täglichen Bedarf, eine Straße und eine Busverbindung nach Haifa. Nahalal war der Bezugspunkt für die weniger entwickelten Siedlungen der Region. Am 23. September 1939 – es ist Jom Kippur – schreibt Chana in ihr Tagebuch: »Ich bin in Nahalal, in Eretz [Israel], ich bin zu Hause.«

Zu viele Intellektuelle

Die Menschen seien »alle freundlich« und man fühle sich sofort so, als hätte man »schon immer« hier gelebt. Gleichwohl ist sie keineswegs ungeteilt glücklich, wie diese Worte suggerieren mögen. Am Vortag, schreibt sie, habe sie eine Bilanz aufgestellt, was sie zurückgelassen und was sie vorgefunden habe – »und ich weiß nicht, ob der Schritt es wert war«. Einen Augenblick lang habe sie das »Ziel aus den Augen verloren«: 

»Ich habe mich bewusst gehen lassen, denn ab und zu muss man sich von all seinen Anspannungen und der ständigen Wachsamkeit völlig entspannen. Es tat gut, einmal loszulassen, zu weinen. Aber selbst hinter den Tränen spürte ich, dass ich das Richtige getan hatte. Hierhin bindet mich mein Lebensziel – ich könnte sogar sagen, meine Berufung; denn ich möchte das Gefühl haben, dass ich hier eine Mission erfülle und nicht nur dahinvegetiere. Hier ist fast jedes Leben die Erfüllung einer Mission.«

Das Gefühl, berufen zu sein, ohne zu wissen, was die Berufung ist – vielleicht ähnlich jener in Franz Kafkas parabolischer Erzählung Eine kaiserliche Botschaft –, hatte Chana schon in Budapest gehabt, als es darum ging, welchen Beruf sie ergreifen sollte. Entgegen dem Wunsch der Mutter, sie möge doch studieren, hatte Chana sich für das Leben als Arbeiterin ausgesprochen, da es, wie sie gesagt hatte, in Palästina »schon zu viele Intellektuelle« gebe. Das war wohl nur zum Teil ihr eigenes ehrliches Urteil; sicherlich wusste sie aufgrund ihrer Lektüre, welche Erwartungen an Neuankömmlinge gestellt wurden. Selbst Ärzte konnten oft nicht da weitermachen, wo sie in Europa aufgehört hatten. 

Das vielleicht beste Zeugnis zu diesem Thema gibt der amerikanische Agrar- und Forstwissenschaftler Walter Clay Lowdermilk (1888–1974). Er reiste 1939 nach Palästina, um zu untersuchen, ob das Land in Sachen Boden, Wasser und Landwirtschaft imstande war, Millionen von Menschen ernähren zu können. Dass er die Frage bejahte und die Pionierleistung der Juden pries, war entscheidend, um dem Projekt eines jüdischen Staates in den USA politische Unterstützung zu sichern. In seinem 1944 erschienenen Buch Palestine, Land of Promise beschreibt Lowdermilk, wie er an Bord eines Flüchtlingsschiffs nach Palästina auf eine Fülle von Intellektuellen traf:

»Wir waren erstaunt, dass diese ehemaligen Bürger der Tschechoslowakei ein sehr hohes Maß an europäischer Kultur repräsentierten. Die meisten von ihnen sprachen mehrere Sprachen und viele konnten uns ihre Geschichte auf Englisch erzählen. Von den 655 Flüchtlingen waren 42 Anwälte, 40 Ingenieure, 26 Ärzte und Chirurgen, außerdem gab es Ärztinnen, Berufsschriftstellerinnen, begabte Musikerinnen, Apothekerinnen und Krankenschwestern. Zwei waren Stabsoffiziere der tschechischen Armee gewesen, bevor diese von den Nazis aufgelöst wurde, 60 waren Armeeoffiziere und 200 Soldaten; viele andere waren Facharbeiter und Handwerker.«

Im Buch ist ein bewegendes Foto abgebildet, das ein älteres Ehepaar in einem Kibbuz beim Melken einer Ziege zeigt. Wie die Bildunterschrift besagt, war der Mann kurz zuvor noch Nervenarzt und seine Frau Kinderärztin in der Tschechoslowakei gewesen.

Auch Golda Meir gab ein Bild davon, wie wenig die beruflichen Fähigkeiten von Intellektuellen damals im Mandatsgebiet Palästina geachtet wurden. Sie, die 1921 von Chicago nach Palästina ausgewandert war, erinnerte sich später in ihrer Autobiografie: »Lehrerin zu sein wurde von den meisten derer, die wir damals in Tel Aviv trafen, als zu intellektuell für einen angehenden Pionier angesehen, und ich musste immer wieder erklären, dass es nur vorübergehend und ich nicht nach Palästina gekommen sei, um amerikanische Kultur zu verbreiten.«

Zwar hatte sich Chana in Budapest geistig darauf eingestellt, mit den Händen zu arbeiten, aber dann tatsächlich Tag für Tag diese anspruchslosen Tätigkeiten verrichten zu müssen, fiel ihr auf doppelte Weise schwer: zum einen, weil es ihr als eine Verschwendung ihrer Talente vorkam, zum anderen, weil es ihr bei manchem an Geschick mangelte. Sie sei »erstaunlich unbeholfen«, vertraute sie ihrem Tagebuch im März 1940 an. Seit zwei Monaten arbeitete sie in der Küche und kochte. 

»Ich bin ein wenig überrascht, da ich nicht glaube, dass es mir in anderen Dingen so an Fähigkeiten mangelt, und vor allem halte ich mich nicht für dumm. Aber in den letzten zwei Wochen wundere ich mich manchmal wirklich über mich selbst, über die mangelnde Intelligenz, mit der ich arbeite, ganz zu schweigen von meiner Ungeschicklichkeit. Und in diesem Zusammenhang sind mir viele Dinge in den Sinn gekommen: Ich frage mich, ob es nicht vielleicht ein Fehler war, meine intellektuellen Fähigkeiten völlig zu ignorieren und ein Gebiet zu wählen, auf dem ich wahrscheinlich wenig Erfolg haben kann oder, um genau zu sein, auf dem ich nicht viel wert bin?«

Wusch sie Geschirr oder fegte den Boden, habe man gleich gemerkt, dass sie dies noch nie zuvor getan hatte, erinnerte sich Chanas Zimmergenossin Pnina. Pnina und Chana teilten sich das Zimmer gemeinsam mit einer Frau namens Miriam, und alle drei hatten einen ähnlichen Hintergrund: Sie waren ungefähr gleich alt und lernten gerade Hebräisch zu sprechen. Während Chana aus Ungarn kam, stammte Pnina aus Polen und Miriam aus Bulgarien. Miriam wurde am ehesten so etwas wie Chanas Freundin, ohne dass jedoch daraus eine enge Beziehung entstanden wäre. 

Nur die Sterne schienen nah

Dazwischen verspürte Chana Immer wieder ein Gefühl von Einsamkeit. Manchmal weinte sie und wünschte sich, ihre Mutter und ihr Bruder György (Gyuri, wie sie ihn nannte) wären bei ihr. Im April 1941 notierte sie:

»Warum bin ich so einsam? Kürzlich schlenderte ich eines Abends durch den Moshav. Es war eine wunderbare, sternenklare Nacht. Kleine Lichter glitzerten in den Gassen und in der Mitte der breiten Straße. Von überall her drang Musik, Gesang, Gespräche und Gelächter herüber, und ganz, ganz weit in der Ferne hörte ich Hundegebell. Die Häuser schienen so weit weg, nur die Sterne schienen nah. 

Plötzlich packte mich die Angst. Wohin führt mich das Leben? Werde ich in der Nacht immer alleine weitergehen und die funkelnden Sterne betrachten und denken, sie seien ganz nah? Werde ich die Lieder und das Gelächter um mich herum nicht hören können? Werde ich es versäumen, von der einsamen Straße abzubiegen, um zu den kleinen Häusern zu gelangen? Was muss ich wählen? Die schwachen Lichter, die durch die Ritzen der Häuser dringen, oder die fernen Lichter der Sterne? Am schlimmsten ist, dass ich mich zwischen den Sternen nach den kleinen Lichtern sehne, und wenn ich den Weg in eines der kleinen Häuser finde, sehnt sich meine Seele nach den Himmelskörpern.«

Licht ist eine Metapher, die Chana immer wieder benutzt. Wir erinnern uns, dass sie als 17-Jährige in ihrer Rede vor der Bibelgesellschaft ihrer Schule den zu gründenden jüdischen Staat als »Leuchtturm« für die Völker bezeichnet hatte. Eines ihrer bekanntesten Gedichte preist das Streichholz, »das in einer entzündenden Flamme verzehrt wird« und die »Flamme, die in der geheimen Festung des Herzens brennt«. Einmal notiert sie in ihrem Tagebuch:

»Es gibt Sterne, deren Glanz auf der Erde sichtbar ist, obwohl sie schon lange erloschen sind. Es gibt Menschen, deren Glanz die Welt weiterhin erleuchtet, obwohl sie nicht mehr unter den Lebenden weilen. Diese Lichter sind besonders hell, wenn die Nacht dunkel ist. Sie erhellen den Weg der Menschheit.«

An anderer Stelle schreibt sie: »Lieber Gott, wenn du ein Feuer in meinem Herzen entfacht hast, erlaube mir, das zu verbrennen, was in meinem Haus verbrannt werden soll – dem Haus Israel.« Von diesem Gedanken aus kam sie erneut auf das ebenfalls wiederkehrende Motiv der »Mission«: Sie fühle sich, als sei sie eine »Gesandte«, ohne die Mission zu kennen.

»Ich habe das Gefühl, dass ich anderen gegenüber eine Pflicht habe, als wäre ich ihnen gegenüber verpflichtet. Manchmal scheint das alles völliger Unsinn zu sein und ich frage mich, warum all diese individuellen Anstrengungen … und warum ausgerechnet ich?«

Obschon Chana nicht im engsten Sinne religiös war, griff sie hier ein Thema der hebräischen Bibel auf. Was wir im Deutschen »Sünde« nennen, ist in den Schriften des Alten Testaments eine Verfehlung des Ziels, das Verletzen einer Pflicht, die man gegenüber jemandem – ob Mitmensch oder Gott – hat. Also genau das, was Chana umtreibt und fast verzweifeln lässt.

In der Serie »Nur die Sterne waren nah« ist bisher erschienen:

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