Latest News

»Nur die Sterne waren nah.« Teil 4: Das Zertifikat

Nach dem Abitur hat Chana Szénes nur ein Ziel: nach Palästina zu gehen. Von der zionistischen Frauenorganisation erhält sie das nötige Zertifikat.
Aus einer Ausstellung über Chana Szénes im Florida Holocaust Museum St. Petersburg 2014. (© imago images/ZUMA Press Wire)

Nach dem Abitur hat Chana Szénes nur ein Ziel: nach Palästina zu gehen. Von der zionistischen Frauenorganisation erhält sie das nötige Zertifikat.

Das Abitur im Juni 1939 besteht Chana Szénes mit Auszeichnung. Zu einer Zeit, da die Briten die Einwanderung von Juden nach Palästina drastisch einschränken, hofft sie, eines der wenigen Ausreise-Zertifikate zu erhalten. »Das Einzige, dem ich mich verpflichtet fühle, woran ich glaube, ist der Zionismus«, schreibt sie am 10. März 1939 in ihr Tagebuch.

»Alles, was damit zusammenhängt, egal, wie entlegen es auch sein mag, interessiert mich. Ich kann kaum an etwas anderes denken. Ich habe keine Angst, einseitig zu sein. Bis jetzt musste ich meinen Blick in viele Richtungen richten. Jetzt habe ich das Recht, nur in eine Richtung zu blicken – in die Richtung des Judentums, Palästinas und unserer Zukunft.«

Im April 1939 schickt sie ihre Bewerbung an die Landwirtschaftsschule Nahalal im Norden von Eretz Israel:

»Meiner Bewerbung ist mein Lebenslauf beigefügt. Mein Name: Chana Szénes. Name der Mutter: Katharina, Mädchenname; Salzberger, Witwe des Schriftstellers Bela Szénes. Ich wurde am 17. Juli 1921 in Budapest geboren. Ich bin ungarische Staatsbürgerin. Ich habe meine Grundschule an einer staatlichen Schule abgeschlossen. Seit 1931 bin ich Schülerin an einem Mädchengymnasium. Ich werde am Ende dieses Semesters meinen Abschluss machen. Bisher habe ich alle meine Fächer mit Auszeichnung abgeschlossen.

Neben Französisch und Deutsch – den Sprachen, die ich in der Schule gelernt habe –, spreche ich auch Englisch.

Schon vor der tragischen Wendung der Ereignisse, die unser Volk in meinem Heimatland betrafen, sehnte ich mich danach, in Palästina nach der dortigen Lebensweise zu leben. Ich beschloss, diesen Beruf zu erlernen, damit ich aktiv an der Schaffung des Staates und der Bewirtschaftung des Landes teilnehmen kann.

Nach dieser Entscheidung habe ich ein ordentliches Maß Hebräisch gelernt und verbessere meine Kenntnisse weiter in der Hoffnung, dass ich dort keine Sprachschwierigkeiten haben werde.

Darf ich um eine positive Entscheidung bitten? Eine Aufnahme an dieser Schule würde mir große Freude und Glück bringen. Es wäre der erste Schritt zur Verwirklichung meines Lebenstraums. Mit herzlichen zionistischen Grüßen, Chana Szénes.«

Anfang April 1939 – es ist Ostern und Passah – reisen Katharina und Chana nach Lyon, um Chanas Bruder György (1919–1995) zu besuchen. Er ist dort glücklich, und als er ein Tischtennisturnier gewann, wurde sein Bild in der Zeitung abgedruckt. Katharina erinnerte sich später:

»Chana war sehr erfreut zu erfahren, dass auch er zum engagierten Zionisten geworden war. Ich beobachtete sie nachsichtig, wie sie mit jugendlichem Eifer und funkelnden Augen die Zukunft diskutierten und planten. Sie beschlossen, dass Chana innerhalb weniger Monate auswandern würde und dass Gyuri nach Abschluss seines Studiums folgen würde. Ihre größte Sorge war, dass ich mich ihnen anschloss. Da fühlte ich mich, als ob eine kalte Hand mein Herz packte: Würden wir jemals wieder so zusammensitzen, fragte ich mich – wir drei? Wo … wann …?«

Chana schreibt ihr Tagebuch mittlerweile auf Hebräisch. Das Gespräch mit ihrem Bruder über den Zionismus setzt sie in Briefen fort. Einmal schreibt György am Ende eines Briefes: »Es ist gut, für unser Land zu sterben.« Chana stellt in ihrem Tagebuch den Zusammenhang zwischen dieser Äußerung und dem britischen Weißbuch her, das die Einwanderung von Juden torpediert und Europas verfolgten Juden die Tür vor der Nase zuschlägt:

»In jüngster Zeit hat dieser Satz eine echte Bedeutung bekommen, denn es sind schwierige Zeiten in Palästina. Die Briten haben ein Weißbuch mit furchtbarem Inhalt zusammengebraut und verständlicherweise verurteilt die gesamte jüdische Gemeinschaft diesen Verrat.«

Der 18. Geburtstag

Im Juni sind die letzten Abiturprüfungen. Einen Tag vorher bittet Chana ihre Mutter, das Grab von Fini Mama, der zwei Jahre zuvor verstorbenen Großmutter mütterlicherseits, in Katharinas Geburtsort Jánosháza, das mehrere Stunden Zugfahrt von Budapest entfernt liegt, zu besuchen. Ob das einen Tag vor den Prüfungen nicht zu anstrengend ist, sorgt sich die Mutter, aber Chana hat keine Bedenken, und das zu Recht: Das Abitur besteht sie summa cum laude. Dabei habe sie ihre Tochter nie lernen sehen, erinnerte sich Katharina später.

Chana verabschiedet sich von den Lehrern und freut sich, von der jüdischen Gemeinde Buda den Buchpreis zu erhalten, »in Anerkennung außerordentlichen Fleißes beim Bibelunterricht und Arbeit zur Förderung der Entwicklung der jüdischen Gemeinde«.

Am 17. Juli wird Chana 18 Jahre alt. Sie schreibt:

»Ich bin glücklich mit meinem Leben, mit allem, was mich umgibt. Ich glaube an die Zukunft. Mein Ideal füllt mein gesamtes Wesen aus, und ich hoffe, es ohne Enttäuschungen verwirklichen zu können. Die Reaktion von Freunden und vielen Verwandten ist, dass ich in Eretz enttäuscht sein werde. Doch ich denke, ich kann die Situation gut einschätzen. Ich weiß, dass die Menschen, die dort leben, ebenfalls Fehler machen. Was ich daran liebe, ist die Möglichkeit, einen herausragenden und schönen jüdischen Staat zu schaffen, und die Zukunft hängt davon ab. Ich will alles in meiner Kraft Stehende tun, um diesen Traum der Wirklichkeit näher zu bringen – oder umgekehrt: die Wirklichkeit näher an diesen Traum zu bringen.«

Sie schreibe mittlerweile ausschließlich auf Hebräisch, vermerkt sie.

»Obwohl ich weniger schreibe, als ich es auf Ungarisch täte, kann ich mit einem bisschen Hebräisch besser denken als in sehr viel Ungarisch. Vielleicht werde ich in einigen Monaten weniger unbeholfen schreiben, mit weniger Schwierigkeit.«

Einmal fragt ihre Mutter, warum sie Chana so selten mit einem Jungen sehe. Sie antwortet, dass sie sich zurückhalte, da sie den Schmerz des Abschieds nicht durch den zusätzlichen Schmerz des Endes einer romantischen Beziehung verstärken wolle. »Sobald ich merke, dass ein Junge ein besonderes Interesse an mir zeigt, höre ich auf, ihn zu treffen«, erklärte sie.

Gespräche mit der Mutter

Nach und nach, über einen Zeitraum von Monaten, macht Chana ihre Mutter Katharina (1896–1992) mit ihren Plänen vertraut, nach Palästina zu gehen. Die Mutter erinnerte sich später:

»Anfangs war ich entschieden gegen ihre Entscheidung, aber ihre vielen intelligenten und überzeugenden Argumente schwächten meine Einwände. Einmal sagte sie, dass sie auch dann auf der Seite der Juden stehen würde, wenn sie nicht als Jüdin geboren worden wäre, weil man einem Volk, das heute so ungerecht behandelt wird und das im Laufe der Geschichte so elend misshandelt wurde, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln helfen müsse.«

Katharina fragt, was denn aus ihrem Wunsch geworden sei, Schriftstellerin zu werden. Sie nahm nämlich an, dass jeder Mensch nur eine Muttersprache habe, und die ihrer Tochter war doch Ungarisch. »Diese Frage ist durch die gegenwärtigen brennenden Probleme in den Hintergrund gerückt«, antwortete Chana. Eines Tages erklärte sie ihrer Mutter: »Mutter, wenn du nicht zustimmst, dass ich gehe, werde ich es selbstverständlich nicht tun. Aber ich möchte, dass du weißt, dass ich mich in dieser Umgebung hier elend fühle und in ihr nicht leben will.«

Katharina gibt ihren Widerstand allmählich auf. Als ihre Tochter sie aber bittet, ihr durch ihre einflussreichen Freunde zu helfen, ein Einwanderungszertifikat der Women’s International Zionist Organization (Internationale Zionistische Frauenorganisation, WIZO) zu bekommen, erwidert sie: »Ich werde dir keine Hindernisse in den Weg legen, jetzt, wo du deine Entscheidung getroffen hast, aber verlange nicht von mir, dass ich dir helfe fortzugehen.«

Chana trifft also alle Vorbereitungen allein. Sie läuft immer wieder zum WIZO-Büro, lernt Hebräisch, liest zahllose Bücher über das Judentum und schreibt mehrmals an die Landwirtschaftsschule Nahalal im Mandatsgebiet Palästina — alles, während ihre Mitschülerinnen für die Abiturprüfung büffelten. Was, fragt Chana sich, soll ihr das meiste Schulwissen nützen?

»Was sollen mir ungarische Geschichte, Geografie oder Kunstgeschichte nützen? Und was Deutsch betrifft, so bringt es nur schreckliche Dinge vor Augen. Französisch kann ich in Palästina nicht gebrauchen, also bleiben Algebra und Physik und natürlich Hebräisch. Leider wird Letzteres an meiner Schule nicht unterrichtet. Stattdessen diskutieren wir die Judenfrage im Zusammenhang mit dem 19. Jahrhundert und das Thema wird auf die bösartigste Art und Weise präsentiert, die man sich vorstellen kann.«

Nach dem Abitur spricht Katharina mit den Lehrern, die versuchen, Chana von dem Entschluss abzubringen. Sie versprechen, dass sie trotz der Judengesetze, welche die Zahl der jüdischen Studenten beschränken, dafür sorgen werden, dass Chana an die Universität kommt. Katharina berichtet das ihrer Tochter. Diese erwidert:

»Vielleicht sollte ich beeindruckt sein, dass ich angesichts eines Abschlusses mit summa cum laude und mit einer Vielzahl von Empfehlungen von Lehrern und Freunden in die Universität gelassen werde, während ein Nichtjude, der so gerade das Abitur geschafft hat, freie Bahn hat. Begreifen sie nicht, dass ich nicht einfach nur Studentin sein will; dass ich Pläne, Träume, Ambitionen habe; und dass der Weg zu deren Erfüllung mir hier verbaut wäre?«

Wenn sie denn schon nach Palästina gehen müsse, warum dann nicht dort an der Universität studieren, legt ihre Mutter nach. Warum die Landwirtschaftsschule? Chana erklärt: »Es gibt schon viel zu viele Intellektuelle in Palästina. Der große Bedarf ist der an Arbeitern, die mithelfen können, das Land aufzubauen. Wer kann diese Arbeit verrichten, wenn nicht wir, die Jugend?«

Ein Sommer in Dombóvár

Den Sommerurlaub 1939 verbringen Chana und Katharina wie immer auf dem Land, in Dombóvár. Ihre Mutter erinnerte sich:

»An jedem Morgen dieser Ferien lernte Chana Hebräisch, und während der Mittagsstunden, wenn die Sonne brannte und alle versuchten, im Kühlen drinnen zu bleiben, arbeitete sie im großen Garten, um sich, wie sie erklärte, an das heiße Klima Palästinas zu gewöhnen.«

Chana ist jeden Tag in banger Erwartung auf Post aus Nahalal. Am 16. Juli schreibt sie: »Nichts Neues, was die Aliyah betrifft. Jeden Abend gehe ich schlafen und jeden Morgen wache ich auf mit dem Gedanken: Vielleicht werde ich Erfolg haben, vielleicht werde ich das Einwanderungszertifikat bekommen. Es ist möglich, aber es gibt immer noch Zweifel. Im Augenblick kann ich nichts anderes tun, als zu warten.«

Wenn sie nicht nach Palästina kann, beschloss sie, werde sie zu einer Hachshara gehen, dem zionistischen Pioniertraining. Am 21. Juli 1939 kam dann der ersehnte Brief mit dem begehrten WIZO-Zertifikat, das ihr den Weg nach Eretz Israel öffnet:

»Ich habe es, ich habe es – das Zertifikat! Ich bin voller Freude und Glück! Ich weiß nicht, was ich schreiben soll, ich kann es nicht glauben. Ich habe den Brief mit der guten Nachricht immer wieder gelesen, und jetzt finde ich keine Worte, um auszudrücken, was ich fühle. Ich habe kein anderes Gefühl als überwältigendes Glück.«

Bis Ende September 1939 muss sie in Palästina sein. Wie dorthin kommen? Das ist die Frage.

In der Serie »Nur die Sterne waren nah« ist bisher erschienen:

Bleiben Sie informiert!
Mit unserem wöchentlichen Newsletter erhalten Sie alle aktuellen Analysen und Kommentare unserer Experten und Autoren.

Zeigen Sie bitte Ihre Wertschätzung. Spenden Sie jetzt mit Bank oder Kreditkarte oder direkt über Ihren PayPal Account. 

Mehr zu den Themen

Das könnte Sie auch interessieren

Wir reden Tachles!

Abonnieren Sie unseren Newsletter und erhalten Sie alle aktuellen Analysen und Kommentare unserer Experten und Autoren!

Nur einmal wöchentlich. Versprochen!