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Nur die Sterne waren nah.« Teil 26: Das Gefängnis an der Margit körút

Das Gefängnis in der Margit körút in der Nachkriegszeit
Das Gefängnis in der Margit körút in der Nachkriegszeit

In dieser Reihe stellen wir die jüdische Dichterin und Widerstandskämpferin Chana Szénes vor. Sie emigrierte 1939 als 18-Jährige von Ungarn nach Palästina, wo sie sich 1943 einer Freiwilligeneinheit des britischen Geheimdienstes anschloss, deren Ziel es war, als Fallschirmspringer über feindlichem Gebiet abzuspringen, um abgeschossene britische Piloten und Juden zu retten.

Chanas Mutter Katharina wird von der ungarischen Geheimpolizei auf freien Fuß gesetzt, doch noch am selben Tag von den Deutschen verhaftet. Im Gefängnis sieht sie Chana wieder.

Die ungarischen Behörden unterhielten im 1. Bezirk von Budapest ein großes Gefängnis. Es befand sich am Margaretenboulevard (Margit körút), einem Teil des Großen Boulevards (Nagykörút), einer der Hauptverkehrsstraßen der Stadt. Während des Zweiten Weltkriegs diente das Gelände als Militärgefängnis des Königlichen Ungarischen Heeres (Királyi Honvédség Katonai Fogháza) und wurde ab 1944 auch von der Gestapo gemeinsam mit der ungarischen Staatspolizei (Államrendőrség) genutzt. Politische Gefangene und Personen, denen Hochverrat, Spionage oder ähnliche Vergehen vorgeworfen wurden, kamen hierher. Viele waren Juden, die später nach Auschwitz oder in andere Lager deportiert wurden.

Hier wurde Chana Szénes gefangen gehalten, und dorthin brachte man auch Yoel Palgi. Peretz Goldstein hatte sich zunächst der Verhaftung entziehen können, fand jedoch keinen Ort, an dem er sicher unterkommen konnte. Rudolf Kasztner riet ihm, Ungarn zu verlassen – entweder über Rumänien oder mit dem bald abfahrenden »Kasztner-Zug«, der rund 1.700 ungarische Juden in Sicherheit bringen sollte.

Goldstein zögerte, da er seinen gefangenen Kameraden Palgi nicht im Stich lassen wollte. Schließlich versteckte er sich mangels anderer Möglichkeiten im Columbus-Straßen-Lager, jenem Sammellager, in dem die Passagiere des »Kasztner-Zuges« – darunter auch Goldsteins Eltern – auf die Abfahrt warteten.

Am Tag der geplanten Abfahrt kam die ungarische Geheimpolizei zu der von Kasztner gemieteten Pension (in der er wohnte und zugleich das Büro des Hilfskomitees führte) und drohte, den Zug zu stoppen, falls Goldstein nicht ausgeliefert werde. Kasztner bat, mit ihm sprechen zu dürfen. Das Treffen fand im Columbus-Straßen-Lager statt. Goldstein entschied sich, sich freiwillig zu stellen, um die Abreise der anderen nicht zu gefährden. Er wurde verhaftet und mit Palgi ins Gefängnis an der Margit körút gebracht; später kam er in deutsche Haft.

Nach seiner Deportation wurde Goldstein im KZ Sachsenhausen-Oranienburg interniert, wo er Zwangsarbeit in den Heinkel-Flugzeugwerken leisten musste. Dort kam er Ende 1944 oder Anfang 1945 mutmaßlich bei einem alliierten Luftangriff ums Leben. Sein Leichnam wurde nie identifiziert. Im militärischen Teil des Herzl-Friedhofs in Jerusalem – also in jenem Areal, das den gefallenen Soldaten des Staates Israel und Angehörigen der Untergrundorganisationen (Palmach, Haganah, den Fallschirmspringern in britischem Dienst u. a.) gewidmet ist – gibt es eine Gedenktafel für Peretz Goldstein.

Nach dem Verhör

Nachdem die ungarische Geheimpolizei Chanas Mutter Katharina Szénes verhört hatte, wurde sie zunächst entlassen. Der Mann, der das Verhör geführt hatte – nach ihrer Erinnerung hieß er Rozsa – schärfte ihr ein, mit niemandem darüber zu sprechen. »Ja, ich verstehe«, erwiderte sie. »Aber jemand weiß bereits, dass ich hier bin.« – »Wer?«, fragte er verwundert. »Margit Dayka, die Schauspielerin.« – »Wie ist das möglich?«

»Frau Szénes ist ihre Zimmerwirtin«, sagte der Beamte, der Katharina hergebracht hatte. »Sie war da, als ich die Zeugin abgeholt habe.« – »Wird sie Fragen stellen, wenn Sie zurückkommen?« – »Zweifellos. Schließlich ist sie es nicht gewöhnt, mitanzusehen, wie ich von einem Beamten abgeführt werde.« – »Wenn sie Sie irgendetwas fragt, sagen Sie ihr einfach, dass es Ihnen streng verboten ist, auch nur ein einziges Wort zu sagen. Merken Sie sich das. Kein Wort. Sie können jetzt gehen.«

Zu Hause warteten Nachbarn und Bekannte auf Katharina und wollten wissen, was passiert war. »Es war nur ein Missverständnis«, flunkerte sie. Als die Gäste gegangen waren, sagte sie zu Margit: »Es war kein Missverständnis. Etwas Schreckliches ist passiert, aber ich darf nicht mit dir darüber reden. Vielleicht werde ich nicht in der Lage sein, es für mich zu behalten, aber im Augenblick kann ich es unmöglich sagen.« Margit konnte kaum glauben, dass Katharina dieselbe war, die sie noch am Morgen gesehen hatte – so sehr hatte sich ihr Gesicht verändert. Sie gab Katharina die gefälschten Papiere zurück, die sie ihr am Morgen überreicht hatte.

Es klingelte an der Tür. Die Concierge führte den Mann des älteren Ehepaars herein, das mit Katharina über Rumänien nach Eretz Israel fliehen wollte. Wie schon zuvor sprach er von den glänzenden Aussichten dort. »Wir haben weder Freunde noch Verwandte dort, aber trotzdem fühlen wir, dass es der einzige Ort ist, wohin wir gehen können. Sie auf der anderen Seite haben zwei Kinder dort. Wenn es irgendjemanden gibt, für den es das Risiko wert ist, dann sind Sie das. Und vergessen Sie nicht, welche Mühe Chana unternommen hat, um das Einwanderungszertifikat für Sie zu bekommen.«

Während er sprach, überlegte Katharina, ob sie sich ihm anvertrauen sollte. Dann entschied sie, dass die Vorsehung ihn geschickt haben müsse, und begann zu erzählen, was vorgefallen war. Er hörte aufmerksam zu und sagte schließlich: »Ich weiß kaum, was ich sagen soll. Das ist wirklich eine Katastrophe, und natürlich begreife ich jetzt, warum Sie nicht weg wollen. Ich verspreche, Ihr Vertrauen nicht zu missbrauchen, also werde ich selbstverständlich niemandem davon erzählen – aber ich stimme nicht mit Ihrer Entscheidung überein, völliges Stillschweigen zu bewahren. Vor allem sollten Sie es Margit erzählen, die wahrscheinlich Verbindungen in militärische Kreise hat.«

Sie waren im Begriff, sich an der Tür zu verabschieden, als es erneut klingelte. Draußen standen SS-Leute. »Wir suchen nach Frau Szénes. Bitte lassen Sie uns hinein.« Katharina eilte zurück ins Wohnzimmer, wo noch die gefälschten Papiere auf dem Tisch lagen, und versteckte sie in einer Schublade. Einer der SS-Männer, der Seifert hieß, begann ein Gespräch mit dem Besucher: »Wer sind Sie?« – Wer mit jemandem in Verbindung stand, der verhaftet worden war, wurde oft ebenfalls festgenommen; doch die SS-Männer ließen ihn gehen.

Seifert sah sich in der Wohnung um, stellte Fragen über die Möbel und wollte wissen, welches Zimmer Katharina bewohnte. Alle Zimmer außer einem gehörten Margit Dayka, antwortete sie. Sie wusste, dass alles gründlich durchsucht werden würde, sobald sie weg war. Plötzlich hielt Seifert ein Foto in der Hand und fragte: »Erkennen Sie dieses Mädchen?« Es war ein Foto von Chana, aufgenommen an jenem Morgen.

»Wer ist das?« fragte Katharina. »Haben Sie eine Tochter, Frau Szénes?« – »Natürlich. Aber wenn das ein Foto von ihr sein soll, ist sie nicht wiederzuerkennen. Wo haben Sie es her?«

Statt zu antworten, befahl er ihr, alle Türen zu verschließen, und fragte, wer Schlüssel habe. »Nur die Schauspielerin und ich. Es gibt ein separates Apartment, wo die Concierge wohnt.« –»Wann kommt die Schauspielerin nach Hause?« – »Heute Abend.«

In dem Moment kam die Concierge zurück. Katharina konnte ein paar Worte mit ihr wechseln und bat sie, Margit anzurufen und ihr zu sagen, was vorgefallen war. Es war Samstag, fünf Uhr Nachmittag. Die Concierge, die wusste, dass Katharina seit dem Frühstück nichts gegessen hatte, machte ihr in der Küche zwei Brote und steckte sie ihr zu. Seifert fragte, warum sie die Schlüssel mitnehme. »Sie sagten doch, ich würde bald zurückkommen«, antwortete Katharina. – »Ja, richtig«, sagte Seifert und merkte, dass er sich verraten hatte.

Im Gefängnis

Sie fuhren mit dem Auto zum Gefängnis. Katharina fiel auf, wie nahe dieses an ihrer Wohnung lag. Ein junger Uniformierter mit Totenkopfemblem forderte sie auf, alles abzugeben, was sie bei sich trug. Vor sich hatte er eine Akte mit dem Stempel »Eilt sehr!« Katharina hatte eine kleine Tasche mit der Höchstsumme an Geld, die Juden bei sich führen durften. Als sie einen Augenblick zögerte, sie auszuhändigen, schlug der Mann ihr ins Gesicht. Katharina erinnerte sich: »Ich drehte mich einmal um die eigene Achse, aber seltsamerweise spürte ich den Schlag überhaupt nicht. Nach der Begegnung mit Chana an diesem Morgen fühlte ich nichts mehr – als hätte ein Fremder meinen Platz eingenommen oder eine mechanische Marionette.«

Die Gefängniszelle teilte sich Katharina unter anderem mit: Eugene Vida, Ehefrau des einzigen jüdischen Parlamentsabgeordneten; Gräfin Zichy, jüdischstämmig und angeklagt, versucht zu haben, wertvolle Gemälde zu verstecken; der Witwe von Lehel Héderváry, angeklagt der Kollaboration mit den Alliierten; sowie Magda Mannheim, Schwester von Jacques Mannheim, einem Mitarbeiter Kasztners. Alle wunderten sich, weshalb Katharina verhaftet worden war – sie gehörte weder zur Aristokratie noch war sie politisch aktiv, sondern hatte seit dem Tod ihres Mannes ein zurückgezogenes Leben geführt.

Am Sonntagmorgen um sieben Uhr wurde sie mit vierzig anderen Frauen in einem fensterlosen LKW zum Gestapo-Hauptquartier gebracht. Jemand steckte ihr ein Stück Brot zu, denn es war bekannt, dass die Verhöre vom Morgen bis zum Abend dauerten. Doch obwohl sie Hunger hatte, brachte sie es nicht über sich, es zu essen, weil es so verschimmelt war.

Zurück im Gefängnis, wurde sie am Abend von Hilda, einer deutschstämmigen ungarischen Gefangenen, gerufen. Sie sagte ihr, sie solle aus dem Zellenfenster sehen. Auf der anderen Seite des Hofes winkte und lächelte Chana aus einem Fenster. Mit dem Zeigefinger malte sie Buchstaben in die Luft – auf diese Weise konnten sie kommunizieren.

Katharina bemerkte, dass ihr eigenes Fenster anders war als die übrigen. Eine Mitgefangene erklärte ihr, dass Einzelzellen spezielle Fenster hätten, durch die man nicht hinausschauen konnte. Wie es Chana dennoch gelang, blieb ein Rätsel.

Chana sah den gelben Stern an Katharinas Kleidung und fragte, was er bedeute. Katharina erklärte es und wollte wissen, ob sie davon ausgenommen sei. Chana antwortete: »Ich bin keine ungarische Bürgerin mehr und darum nicht an solche Gesetze gebunden.« Katharina erinnerte sich später: »Eine meiner Gefährtinnen schrieb in die Luft: ›Du hast Glück, nicht gebrandmarkt zu werden.‹ Woraufhin Chana mit dem Finger einen riesigen Davidstern auf das staubüberzogene Fenster zeichnete, der dort blieb, bis das Fenster Wochen später geputzt wurde.

In der Serie »Nur die Sterne waren nah« bisher erschienen:

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